Der ▪
Deutsche Bundestag wird in Form eines ▪
personalisierten
Verhältniswahlrechts
gewählt. Dabei haben die Wählerinnen und Wähler jeweils zwei Stimmen
(Erststimme/Zweitstimme).
ie Sitzverteilung im Parlament entspricht dabei im Wesentlichen dem
prozentualen Anteil an Zweitstimmen, den eine Partei bei der Wahl
errungen hat.
Mit der Mehrheitswahl, die in den Wahlkreisen durchgeführt wird,
können die Wähler direkt auf die personelle Besetzung des Bundestags
Einfluss nehmen. Sie können nämlich mit ihrer Erststimme
einen Kandidaten in ihrem Wahlkreis wählen. Erringt dieser die Mehrheit
zieht er in jedem Fall als Abgeordneter seiner Partei - grundsätzlich
sind auch parteilose Kandidaten möglich - in den deutschen Bundestag
ein.
Die Meinungen über die Vor- und Nachteile der vermeintlichen
"Persönlichkeitswahl" gehen auch in Deutschland auseinander.
So wird betont, dass die Parteien selbst für eine Entwertung der
"Persönlichkeitswahl" sorgen, indem sie zahlreiche Kandidatinnen und
Kandidaten, die in den Wahlkreisen unterliegen, über ihre Landeslisten
ins Parlament bringen.
Und das betrifft nicht nur die Spitzenkandidaten, die aus
Prestigegründen ohnehin nur in "bombensicheren" Wahlkreisen, also
Parteihochburgen, kandidieren, sondern auch für anderes
Parteienpersonal. So ist es angesichts dieser Praxis fast ein
Wunder, dass "der personelle Effekt der Erststimme" von den Wählerinnen
und Wählern einfach überschätzt wird (vgl.
Decker 2011, S.35)
Da das prozentuale Wahlergebnis - die grundlegende Verhältniswahl per
Zweitstimme - durch das Erringen einer beträchtlichen Anzahl von ▪
Überhangmandaten
und deren Zunahme mehr und mehr verfälscht wurde (»negatives
Stimmgewicht), war dagegen ein schwerwiegender Einwand, der auch
das Bundesverfassungsgericht beschäftigte.
Die Wahlrechtsreform, die
aufgrund der Urteile des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2013
vorgenommen wurde, hat aber mit ihrer ▪
Ausgleichslösung,
der Vergabe von Ausgleichsmandaten, eine Lösung gebracht, die den sie
tragenden Parteien am besten in ihr von Eigeninteressen geprägtes
Konzept gepasst hat. Immerhin hat man mit der Einführung von
Ausgleichsmandaten die Proportionalität des Zweitstimmenergebnisses
trotz überschießender Überhangmandate erhalten,
Allerdings kam für die Parteien die "Abschaffung
des intransparenten und zur Manipulation einladenden Zweistimmensystems
oder die Einführung offener Listen" (ebd.)
kam für sie nicht in Frage. (Decker
2013, S.11) S
olche und andere Vorschläge könnten nämlich durchaus noch nötig
werden, wenn die auch bei der Bundestagswahl von 2013 aufgetretenen "Fallstricke
des Wahlrechts" (Decker
2013b, S.3) zu beseitigen, von einer erneuten
▪
Wahlrechtsreform in Angriff genommen werden sollten.
Als man die beiden Stimmen bezeichnete, bewies man allerdings kein
Gespür dafür, welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
-
So gibt es viele
Wählerinnen und Wähler, die mangels genauerer Kenntnis davon
ausgehen, dass Erst- und Zweitstimmen gleichermaßen wichtig sind,
also für den Ausdruck des Wählerwillens das gleiche Gewicht haben.
-
Manche glauben
sogar daran, dass die Erststimme sogar wichtiger als die Zweitstimme
sei, sie orientieren sich an den Vorsilben und meinen, dass die
Zweitstimme eben auch zweitrangiger Natur ist. Umfragen haben
ergeben, dass "regelmäßig ein Viertel bis ein Drittel der
Bundesbürger unter diesen falschen Annahmen (wählt)." (Decker
2011, S.35)
Man geht heute davon aus, dass das Stimmensplitting über eine längere
Zeitspanne hinweg stetig zugenommen hat (ebd.), allerdings
machten auch bei der Bundestagswahl 2009 offenbar nicht mehr Wählerinnen
und Wähler vom Stimmensplitting Gebrauch als zuvor. (vgl.
Hesse/Ellwein 2011, S.354).
Insgesamt gesehen sollen es in etwa 20% der Wählerinnen und Wähler
sein, die auf diese Weise abstimmen. (vgl.
Decker 2011, S.35)
Auch die Parteien nutzen diese Unsicherheit der Wählerinnen und
Wähler gerne für ihren Wahlkampf.
-
Insbesondere die
Freie Demokratische Partei (FDP) geht bei den Wahlen bewusst auf "Zweitstimmenfang".
Dazu versucht sie den Wählern weiszumachen, dass das
Stimmensplitting eine gute Sache sei, um beide Parteien in der
rechteren Parteingruppe, sowohl FDP und CDU/CSU besonders gut zu
unterstützen. Dass dabei betont wird, die Zweitstimme müsse
"natürlich" an die FDP gehen, muss nicht weiter betont werden.
-
In jüngster Zeit
warten auch die Die Linke, mitunter auch Die Grünen, mit einer
Zweitstimmenkampagne auf. Und sogar die CDU hat, wie die Wahlen zum
niedersächsischen Landtag im Januar 2013 zeigen, die grundsätzliche
Scheu vor einer öffentlichen Zweistimmenkampagne verloren, solange
sie dem Machterhalt dient..
Die
»Wahl zum Landtag in Niedersachsen im Januar 2013 offenbarte darüber
hinaus, dass das Kalkül, in diesem Fall der CDU, eine
"Zweitstimmenkampagne" zugunsten ihres Koalitionspartners zu führen, um
die Regierungsarbeit fortsetzen zu können, nicht aufging.
Was der FDP, die zu diesem Zeitpunkt in bundesweiten Umfragen
deutlich unter der ▪ 5%-Marke lag, zu
einem unerwarteten Wiedereinzug in niedersächsischen Landtag verhalf -
und das mit einem außergewöhnlichen guten Ergebnis (9,9%) - kostete der
schwarz-gelben Koalition unter ihrem Ministerpräsidenten »McAllister
(*1971) (CDU) offensichtlich die Regierungsmehrheit.
Der vermeintliche Grund: "Leihstimmen" aus dem CDU-Lager für die FDP,
um damit die Regierungsmehrheit zu bewahren. Ohne FDP im Landtag, so war
vor der Wahl klar abzusehen, bestand dafür wenig Aussicht. Dass es für
die bis zu diesem Zeitpunkt schwer gebeutelte FDP anders kam, lag daran,
dass nach einer Analyse der Forschungsgruppe Wahlen 80% der Wähler, die
bei dieser Wahl FDP wählten, eigentlich die CDU präferierten und 43%
ihrer Wählerinnen und Wähler, das waren fast doppelt so viele wie im
Durchschnitt aller Wähler, ihre Wahlentscheidung zugunsten der FDP erst
kurzfristig vornahmen. (zit. n.
Funk 2013)
Natürlich trifft der Begriff "Leihstimmen" die Wirklichkeit nur zum
Teil. So nimmt Albert
Funk (2013)
im "Tagesspiegel" zwar an, dass der "Leihstimmenanteil" bei der
Landtagswahl zwar "ziemlich groß" gewesen sei, moniert aber zugleich,
dass 'Leihstimmen" nicht ganz passe.
"Ihm liegt die Annahme zu Grunde, dass jeder Wähler prinzipiell ein
Parteimann oder eine Parteifrau ist, die abweichend von ihrer
eigentlichen Meinung die Zweitstimme einer anderen Partei "leiht". Aber
ist jeder Wähler, der mit der Erststimme die CDU, mit der zweiten die
FDP wählt, wirklich ein CDU-Stammwähler, der fremdgeht? Oder nicht
vielleicht ein Anhänger von Schwarz-Gelb, der am Ende den Erfolg einer
bestimmten Koalition will und seine Stimmen entsprechend einsetzt?"
Solcher Einwände zum Trotz sprechen auch Politikwissenschaftler wie
Uwe Jun nach der Wahl davon, dass es sich um "eine Leihstimmenkampagne
in nie dagewesenem Ausmaß" gehandelt habe, wenn 101.000 "eigentliche"
CDU-Wähler der FDP ihre Stimme gegeben haben. (zit. n.
Rothenberg 2013)
In jedem Fall, das haben die niedersächsischen Landtagswahlen
gezeigt, ist das "Koalitionswählen"
eine durchaus verbreitete Form taktischen Wählerverhaltens, indem man
mit dem Stimmensplitting einer schwarz-gelben oder rot-grünen Koalition
in die Regierung verhelfen will.
"Der Koalitionswähler nutzt die Möglichkeit, seine beiden Stimmen –
die erste für den Wahlkreiskandidaten, die zweite für die Parteiliste –
so einzusetzen, dass das Ergebnis, das er sich wünscht, möglichst
zustande kommt." (Funk
(2013).)
Wahlentscheidend war die "Fremdblut-Therapie", (Sigmar Gabriel, SPD)
(zit. n.
Rothenberg 2013) für die Wahl in Niedersachsen wohl nicht, die einer
rot-grünen Koalition letzten Endes eine hauchdünne Mehrheit bescherte.
Aber bemerkenswert war doch, dass "der 'Zweitstimmenaufruf', den David
McAllisters Christdemokraten und die Liberalen einsetzten, um die FDP
sicher über die Fünfprozenthürde zu bringen, (...) erfolgreich (war)" (ebd),
und das ist das frappierende Ergebnis, der CDU zwar Zweitstimmen
kostete, eine schwarz-gelbe Koalition aber deshalb keinerlei Schaden
nahm, da die CDU weiterhin die erforderlichen Direktmandate, die auf der
wahlkreisbezogenen Auszählung der Erststimmen beruht, gewann.
erfolgreich.
Bei der Bundestagswahl im September
2013 zeigte sich, dass das Koalitionswählen indessen auch Grenzen
hat. Die CDU/CSU setzte auf den "Kanzlerbonus", den die Bundeskanzlerin
»Angela
Merkel wie wohl kaum ein anderer ihrer Amtsvorgänger in die
Wagschale werfen konnte. Der auf ihre Person zugeschnittene Wahlkampf
der CDU/CSU und zugleich die beharrliche Weigerung der Partei nach den
Erfahrungen der Niedersachsen-Wahl vom Januar 2013 die von der FDP
propagierte Zweitstimmenkampagne ihrerseits mit einer
Leistimmenoffensive für den gefährdeten kleineren Koalitionspartner FDP
zu unterstützen, führte unter anderem dazu, dass die FDP erstmals in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland an der ▪
5%-Hürde scheiterte.
Nicht auszuschließen ist auch, dass das ▪
neue Wahlrecht mit
Überhang- und Ausgleichsmandaten dem bis dahin sehr beliebten
Stimmensplitting im schwarz-gelben Lager
(Erststimme CDU - Zweitstimme FDP) ein Ende bereitete und damit eine
Neuauflage der christlich-liberalen Koalition verhinderte und den
Bundestags-Exodus der FDP beförderte.
Das Ergebnis der Bundestagswahl von 2013 führte so zu einer
Neuformierung des Parteiensystems in Deutschland.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.01.2020