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Surfbrett Weitererzählung
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Hauptsache authentisch? Hauptsache einfallsreich?
Warum eine Geschichte nicht zu Ende erzählt werden muss
Manchmal liegt es
an dem etwas unglücklich formulierten Schreibauftrag "Schreiben Sie
die Geschichte zu Ende", wenn man meint, man müsse beim
Weiterzählen, das was in der literarischen Vorlage nur angelegt ist,
zu einem Ende führen. Das ist, so meint man, dann gelungen, wenn das
Ganze irgendwie abgerundet wird, Konflikte oder Probleme, die in der
literarischen Vorlage vorkommen, auf irgendeine Art und Weise gelöst
werden.
Ein solcher
Schreibauftrag führt aber in die Irre, auch wenn er vielleicht gut
gemeint ist. So soll damit wohl darauf aufmerksam gemacht werden,
dass man bei seiner eigenen Weitererzählung die Fäden in die Hand
nehmen soll, die in einen klaren Bezug zur Vorlage verdeutlichen,
wenn man die Geschichte weitererzählt. Vielleicht soll einen ein
solcher Arbeitsauftrag auch davor bewahren, beim Weitererzählen nur
seiner eigenen Fantasie Raum zu geben.
Aber schon der
Gedanke, was ein Ende einer Geschichte sein könnte, kann einen auf
seltsame Gedanken bringen. Ist damit die Lösung der in der
Geschichte dargestellten Konflikte und Probleme gemeint oder einfach
ein irgendwie folgerichtiges Ende bestimmter Ereignisse oder
Handlungen, die doch immer irgendwie unabgeschlossen bleiben?
Zudem, wenn ein
Autor bzw. eine Autorin aus bestimmten Gründen wie z. B. bei vielen
modernen Kurzgeschichten seine Geschichte ganz unvermittelt und
abrupt beginnen lässt, einen Höhepunkt der Geschichte vermeidet und
einen offenen Schluss gestaltet, der vieles offen lässt, warum
sollte das Weiterschreiben dann unbedingt den gordischen Knoten
zerschlagen und alles zu Ende bringen?
Weiterschreiben
kann also auch durchaus bedeuten, dem in der literarischen Vorlage
Dargeboten einfach weitere inhaltliche Facetten abzugewinnen, die
sich in der weiteren Entwicklung des dort erzählten Geschehens
ergeben könnten, ohne dass damit alles auf ein geschlossenes Ende
hinausläuft.
Warum Happy Ends und Katastrophen oft den Vorlagentext nicht
wirklich fortführen
Eine Folge, die sich oft aus der Vorstellung, es gehe beim
Weiterzählen stets darum, eine Geschichte irgendwie zu Ende zu
erzählen, ist die Verbreitung von Happy Ends oder Katastrophen in
Geschichten, die von Schülerinnen und Schülern fortgeschrieben
werden.
Sie bieten in der Regel einfache Lösungen für das aufs Ende
zielende Schreiben an und lassen sich nach Auffassung ihrer
Schreiberinnen und Schreiber immer so gestalten, dass sie mit der
entsprechenden Fantasie zu einer vorgegebenen Geschichte passen.
Dies kann zwar im Rahmen einer •
funktionalen Perspektive beim Verfassen derartiger Texte nicht
nur zulässig, sondern auch in gewissem Rahmen erwünscht sein, wenn
die Gestaltungen im Sinne des freien
assoziativen und
expressiven Schreibens Anstöße für die unmittelbare
Anschlusskommunikation über die literarische Textvorlage und die
produktiv-kreativen Gestaltungen der Schreiberinnen* im
Unterricht leisten soll.
Hier geht es
freilich um Gestaltungen der Weitererzählung, die die •
plausible Rückbindung an den
Text zugrunde legen.
Denn auch bei
solchen Schreibaufgaben kann es auch
leicht passieren, dass die Textvorlage nur als Sprungbrett für die eigene Fantasiegeschichte
verstanden und genutzt wird, die mit einem aufgesetzt und künstlich herbeierzählten Happy
End die Geschichte zu einem "guten" Ende bringt.
Problematisch wird
das, wenn man sich damit Inhalte und Strukturen des Ausgangstextes
so hinbiegen muss, dass sie auf das Happy End, so wie man es sich
gerne vorstellt, hinauslaufen können.
Um dies zu vermeiden, muss man
die literarische Vorlage vor dem Niederschreiben der eigenen
Weitererzählung eben genau unter die Lupe nehmen, sich ein
angemessenes Textverständnis erarbeiten, auf dessen Grundlage man
auch einschätzen kann, ob die eigene Gestaltungsidee zu der
literarischen Vorlage passt und von einem Leser oder einer Leserin
unter Bezugnahme auf die Vorlage auch nachvollzogen werden kann.
Mediale Muster sind oft schlechte Paten
Der Drang,
Geschichten beim Weitererzählen mit Happy Ends und Katastrophen zu
einem endgültigen Ende zu bringen, kommt oft nicht von ungefähr.
Schließlich kommt man ja im Umgang mit Erzählungen nicht nur mit
literarischen Vorlagen im Deutschunterricht in Berührung. Viele
Muster, die vor allem Schülerinnen und Schüler über das Erzählen im
Kopf haben, gehen auf andere mediale Formate im Fernsehen allgemein
oder in Videos zurück, die sich oftmals mit waghalsigen, kaum
motivierten Sprüngen in der Handlungsführung auszeichnen und
Konflikte und Probleme in einem bestimmten Zeitrahmen lösen müssen.
Alles, das kann sich auf produktiv-kreative Gestaltungen wie dies
auch das Weitererzählen einer literarischen Vorlage bedeutet,
auswirken.
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In der Folge werden
von gar nicht so wenigen Schreiberinnen* fast
zwanghaft Happy Ends mit Candlelight-Dinners oder großen
Versöhnungsevents äußerst fantasievoll in vielen anschaulichen
Details erzählt, wenn die literarische Vorlage z. B. einen
ungelösten Beziehungskonflikt zwischen Partnern enthält.
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Katastrophen
mit tragischem Ende (Unglücke jedweder Art bis hin zu Verbrechen
von "Kettensägemonstern") werden oft in einer Art
Kameratechnik erzählt, die vermeintlich bildstark in Szene
gesetzt werden, um einer Geschichte ein dramatischen und
"endgültigen" Schluss zu geben.
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Fiktive
Traumfantasien müssen herhalten, wenn kein erzählerischer
Fortgang in der fiktionalen Welt des Vorlagentextes möglich zu
sein scheint.
Abhilfe schafft hier vor allem eine genaue inhaltliche Erfassung
des Vorlagentextes, die Analyse seiner Strukturen und das
Durchdenken und / oder Skizzieren von Weitererzählungsvarianten, die
neben die sich aufdrängenden medialen Schemata gestellt werden
können.
Bei aller Kritik:
Auch diese an anderen medialen Mustern orientierten Gestaltungen
haben ihre Daseinsberechtigung. Sie gehören schließlich zu der
Lebenswelt und den lebensweltlichen Erfahrungen der jeweiligen
Schreiberinnen*. Und oft entspringen gerade solchen Gestaltungen
auch anregende Impulse, sich mit anderen Schülerinnen* über das
Verständnis der literarischen Vorlage und die jeweiligen
Gestaltungen zu unterhalten und unterschiedliche Vorstellungen
darüber auszutauschen und zu diskutieren.
Trotzdem: Auch
Gestaltungsideen auf der Grundlage solcher medialer Muster sollten
wohlüberlegt zum Einsatz kommen. Und am besten verständigt man sich
schon im Vornherein bei Schreibaufgaben zum Weitererzählen, wie und
nach welchen Kriterien die geschriebenen Weitererzählungen beurteilt
und ggf. bewertet werden sollen. Hier kann auch eine Schreibgruppe,
in der man sich darüber austauscht, wertvolle Hilfe leisten.
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Hauptsache authentisch? Hauptsache einfallsreich?
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Surfbrett Weitererzählung
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.07.2024
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