Das personalisierte
Verhältniswahlrecht in Deutschland führt seit den 1990er Jahren vermehrt
zu sogenannten Ȇberhangmandaten
im ▪
Deutschen
Bundestag.
Überhangmandate sind Abgeordnetensitze, die eine Partei
erhält, obwohl dies ihrem proportionalen Anteil an den Zweitstimmen
nicht entspricht.
Direktmandate bei der Bundestagswahl 2017
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Das hat zunächst einmal damit zu tun, dass die Anzahl der Abgeordneten
im Deutschen Bundestag per Gesetz auf 598 Sitze festgelegt ist, wovon
299 Abgeordnete namentlich durch die Mehrheitswahl in den Wahlkreisen
bestimmt werden (Ȥ1
des Bundeswahlgesetzes).
Das bedeutet, dass jeder Wahlkreissieger
einen Abgeordnetensitz erhält.(»§
5 BWahlG) In der Folge kam und kommt es aber angesichts des rückläufigen
Zweitstimmenanteils der großen Volksparteien CDU und SPD immer häufiger
vor, "dass die jeweils stärkere Partei weiterhin mit einer hohen Quote
von Direktmandaten rechnen kann, die aber durch die gleichzeitig
erreichten Zweitstimmen nicht mehr automatisch gedeckt sind." (Decker
2011, S. 36)
Das Ergebnis: Nach der Bundestagswahl von 2009 gab es 24
Überhangmandate, die die Gesamtzahl der Abgeordneten auf 620 erhöhten.
Alle 24 Überhangmandate, 11 davon allein in Baden-Württemberg, entfielen
dabei auf die CDU/CSU.
Nicht die Überhangmandate an sich riefen schließlich die
Verfassungsrichter auf den Plan, sondern die Art und Weise, wie die
Sitzzuteilung, die sich aus der Überhangmandatpraxis ergibt, vorgenommen
wurde.
Diese Sitzzuteilung verletzte, so das Bundesverfassungsgericht
"die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der
Chancengleichheit der Parteien " (BVerfG-Urteil
vom 25. Juli 2012).
Dies sei in jedem Fall dann gegeben, wenn der
Anteil der von einer Partei errungenen Überhangmandate mehr als etwa die
Hälfte einer Fraktionsstärke ausmacht.
Ausdrücklich erklärte das BVerfG
das sogenannte »negative
Stimmgewicht für verfassungswidrig, das gegen das Prinzip der
gleichen und einer unmittelbaren Wahl verstoßen habe und sogar dazu
führen konnte, dass sich Stimmen entgegengesetzt zu dem durch sie
eigentlich ausgedrückten Wählerwillen auswirken konnten.
Für die
Bundestagswahl 2013 hatte der Gesetzgeber also für eine
verfassungskonformes Wahlrecht zu sorgen.
Wenn es um die Wege ging, wie das negative Stimmgewicht ) zu beseitigen ist,
zogen die Parteien, je nachdem, ob sie in der jüngeren Vergangenheit
mehr oder weniger stark von Überhangmandaten profitiert haben,
unterschiedliche Lösungen vor. Das lag zum Teil auch daran, dass die
verschiedenen Urteile des Bundesverfassungsgerichts die Existenz der
Überhangmandate unangetastet ließen. Insofern hat es der Sache wirklich
einen "Bärendienst" (Decker
2011, S.37) erwiesen.
In der Auseinandersetzung der
Parteien um eine Wahlrechtsänderung ging es vor allem um zwei
Lösungsmöglichkeiten:
-
Die
Verrechnungslösung zielte
darauf, errungene Überhangmandate mit Listenmandaten derselben
Partei in den anderen Bundesländern zu verrechnen. Diese Lösung
befürworteten die Grünen und Die Linke, die von Überhangmandaten
bisher nicht profitieren konnten.
-
Die
Ausgleichslösung sieht vor, dass
errungene Überhangmandate mit zusätzlichen Mandaten für die anderen
Parteien so lange verrechnet werden, bis das Proporzsystem des
Zweistimmenergebnisses wiederhergestellt ist.
Inzwischen haben sich die
Union, FDP, SPD und Grünen auf ein »neues
Wahlrecht (21.2.13), genauer gesagt, eine Wahlrechtsänderung
geeinigt, deren Kern die Einführung von »Ausgleichsmandaten
und damit "die Neutralisierung von Überhangmandaten" (Decker
2013, S.11) ist. Zugleich haben sie damit "den für sich bequemsten
Lösungsweg gewählt" (ebd.).
In einer nahezu
kartellartigen Vorgehensweise sind sie dabei ihren institutionellen
Eigeninteressen gefolgt und haben weiterreichenden Reformüberlegen "sei
es die
Abschaffung des intransparenten und zur Manipulation einladenden
Zweistimmensystems oder die Einführung offener Listen" (ebd.)
damit eine Absage erteilt.
Die Sitzzuteilung im
Bundestag erfolgt, beginnend mit der Bundestagswahl im September 2013,
in einem zweistufigen Verfahren, bei dem nach der Verteilung der Sitze,
die eine Partei bei den Zweitstimmen errungen hat, auf die Länder,
entstandene Überhangmandate durch die Vergabe weiterer Mandate mit Blick
auf den bundesweiten Parteiproporz vollständig ausgeglichen werden. (▪
Ausgleichsverfahren)
Ob das Ausgleichsverfahren
verfassungsrechtlich wirklich Bestand hat, wird sich zeigen. Eines ist
allerdings schon jetzt klar. Die neue Regelung wird den Deutschen
Bundestag ganz ganz deutlich über die Zahl von 598 Abgeordneten hinaus,
manche rechnen bis zu 100 Sitze hinzu, aufblähen. 2017 sind es sogar 709
Sitze geworden!
Eine solche Regelung
nehmen die diese Wahlrechtsänderung tragenden Parteien offenbar
gegenüber anderen Möglichkeiten gerne in Kauf, auch wenn sie inzwischen
wieder über eine erneute Wahlrechtsänderung nachdenken, weil diese Größe
die Arbeitsfähigkeit des Bundestags herabsetzt. Im Gespräch ist wieder,
die Gesamtzahl der Direktmandate einfach so weit senken können, dass es
kaum mehr zu Überhangmandaten kommen kann, ein Ergebnis oder gar eine
Verständigung über die Parteigrenzen hinweg aber noch immer nicht in
Sicht. Denn: Eine solche
Regelung würde auch eine neue Wahlkreiseinteilung erforderlich machen.
Wer aber gibt freiwillig einen Wahlkreis auf, in der das Direktmandat
über Jahrzehnte hinweg ein "Selbstläufer" gewesen ist.
Decker 2011,
S.37) schätzt, dass die Aufblähung des Parlaments bei einer bis zum einem Drittel gehenden
Absenkung nicht mehr der Fall wäre.
Denkbar
wäre auch gewesen, dass man den Parteien "überschießende Direktmandate"
von den Listenmandaten abzieht, "bis dem Verhältnisprinzip Geltung
verschafft ist" (Rudzio
2011, S.177), so wie dies einmal in Bayern gehandhabt worden ist.
Kritiker der Wahlrechtsreform sehen zwar durchaus, dass die neue
Sitzzuteilung mit der Kombination Überhang- und Ausgleichsmandaten dem
Proporzsystem wieder mehr Geltung verschafft hat, heben aber auch die
gewaltigen Mehrkosten hervor, die eine solche, auf Dauer angelegte
Aufblähung des Bundestags hat. Von der ehemals selbst verordneten
Schlankheitskur des Jahres 1998, die zu einer Reduzierung der Sitze
führte, ist so nichts mehr übrig.
Die Erhöhung der Abgeordnetenzahl ficht deren Verteidiger indessen nicht
sonderlich an. Auch dann nämlich ist das deutsche Parlament immer noch
kleiner als das in vergleichbaren Ländern. Das liegt daran, dass die
Größe der Parlamente mit steigender Bevölkerungsgröße degressiv abnimmt.
Im Klartext: Je mehr Einwohner ein Land hat, desto kleiner ist das
Parlament, wenn man es auf die Bevölkerungszahl bezieht. Deutschland
hat, so gesehen, als bevölkerungsreichstes Land der EU auch das relativ
kleinste Parlament.
So ist auch weniger die in absoluten Zahlen von Abgeordnetensitzen
ausgedrückte Aufblähung des Bundestags das eigentliche Problem. Schwerer
wiegt, so Decker (2013), dass die Größe "von den Unbilden des
Wählerverhaltens" abhängt.
Und das ist längst nicht alles: Schwerer
wiegt vielleicht noch die Tatsache, dass "die Zusatzmandate den
Sanktionscharakter der Wahl (unterminieren). Parteien, die Stimmen
verlieren, können trotzdem damit rechnen, mit einer größeren oder gleich
bleibenden Zahl an Abgeordneten im Parlament vertreten zu sein." (ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.01.2020