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Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Malcom Pasley 1990)
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Text des Kapitels
"Der Onkel / Leni"
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Gestaltend
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Überblick
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Aspekte der Schreibaufgabe
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Der nachfolgende Auszug aus dem Kapitel •"Der
Onkel / Leni" aus
•
Franz Kafkas Roman "•
Der
Prozess" dient dazu, im Zuge einer Schreibaufgabe zur •
gestaltenden Interpretation zu einem vertieften Textverständnis zu
gelangen.
[...]
»Lieber Onkel«, sagte K. und riss sich von seiner
Zerstreutheit los, »ich weiß ja gar nicht, was du von mir willst.« »Josef«,
sagte der Onkel warnend, »die Wahrheit hast du immer gesagt, soviel ich
weiß. Soll ich deine letzten Worte als schlimmes Zeichen auffassen?« »Ich
ahne ja, was du willst«, sagte K. folgsam, »du hast wahrscheinlich von
meinem Prozess gehört.« »So ist es«. antwortete der Onkel, langsam nickend,
»ich habe von deinem Prozess gehört.« »Von wem denn?« fragte K.
»Erna hat es mir geschrieben«,
sagte der Onkel, »sie hat ja keinen Verkehr mit dir, du kümmerst dich leider
nicht viel um sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den Brief
bekommen und bin natürlich sofort hergefahren. Aus keinem anderen Grund,
aber es scheint ein genügender Grund zu sein. Ich kann dir die Briefstelle,
die dich betrifft, vorlesen.« Er zog den Brief aus der Brieftasche. »Hier
ist es. Sie schreibt: «Josef habe ich schon lange nicht gesehen, vorige
Woche war ich einmal in der Bank, aber Josef war so beschäftigt, dass ich
nicht vorgelassen wurde; ich habe fast eine
[→HL 65] Stunde gewartet, musste dann
aber nach Hause, weil ich Klavierstunde hatte. Ich hätte gern mit ihm
gesprochen, vielleicht wird sich nächstens eine Gelegenheit finden. Zu
meinem Namenstag hat er mir eine große Schachtel Schokolade geschickt, es
war sehr lieb und aufmerksam. Ich hatte vergessen, es Euch damals zu
schreiben, erst jetzt, da Ihr mich fragt, erinnere ich mich daran.
Schokolade, müsst Ihr wissen, verschwindet nämlich in der Pension sofort,
kaum ist man zum Bewusstsein dessen gekommen, dass man mit Schokolade
beschenkt worden ist, ist sie auch schon weg. Aber was Josef betrifft,
wollte ich Euch noch etwas sagen. Wie erwähnt, wurde ich in der Bank nicht
zu ihm vorgelassen, weil er gerade mit einem Herrn verhandelte. Nachdem ich
eine Zeitlang ruhig gewartet hatte, fragte ich einen Diener, ob die
Verhandlung noch lange dauern werde. Er sagte, das dürfte wohl sein, denn es
handle sich wahrscheinlich um den Prozess, der gegen den Herrn Prokuristen
geführt werde. Ich fragte, was denn das für ein Prozess sei, ob er sich
nicht irre, er aber sagte, er irre sich nicht, es sei ein Prozess, und zwar
ein schwerer Prozess, mehr aber wisse er nicht. Er selbst möchte dem Herrn
Prokuristen gerne helfen, denn dieser sei ein guter und gerechter Herr, aber
er wisse nicht, wie er es anfangen sollte, und er möchte nur wünschen, dass
sich einflussreiche Herren seiner annehmen würden. Dies werde auch sicher
geschehen, und es werde schließlich ein gutes Ende nehmen, vorläufig aber
stehe es, wie er aus der Laune des Herrn Prokuristen entnehmen könne, gar
nicht gut. Ich legte diesen Reden natürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte
auch den einfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm, anderen gegenüber
davon zu sprechen, und halte das Ganze für ein Geschwätz.
Trotzdem wäre es vielleicht
gut, wenn Du, liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch der Sache nachgehen
wolltest, es wird Dir leicht sein, Genaueres zu erfahren und, wenn es
wirklich nötig sein sollte, durch Deine großen, einflussreichen
Bekanntschaften einzugreifen. Sollte es aber nicht nötig sein, was ja das
wahrscheinlichste ist, so wird es wenigstens Deiner Tochter bald Gelegenheit
geben, Dich zu umarmen, was sie freuen würde.» - Ein gutes Kind«, sagte der
Onkel, als er die Vorlesung beendet hatte, und wischte einige Tränen aus den
Augen fort. K. nickte, er hatte infolge der verschiedenen Störungen der
letzten Zeit vollständig Erna vergessen, sogar ihren Geburtstag hatte er
vergessen, und die Geschichte von der Schokolade war offenbar nur zu dem
Zweck erfunden, um ihn vor Onkel und Tante in Schutz zu nehmen. Es war sehr
rührend, und mit den Theaterkarten, die er ihr von jetzt ab regelmäßig
schicken wollte, gewiss nicht genügend belohnt, aber zu Besuchen in der
[→HL 66]
Pension und zu Unterhaltungen mit einer kleinen
achtzehnjährigen Gymnasiastin fühlte er sich jetzt nicht geeignet.
[...]
(in: Franz Kafka, Der Prozess, (1) Ausgabe der Hamburger Lesehefte Husum
2008, 64f., bzw. (2) Frankfurt suhrkamp 2005, S.98f.)