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Franz Kafka (1883-1924)

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Glossar Literatur
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Fremdheitserfahrungen im Umgang mit literarischen Texten thematisieren

"Der Text, der mir den Zugang zu Kafkas Werk öffnete", so notiert Walter H. Sokel (geb. 1917 in Wien) (2006, S.14f.), einer der bedeutendsten Kafka-Forscher überhaupt, "war Die Verwandlung. Sie gab meinem Leben eine neue Richtung und entschied meine Berufswahl. Denn ich entschloss mich in der Emigration zum Studium der Literatur und vor allem deutschsprachiger Literatur, um das Rätsel von Kafkas erzählerischem Magnetismus zu erforschen. [...] Die enorme Wirkung, die »Die Verwandlung auf mich hatte, beruhte zunächst auf meiner Identifikation mit dem Protagonisten. Der Text nahm mich buchstäblich gefangen. In dem Sinne, dass er mich emotionale in die jammervolle Situation seines Helden bannte. Ich litt und quälte mich an Gregors Stelle. »Nimm an«, so fragte ich mich, »ein analoges Schicksal könnte dich selbst überfallen?« Empirisch gesprochen war es freilich undenkbar, aber die überredende Zauberkraft von Kafkas Erzählung ließ es mir keineswegs unmöglich erscheinen, dass es mir oder irgendjemandem zustoßen könnte. Selbst wenn ich nicht buchstäblich in ein Ungeziefer verwandelt würde, so könnte ich doch in die gleiche Art absoluter Isolierung geraten, Gegenstand des Ekels und Abscheus werden, der Verachtungsschwelle, die wir Menschen zubilligen. Der Zweite Weltkrieg wütete. Könnte ich nicht, grauenhaft verstümmelt, Gregor vergleichbar werden? Und selbst wenn die Ursache des Ausscheidens aus menschlicher Gesellschaft eine körperliche wäre, könnte nicht irgendein geistiger oder moralischer Vorstoß, irgendein bislang unvorstellbares Unglück mich in eine Gregor ganz ähnliche Lage versetzen? Schaudererregende Einmaligkeit war nicht nur einem Individuum vorbehalten. Ihre Entsetzlichkeit - potentiell drohte sie jedem. Und war es nicht das Schicksal jedes Menschen, sich am Ende des Lebens von aller Gemeinschaft ausgeschlossen zu fühlen? [...]"

Kafka trifft den Geist jeder Zeit, aber auch mitten hinein ins Herz des Einzelnen, so ein knappes Resümee, das sich aus Sokels Worten ziehen lässt. Manchen trifft eine Begegnung mit dem Dichter jüdischer Herkunft aus Prag sogar mit voller Wucht. Dass " Unterricht über Kafka riskant (ist)" (Kammler 2005, S. 198) hat Bolko Bullerdiek (1989) in einer Kurzgeschichte verarbeitet. Wie Kammler (ebd.) weiter ausführt, "besteht geradezu die Gefahr eines 'Leserschocks'  (Elm 1986, S.34), der unerfahrene Leser - und das sind Schüler in drastisch zunehmendem Maße - besonders hart treffen kann." 

Walther Ziegler (2021, S. 7) hat die Wirkung, die Kafkas Texte auf viele seiner Leserinnen und Leser bis heute hat, so zusammengefasst: "Kafka ist Schriftsteller und Geschichtenerzähler, aber seine Geschichten sind weitaus mehr als nur spannende Unterhaltung. Sie setzen etwas in Gang. Bei aller Vielfalt kreisen sie meist um denselben Kern. Sie ziehen uns in den Strudel unserer eigenen Träume, Stimmungen und Ängste. Jeder, der sich auf Kafkas Schriften einlässt, begegnet am Ende sich selbst und wird, ob er will oder nicht, mit der Zerbrechlichkeit seines eigenen Lebens konfrontiert. Kafka zeigt uns das Ausgeliefertsein an Mächte, die wir kaum oder gar nicht kontrollieren können. Er lässt uns die ganze Dimension der Ungeborgenheit unseres Daseins spüren und entführt uns in Räume, die wir normalerweise nicht betreten oder betreten wollen."

Kafkas Texte kann man nicht wörtlich verstehen, das erkennt nahezu jeder. Man muss ihren "eigentlichen" Sinn hinter dem Gesagten suchen. Aber genau das machen seine Texte so schwer, weil sie jeden Deutungsversuch auf ihre Art und Weise sabotieren oder zumindest sehr schwer machen. (vgl. Engel 2010, S.411) Dass dies dazu führt, dass sich die verschiedenen wissenschaftlichen Schulen der Kafka-Forschung auf "die Suche nach dem Schlüssel" machen, "der als Passepartout alle Einzeltexte erschließen" könnte (ebd., S.419) ist zwar nachvollziehbar, führt aber wohl solange nicht weiter, wenn sie einen Schlüssel suchen, "der dann alles erschließen kann." (ebd.

 "Kafkaesk" nennen aber auch viele, die die Texte Kafkas vielleicht noch gar nicht gelesen haben, "bürokratische oder logische Wirrnisse, die uns unsicher machen, ob wir mit Lachen oder Schrecken reagieren sollen." (Boa 2006, S.28f.) Andererseits "hat das Kafkaeske nur noch wenig mit Kafka zu tun" (Jahraus 2006, S.20)

Unheimlich kommen die Texte einem vielleicht vor, zwingen einen aber gerade deshalb zum Weiterdenken, zum aktiven Lesen, bei dem wir uns als Leser selbst in die Lektüre einbringen müssen. Für "Globaldefätismus" (Engel 2010, S.419), der letztlich vor Kafkas Texten resigniert, besteht auch im schulischen Literaturunterricht kein Anlass.

Verstehensprobleme und Fremdheitserfahrungen im Umgang mit Franz Kafkas Texten

In den Bann lassen sich freilich viele schlagen, die Kafkas Texte begegnen. Wer sie ablehnt, nichts mit ihnen anfangen kann und will, wird dies mit ebensolchem Recht tun. "Sperrig" ist das, was demjenigen begegnet, der sich auf sie einlässt, allemal. So wirkt denn auch die Lektüre seiner Texte auf den einen störend, auf den anderen belebend und auf manchen sogar irgendwie dazwischen.

Wenn das scheinbar Trivialste, was uns in unserem Alltagsleben so klar und sinnvoll erscheint, bei Kafka plötzlich entfremdet, sinnverschoben oder sinnentleert erscheint, und der Autor uns für diese Rätsel keine Erklärungen liefert, "müssen wir etwas in uns selber entdecken, das von dem Bild im Text erweckt wird und Bedeutung schafft." (Boa 2006, S.28f.).S.29)

Aber genau das ist das Problem. Franz Kafkas • moderne Parabeln sind wahrlich keine leichte Kost. Sie verlangen den Lesenden einiges ab. Vielen Leserinnen und Lesern kommen sie zunächst einmal unverständlich und fremd vor. Und die negative Weltsicht, die meist aus ihnen spricht, wirkt darüber hinaus oft noch weiter verstörend. Hinter diesen Erfahrungen steht oft die von solchen Texten ausgelöste »kognitive Dissonanz, d. h. die Erfahrung, dass das, was man gelesen hat, einfach nicht so kognitiv zu verarbeiten ist, wie man das gewohnt ist. Vereinfacht ausgedrückt: Die Muster, mit denen wir etwas Gelesenem Bedeutung bzw. Sinn zuschreiben, funktionieren einfach nicht.

Daher wundert es auch wenig, dass eine solche Erfahrung emotionale Auswirkungen hat. Sie sorgt u. U. für "schlechte" Gefühle über vermeintlich eigenes Unvermögen bis hin zur Abwertung des Gelesenen und seines Autors bzw. seiner Autorin in Bausch und Bogen.

Wer diese Spannung nur vordergründig aushalten kann, den dieser unangenehme motivationale Zustand hervorruft, lässt sich u. U. von allem, was einem einen solchen Text unverständlich, fremd, unsinnig oder sinnlos erscheinen lässt, aber nicht beirren. Um die Spannung zu lösen, biegt er sich das Ganze so hin, dass es eben zur eigenen Sicht der Dinge passt. Was sich dieser nicht fügt, wird kurzerhand ignoriert.

Auf der anderen Seite ist »kognitive Dissonanz, die Kafkas Texte hervorrufen können, aber auch eine Chance, wenn die mit ihr verbundenen Unlustgefühle überwunden werden können ( volitionale und metakognitive Aspekt des Lesens). Dann kann sie Ausgangspunkt einer Spurensuche werden, die nach den Ursachen ihrer Entstehung bei einem selbst und in Bezug auf den Text fragt.

Die Spurensuche kann damit beginnen, sich damit zu befassen, was und warum etwas den Text, mit dem man es zu tun hat, so fremd erscheinen lässt. Dazu gilt es • Inhalte und Strukturen der verschiedenen Arten von Fremdheit ( alltägliche, strukturelle und radikale Fremdheit) zu thematisieren, die vom Text evoziert werden. (vgl. Waldenfels 1998, vgl. Leskovec 2010. S.240)


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Die Verständnisschwierigkeiten bei der Rezeption von Texten Franz Kafkas hängt wohl häufig mit seiner anti-realistischen Erzählweise zusammen (vgl. Engel 2010, S.412), die aber nicht untypisch für literarische Texte der Moderne ist.

So "(widersprechen) Kafkas fiktionale Welten", wie Engel (2010, S.412) betont, "unserem Weltwissen", da in ihnen Ereignisse stattfänden, die unmöglich seien und Wesen aufträten, die es nicht geben könne. Zwar seien uns solche Abweichungen von der Realität auch aus phantastischen Texten schon bekannt, doch werde im Gegensatz zu diesen der Gegensatz zwischen der phantastischen und der realen Welt bei Kafka eben nicht erörtert.

Ein weiteres Element seiner antirealistischen Schreibweise sei das "Fehlen psychologischer Handlungsmotivationen" (ebd.). Seine Figuren seien in der Regel wenig individualisiert, und wirkten "eher als typenhafte »flache« Charaktere (»flat characters«). Trotzdem seien uns viele ihrer Handlungsmotivationen wie etwa das Streben nach Macht und Karriereerfolg, die Triebhaftigkeit oder der "Ordnungs- und Reinlichkeitsfanatismus Josef K.s" in seinem Romanfragment • "Der Prozess" durchaus bekannt. Allerdings gäbe es auch viele Handlungsweisen von Figuren, die wir uns nicht erklären könnten.

Anti-realistisch sei auch, "dass in Kafkas fiktionalen Welten die Innen-/Außenwelt-Grenze auf seltsame Weise instabil" (ebd.) geworden sei. Zudem sei, wie in zahlreichen anderen modernen literarischen Texten die Handlung nicht mehr vor allem durch temporal-kausale Verknüpfung gekennzeichnet, wie es dem "lebensweltlich tiefverankerten Sinngebungsverfahrens »Geschichten-Erzählen»" (ebd.) entspreche.

Ausdruck des deutlich reduzierten realistischen Erzählgestus Franz kafkas sei auch die Tatsache, dass seine Texte "nicht sonderlich beschreibungsintenisiv " (ebd.) seien. Es gibt also wenige Details, denen man auf gewohnten Wegen plausible Aspekte zur Figurencharakterisierung abgewinnen kann. Wenn solche Detail dennoch verwendet werden, fungierten sie als eine Art "Deutungsprovokation" (ebd., S.415), die Frage danach aufwerfe, ob sie eine symbolische Bedeutung hätten.

Es kann aber auch sein, dass "Teile des Textes im Text selbst interpretiert (werden), und zwar tatsächlich so, dass diese Deutungsakte auch gleich wieder in Frage gestellt werden." (ebd., S.416) Dieses Phänomen, das als Autoreflexivität bezeichnet wird, lässt sich bei einigen Texten Kafkas durchaus beobachten. Dass "eine stete Selbsthematisierung ihrer eigenen Unverstehbarkeit" (ebd., S.415) indessen nahezu alle seine Texte auszeichnet, erscheint Engel (2010, S.415f.) mehr als zweifelhaft. Die "Raffinesse von Kafkas Erzählverfahren" bestehe nämlich durch die in seinen Erzähltexten überwiegend genutzte personale Ich- oder Er-Erzählung, dennoch dem Leser "eine klare Einsicht in die Fehlerhaftigkeit der Perspektive der Perspektivfigur" gewähre und er mehr über diese erfahre, als sie selbst wisse oder wissen wolle. Das verhelfe dem Leser von diesem Standpunkt aus auch nach Gründen der Fehldeutung zu fragen, die die Perspektivfigur als "Miss-Deuter" (ebd., S.416) ihm nahe legt.

Jahraus (2006, S.13f.) sieht nicht zuletzt darin die "paradoxe Ambivalenz" seiner Texte: "Sie provozieren ihre Leser ungemein zu Interpretationen, und das um so mehr, je mehr sie im selben Moment genau diese Interpretation verweigern." Zugleich zieht er daraus den Schluss, dass Kafkas Werk als "paradigmatische Literatur" verstanden werden muss, die  gerade durch diese paradoxe Ambivalenz verdeutlicht, was Literatur überhaupt ist und damit "Kafkas Literatur zu Literatur schlechthin werden lässt."

Und genau hier beginnt auch die Aufgabe für den Literaturunterricht, der die besondere Qualität der Werke Kafkas als Unterrichtsgegenstand darin sehen muss, so Kammler (2005, S.199), "jene Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen, mit der Interpretationen Sinn in Geschehen hineinlegen." Dass Kafkas Prosa mit ihrer immer wieder betonten Vieldeutigkeit (semantische Polyvalenz) also gerade "ein Überstülpen einfacher Erklärungsraster über komplexe Sachverhalte" (ebd.) verweigert, ist, wenn man so will, ein literaturdidaktischer Glücksfall.

Fremdheitserfahrungen im Umgang mit literarischen Texten thematisieren

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 11.10.2024

 
 

 
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