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Surfbrett Weitererzählung
Weitererzählen einer literarischen Vorlage ist eine komplexe
Schreibaufgabe
Wer einen literarischen Text ▪
weitererzählen will, stellt vor einer komplexen Schreibaufgabe,
die nicht nur Fantasie für das Fortschreiben verlangt, sondern auch
andere ▪
Schreibkompetenzen. die Fähigkeit, den Inhalt des Vorlagentextes zu erfassen und seine ▪
Erzählstrukturen zu erkennen.
Vom Schwierigkeitsgrad der Vorlage und seiner ▪
Erzählstrukturen hängt dementsprechend auch ab, für welche
Altersstufe und für welches das Anforderungsniveau die jeweilige
Schreibaufgabe gedacht ist.
Einen literarischen fiktionalen Text weitererzählen
Die literarische
Vorlage, die vergleichsweise häufig beim ▪
schriftlichen Weitererzählen verwendet wird, ist ein
fiktionaler
erzählender
Text.
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Oft handelt es
sich um einen vollständigen, vergleichsweise kurzen Text, wie z.
B. eine ▪
Kurzgeschichte, eine ▪
Fabel oder eine ▪
Anekdote. Es kann sich aber auch um eine längere Ganzschrift
handeln, die im Literaturunterricht behandelt wird wie z. B.
eine Novelle
oder eine andere Erzählung mittlerer Länge. Und selbst längere
Romane kommen
dazu in Frage.
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Im
Literaturunterricht bekommen Schülerinnen und Schüler aber auch
häufig einen ihnen bis dahin unbekannten kurzen Text vorgelegt,
der aus didaktischen Gründen ohne den in der Vorlage vorhandenen
Schluss, oft auch ohne ihren Titel, präsentiert wird. Ist eine
solche Kürzung des Textes durchdacht, dann kann die sich daran
anschließende Gestaltungsaufgabe sehr reizvoll sein, wenn klar
ist, worauf es beim Weiterschreiben ankommen soll. Am Ende
können die verschiedenen Schlussgestaltungen miteinander und mit
dem Original verglichen werden. Dabei kommt es aber nicht darauf
an, ob und inwieweit man die Vorlage "trifft".
Fortschreiben heißt nicht Zuendeschreiben
Wie der vorgelegte
Erzähltext fortgeschrieben werden soll, geht aus der Schreibaufgabe
hervor. Ganz allgemein soll die Geschichte zu einem neuen Ende
fortgesetzt werden.
Das heißt aber
nicht zwangsläufig, dass die Geschichte und die darin enthaltenen
Handlungen zu einem abgeschlossenen Ende führen müssen oder die
Probleme, die darin auftauchen, mit dem neuen Ende auf jeden Fall
gelöst werden müssen. Damit kann man so mancher literarischen
Vorlage geradezu Gewalt antun, insbesondere wenn man unter Umkehrung
aller Vorzeichen der Erzähltextvorlage alle darin enthaltenen
Konflikte allzu schnell damit unter den Teppich kehrt, dass man ein
rundum harmonisierendes, oft mit Klischees versetztes Ende
herbeierzählt. Aber auch der umgekehrte Fall, wenn alle Konflikte in
einer Art finalen Tragödie mit Mord und Totschlag oder ähnlichem
endgültig "gelöst" werden, kann die gleichen Wirkungen haben.
Die Warnung vor ▪
Happy Ends und Katastrophen soll
dabei nicht von vornherein verurteilen, wenn man als Schreiberin*
auf das zurückgreift, was die eigene Lebenswelt kennzeichnet. Und
dazu gehören eben Erzählungen in anderen als schriftlichen Formaten
wie die, die in gängigen Fernseh- oder Videoformaten rezipiert
werden. Dass gerade solche "Anschlüsse" an Medienerfahrungen gerade
auch die Verständigung über die verschiedenen produktiv-kreativen
Gestaltungen in der Schreibgruppe, in der Klasse oder im Kurs
besonders anregen kann, kann und darf aber auch etwas sein, was von
den Lehrkräften und den Mitschülern wertgeschätzt werden dar.
Allerdings sollte jedem/r Schreiberin* vorher klar sein, ob solche
Gestaltungen in den Bereich fallen, die bei der Bewältigung der
Schreibaufgabe erwartet werden. Also: Vor dem Schreiben müssen sich
Schülerinnen* und Lehrkräfte darüber so weit wie möglich
verständigen, um keine vermeidbaren Frustrationen zu erzeugen und
die Schreibmotivation nicht unnötig zu belasten.
Die Schreibaufgabe beachten
Wie mit dem vorgelegten Erzähltext bei der Weitererzählung
umzugehen ist, gibt die Schreibaufgabe vor.
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Sie kann ganz
allgemein gehalten sein nach dem Muster: "Erzählen Sie die
Geschichte weiter." In diesem Fall hat man natürlich den
größten Freiraum, muss aber zugleich auch selbst auf der
Grundlage des eigenen Textverständnisses herausfinden, welche
Elemente der literarischen Vorlage zu welchem Zweck und Ziel
weitererzählt werden soll. Dabei muss geeignete Ideen für die
eigene Textfortsetzung finden und muss bei der Gestaltung selbst
dafür sorgen, dass nachvollziehbare plausible Bezüge zur Vorlage
erhalten bleiben, einem die Fantasie also auch beim Schreiben
nicht einfach durchgeht.
-
Häufig macht die
Schreibaufgabe aber auch konkretere Vorgaben oder weist
ausdrücklich auf bestimmte Bezüge zwischen der literarischen
Vorlage und der erwarteten produktiv-kreativen Gestaltung hin,
die man berücksichtigen muss. Das kann sich z. B. auf die
Vorgabe einer bestimmten Kommunikationssituation, auf das
Weitererzählen aus einer bestimmten Perspektive oder auch auf
das Textmuster beziehen, mit dem die "Anschlusserzählung"
gestaltet werden soll (z. B. Tagebucheintrag, Brief,
innerer
Monolog etc.). Oft wird bei der Formulierung solcher Schreibaufgaben aber auf
die Verwendung des übergeordneten Operators "Erzählen Sie die
Geschichte weiter" aber verzichtet.
Die
Schreibaufgabe könnte dann z. B. lauten:
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In ▪
Peter Bichsels
Erzählung ▪ »San Salvador«
wird die Beziehung zwischen Paul und Hildegard in sehr
knappen Worten skizziert. Erzählen Sie die Geschichte wie
folgt weiter. Schreiben Sie einen lösungsorientierten Dialog per Telefon zwischen
Hildegard (H) und ihrer Mutter (M), die Pauls Abschiedsbrief findet
und mit ihr darüber spricht - und besonders über ihre Beziehung
zu Paul.
-
In ▪
Bernhard Schlinks Roman ▪»Der
Vorleser« wartet ▪
Hanna Schmitz
vergeblich auf einen Brief des Ich-Erzählers ▪
Michael Berg
und hat damit auch keine Gelegenheit, auf diesen zu
antworten, nachdem sie später schreiben gelernt hat. (Erzählen Sie die Geschichte wie folgt weiter:)
Verfassen Sie diesen Brief des Ich-Erzählers und die
mögliche Antwort Hannas.
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(ggf. als
Lückentext, d. h. um den Schluss gekürzte Textversion). Erzählen Sie die Geschichte ▪ "Geier"
von ▪
Theo Schmich weiter.
Verfassen Sie einen
Brief, den Harold kurz nach seiner Einlieferung
ins Krankenhaus an seine Mitarbeiter schreibt. oder: Gestalten Sie einen
Dialog zwischen Harold und seiner Frau, die von
Harold verlangt, kürzer zu treten und einmal richtig Urlaub zu machen.
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Wer einen literarischen Text ▪
weitererzählen will, stellt vor einer komplexen Schreibaufgabe,
die nicht nur Fantasie für das Fortschreiben verlangt, sondern auch
die Fähigkeit, den Inhalt des Vorlagentextes zu erfassen und seine ▪
Erzählstrukturen zu erkennen.
Vom Schwierigkeitsgrad der Vorlage und seiner ▪
Erzählstrukturen hängt dementsprechend auch ab, für welche
Altersstufe und für welches das Anforderungsniveau die jeweilige
Schreibaufgabe gedacht ist.
Wer einen Text weitererzählen soll, muss sich an den Inhalten und
Strukturen des Ausgangstextes orientieren und mit diesen als Material für
die eigene Fortführung weiterarbeiten (transformieren).
Der Vorlagentext ist damit nicht nur einfach Impulsgeber für die
eigene Fantasie, sondern Grundlage der kreativen Fortführung der
Geschichte.
Das kann, wenn dies nicht als Schreibauftrag ohnehin präzisiert
worden ist, im Einzelnen z. B. bedeuten:
-
Sich an die
Erzählperspektive halten Die Erzählperspektive, die in der Textvorlage gestaltet ist (z.B.
Ich-Erzählung oder
Er-Erzählung, Perspektive einer Figur, die das
Geschehen erzählt), muss, wenn nichts anderes gefordert ist, beibehalten
werden.
-
Die raumzeitlichen
Rahmenbedingungen berücksichtigen Zeit- oder Ortswechsel bei der
Weitererzählung müssen also deutlich gemacht werden und plausibel an das
vorgegebene Raum-Zeit-Gerüst anschließen.
-
Die handelnden Figuren
weiter agieren lassen Wenn in
der Textvorlage bestimmte Figuren (bis
zu einem bestimmten Punkt) miteinander in Beziehung treten, sollte die
Weiterführung der Geschichte diese Beziehung in ihrer Entwicklung fortführen. Ganz neue
Figuren einzuführen, die, wie vom Himmel gefallen, dieser Entwicklung
oder dem Geschehen eine bestimmte Wendung geben, sind dazu oft nicht so
gut geeignet.
-
Einen vorhandenen Konflikt
aufgreifen Besteht zwischen bestimmten Figuren ein Konflikt oder
sieht sich eine Figur in einem (inneren) Konflikt, sind diese Konflikte
oder Problemlagen aufzugreifen und in ihrer weiteren Entwicklung darzustellen.
-
Die
sprachlich-stilistische Gestaltung des Ausgangstextes fortführen Die Art und Weise, wie das Geschehen
sprachlich im Ausgangstexts gestaltet ist,
sollte auch die Weitererzählung kennzeichnen. Das bedeutet z.
B., dass ein Text, der, insgesamt gesehen, in der Standardsprache
verfasst worden ist, bei der Weitererzählung nicht einfach in die
Umgangssprache abgleiten darf. Eine vorgegebene Geschichte kann ihren Inhalt in unterschiedlichem
"Grundton" darbieten. Sie kann dabei vergnüglich, spannend oder seltsam
wirken und das Geschehen mit einem Augenzwinkern, mit ernstem Blick oder
eher unbeteiligt erzählen. Dieser genretypische Grundton wird auch an
der verwendeten Sprache sichtbar. Beim Weitererzählen sollte man daher versuchen, diesem Grundton zu
folgen (wenn die vorgegebene Geschichte also eher humorvoll ist, auch
humorvoll weitererzählen). In erzählerisch gut begründeten Fällen kann
man selbstverständlich auch
davon abzuweichen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
28.06.2024
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