Hans H.
Hiebel (2008, S.458) betont, dass Josef K. eine "widersprüchliche,
gespaltene Figur" sei, "in der bewusst Geäußertes und Unterdrücktes bzw.
unwillentlich Verratenes einander widersprechen." Daraus entstehe die
"Doppelung von bewusstem und unbewusstem Diskurs", die ständige
"Überlagerung von Bewusstem-Denotativem
und Unbewusstem-Konnotativem".
Dieses entspringt, so Hiebel, einem spezifischen poetologischen Verfahren,
das sich als "traumanaloges Dichten" bezeichnen lässt, "als ein nach der
Logik des Traumes verfahrendes Komponieren": "Wie im Traum werden (private
wie öffentliche) Ereignisse in
Metaphern übersetzt, werden solche Metaphern miteinander verschaltet
oder verdichtet, wenn ihnen Analoges zu Grunde liegt, werden
metonymische Verschiebungen und Entstellungen zum Zweck der Chiffrierung
vorgenommen, werden räumliche und zeitliche Ordnungen umgestellt oder
aufgehoben. Dieses primär
assoziative Verfahren - »Freud
hat es in der »Traumdeutung«
gültig festgehalten, prägt Kafkas suchendes, tastendes Schreiben." (ebd.,
S. 457)
Wie
dieses traumanaloge Schreiben funktioniert, erläutert Hans H.
Hiebel (2008, S.458) wie folgt:
"Wie im Traum vermischen sich also
Inneres und Äußeres, werden die verschiedensten metaphorischen und
metonymischen Ersetzungen vorgenommen, werden die temporalen und kausalen
Beziehungen umgestellt und purzeln die Einzelheiten - freilich nach einer
bestimmten Gesetzmäßigkeit, einer Traum-Logik - »rhizom«-artig
durcheinander. Semantische und metaphorische Indizien verändern den Sinn der
Phänomene von Punkt zu Punkt, so dass wir von einer
gleitenden und
zugleich paradoxen Metaphorik [Hervorh. d. Verf.] sprechen können."
Der Begriff des
Rhizoms (griech. ῥίζωμα [rhizoma]
= Wurzel) bezeichnet in der Botanik Wurzelgeflechte (Rhizome) von Pflanzen.
Davon abgeleitet stellt der Begriff in der Philosophie und
Wissenschaftstheorie von »Gilles
Deleuze (19925-1995) und »Félix
Guattari (1930-1992) eine Metapher für ein »postmodernes
beziehungsweise »poststrukturalistisches
Modell der »Wissensorganisation und Weltbeschreibung dar, das ältere, durch
eine Baum-Metapher dargestellte, »hierarchische
Strukturen ersetzt.
Was das bedeutet, kann man sich am leichtesten durch
den Vergleich mit dem älteren, herkömmlichen Baum-Modell der
Wissensorganisationen verdeutlichen. Darin hat alles seinen festen Platz in
Über- und Unterordnungsbeziehungen und diese lassen sich als binäre
Verzweigungen abbilden. Zu Ende gedacht steht, wenn sich alles nach dem
binären Schema fügt, eins in zwei geteilt und in Dichotomien geordnet ist,
ganz oben ein Konzept vom Einen, für manche Gott, für andere eine Art
absoluter Geist. Setzt man diesem Konzept das Bild des dicht unter der
Erdoberfläche wuchernden Wurzelgeflechts vielfältiger Pflanzen entgehen und
überträgt diese Vorstellung auf die Organisation des Wissens, dann wird das
Rhizom zu einer Metapher für ein anderes Denken, "das nicht hierarchisch
ist, nicht tiefsinnig, nicht dialektisch, sondern schnell, vernetzt,
heterogen, aparallel, asymmetrisch, mannigfaltig, vielschichtig - und das
"nicht" schnell hinter sich lässt" (»noolog-Rezension
von Deleuze/Guatarri, Rhizom 1973, 6.12.09)
In diesem vielwurzelig angelegten, traumanalogen Dichten Kafkas stehen die
unterschiedlichsten Dinge wie bei einem Rhizom miteinander in Verbindung,
gehen einmal festere Verbindungen ein, dann nur für eine Weile, oder weichen
einander aus, so wie eben ein Rhizom, das "an jeder beliebigen Stelle
gebrochen und zerstört werden (kann)" um dann doch "entlang seiner eigen
oder anderen Linien" weiterzuwuchern. (Deleuze/Guattari
1977, S. 16)
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Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Max Brod)
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Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Malcom Pasley 1990)
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Halbschlafbilder
und traumanaloges Dichten
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Die Bedeutung des Schreibens für Franz Kafka
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.10.2024