Die Erzählerposition kann in einem Erzähltext wechseln
Der
diegetische Status des Erzählers ist, auch wenn er in vielen Fällen
klar zu sein scheint, nicht immer für einen ganzen Text auf eine einzige
Erzählerposition festgelegt.
Ohnehin scheint es so zu sein, dass sich lediglich ein
homodiegetischer Erzähler, ein
Erzähler also
der auch Figur auf der Ebene des Erzählten (Diegesis,
histoire) ist,
zweifelsfrei ermitteln lässt.
Beim
heterodiegetischen Erzählen besteht dagegen grundsätzlich immer die
Möglichkeit, dass es sich zum
homodiegetischen Erzählen wandelt. Daher empfiehlt es sich, so
Silke Lahn und Jan Christoph Meister (2013,
S.75), die Feststellung einer den ganzen Text kennzeichnenden
Heterodiegese,
bei der der Erzähler nur außerhalb des erzählten Geschehens auf der
Ebene des Erzählens fungiert, solange als vorläufige Annahme zu
behandeln, bis man einen Text bis zu seinem Ende untersucht hat.
Einzelne Textelemente bzw. Auszüge aus einem umfangreicheren Erzähltext
reichen demnach nicht dazu aus, durchgehend heterodiegetisches Erzählen
zu postulieren.
Das "Schwanken des Erzählerbildes", wie Wolf
Schmid (2005,
S.74) das Phänomen nennt, gibt es nicht nur in beide Richtungen, also
vom heterodiegetischen zum homodiegetischen Erzählen und umgekehrt, es
kann prinzipiell auch mehrfach passieren.
Auch in der älteren Erzähltheorie, die sich auf das ▪
Konzept der Erzählsituationen von
»Franz K.
Stanzel (geb. 1923) stützt, wird davon ausgegangen, dass die
Erzählsituation/Erzählperspektive sich in einem kleinen oder größeren
Textabschnitt eines umfangreicheren Textes
ändern kann. vgl. Vogt
1990, S. 52)
Beispiel: Wechsel der Erzählerposition in Wladimir Nabokovs
Erzählung "Träger Rauch" (dt. 1935)
Ein Beispiel dafür, wie die für viele
Literaturwissenschaftler für unüberschreitbar erklärte "ontologische"
Grenze zwischen
Exegesis und
Diegesis, heterodiegetischem und homodiegetischem Erzählen, dennoch
überschritten wird, zeigt das "Schwanken des Erzählerbildes" (Schmid
2005, S.74) in
»Waldimir Nabokovs (1899-1977) Erzählung "Träger Rauch" (dt. 1935),
in der ein lange heterodiegetisch wirkender Erzähler sich gegen Ende als
homodiegetischer Erzähler herausstellt und vom Leser auf diese Weise
fordert, seine ganze bisherige Rezeption umzudeuten. (vgl.
Lahn/Meister 2013, S.74)
Die entscheidende Textstelle lautet:
"[...] An dem Tisch, den das Mädchen noch vor dem
Zubettgehen für den Abendtee gedeckt hatte, saß sein Vater: Ein Finger
kraulte in seinem schwarzen graumelierten Bart; zwischen Daumen und
Finger seiner anderen Hand hielt er ausgestreckt einen Kneifer an der
federnden Klemmvorrichtung; er studierte einen großen Stadtplan von
Berlin, der an den Falzen völlig abgenützt war. Vor einigen Tagen war im
Hause von Bekannten eine leidenschaftliche, echt russische Diskussion
darüber ausgebrochen, wie man zu Fuß am besten von einer bestimmten
Straße zu einer anderen käme, wobei übrigens weder die eine noch die
andere von den Disputanten jemals frequentiert wurde; und deutete man
den Ausdruck enttäuschten Erstaunens auf dem geneigten Gesicht seines
Vaters mit den beiden rosa Achten auf den Nasenflügeln richtig, so hatte
sich jetzt herausgestellt, dass der alte Mann unrechtgehabt hatte.
«Was gibt’s?», fragte er und blickte zu seinem Sohn auf (vielleicht in
der heimlichen Hoffnung, das ich mich setze, den Teewärmer abnehme und
ihm und mir eine Tasse eingieße). «Zigaretten?», fuhr er in fragendem
Ton fort, nachdem er bemerkt hatte, in welche Richtung sein Sohn
blickte; der wollte gerade hinter den Rücken seines Vaters treten, um an
die Dose heranzukommen, die am anderen Ende des Tisches stand, aber sein
Vater reichte sie schon herüber, so dass eine momentane Verwirrung
entstand.
«Ist er weg?», kam die dritte Frage.
«Nein», sagte der Sohn und nahm eine seidige Handvoll Zigaretten.
Auf seinem Weg aus dem Esszimmer bemerkte er, wie sein Vater den ganzen
Rumpf herumwandte, um die Wanduhr zu Gesicht zu bekommen, als hätte sie
etwas gesagt, und wie er sich dann wieder zurückdrehte – aber da schloss
sich die Tür, die ich schloss, und ich sah nicht, wie es zu Ende ging.
Ich sah nicht, wie es zu Ende ging, ich hatte andere Dinge im Kopf, aber
dies eben auch und die fernen Meere von vorhin und das glühende
Gesichtchen meiner Schwester und den verschwommenen Lärm auf dem
kreisförmigen Rand der durchsichtigen Nacht – alles trug auf die eine
oder andere Weise dazu bei, dem Form zu geben, was jetzt endlich Gestalt
angenommen hatte. Mit unheimlicher Deutlichkeit, als würde meine Seele
von einer lautlosen Explosion erhellt, sah ich eine zukünftige
Erinnerung; der Gedanke kam mir, dass ich mich ebenso, wie ich mich an
gewisse Bilder aus der Vergangenheit erinnerte, etwa die Art, wie meine
verstorbene Mutter ein weinerliches Gesicht machte und die Hände an die
Schläfen presste, wenn das Gestreite bei Tisch zu laut wurde – dass ich
mich mit mitleidloser, nicht wiedergutzumachender Schärfe an den
gekränkten Ausdruck der Schultern meines Vaters erinnern würde, als er
sich in seiner von Asche und Schuppen bepudertenwarmen Hausjacke
grämlich über den zerschlissenen Stadtplan beugte, und all das
vermischte sich schöpferisch mit dem noch frischen Bild des blauen
Rauchs, der an dem toten Laub auf einem nassen Dach haftet.
Durch einen Spalt zwischen den Türflügeln nahmen unsichtbare gierige
Finger, was er hinhielt, und nun lag er wieder auf seiner Couch, aber
die frühere Mattigkeit war weg. [...]"
(aus: Wladimir Nabokov, Träger Rauch, in: ders.,
Erzählungen 1935-1951. Aus dem Englischen von Renate Gehrhart, Jochen
Neuberger und Dieter E. Zimmer, überarb. Neuausgabe, Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt 2014, S.9-18, h: S.16-18 (Auszüge, online verfügbar im
Internet:
https://images-eu.ssl-images-amazon.com/images/G/03/books/PDF/leseproben/9783498046989.pdf,
abgerufen am 2. 7.2019)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.06.2022
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