▪
Implizit-figurale Charakterisierungstechniken
▪
Die sprachliche Gestaltung
der dramatischen Rede analysieren und beschreiben
(Textinterpretation)
Eine Sprache im
Spannungsfeld zwischen Normalsprache und "Kunstsprache"
Dass Figuren in einem
▪ Drama oft anders sprechen als im normalen Leben und warum sie dabei
so
tun, als sei die Art und Weise, wie sie reden, eigentlich "ganz
normal", hat Gründe, die allgemein mit der Geschichte des Dramas
und der dramentheoretischen und ästhetisch konzeptionellen
Position des Autors/der Autorin zusammenhängen sowie mit den
Zielen, die mit der jeweiligen "Dramensprache" erreicht werden
sollen. Dabei gestalten sich die ▪
Korrespondenzbezüge zwischen Sprache und Figur(en)
historisch vielfältig.
Die
Dramensprache steht dabei "in einer widersprüchlichen Situation"
(Kretz
2012, S.115): Sie wird im Allgemeinen aufgeschrieben und
dann auf der Bühne wieder laut gesprochen. "Diese Übersetzung
von einem Medium in ein anderes färbt die Sprach immer" (ebd.),
wobei diese "Färbung bewusst verwendet und die Sprache dabei
künstlerisch mehr oder weniger auffällig gestaltet wird. (vgl.
ebd.)
Wer sich also
analytisch mit der Dramensprache befasst muss "ihrem
artifiziellen Charakter stets Rechnung" (ebd.)
tragen, selbst wenn in bestimmten Stücken "die Sprache möglichst
natürlich, möglichst »lebensecht« klingen soll" (ebd.).
Ausnahmen davon stellen dabei wohl bestimmte Stücke des modernen
»Dokumentartheaters
dar, das Berichte, Dokumente, Interviews und Gesprächsprotokolle
als Collage authentischer Quellen meistens unverändert
wiedergibt.
Die
Abweichungsqualität der dramatischen Rede von der Normalsprache
Die stark
poetisch stilisierte Sprache, wie sie z. B. in älteren ▪
Versdramen vorkommt oder
Dramen von ▪ Johann Wolfgang
von Goethe (1749-1832) und ▪
Friedrich Schiller (1759-1805) in der ▪
Literaturepoche
der ▪
Weimarer Klassik (1786-1805) auszeichnen, ist heute aus
etlichen Gründen nicht nach dem Geschmack vieler Zuschauer*innen
und Leser*innen und beileibe nicht nur der jüngeren unter ihnen.
Dies ist
eigentlich nicht weiter verwunderlich, zumal diese Sprache und
auch die Intentionen der Autoren, die dahinter stehen, auch zu
Zeiten, in denen diese Dramen verschiedenenorts aufgeführt
wurden, auch nicht dem breiten Publikumsgeschmack entsprachen.
Der elitär wirkende Sprachgebrauch gab dabei dem gebildeten
Bürgertum Gelegenheit, sich von den Inhalten und der Sprache als
trivial abgewerteter Stücke, "für die sich die »kleinen Leute«
gewöhnlich begeistern" (Bourdieu
1987, 14. Aufl. 2014, S.69) konnten, ästhetisch zu
distanzieren und seiner, nicht nur bildungsmäßig privilegierten
Stellung innerhalb der Gesellschaft einen "distinktiven
Ausdruck" (ebd.,
S.104) zu verleihen.
Aber auch der
in gewisser Weise umgekehrte Weg, die Abweichungen der
dramatischen Rede von der normalsprachlichen Rede möglichst
gering zu halten, wie das z. B. im ▪
naturalistischen Drama »Gerhart
Hauptmanns (1862-1956) der Fall ist, schafft z. B. durch den
gesprochenen ▪
Dialekt
eine Distanz zur Normalsprache der Zuschauer*innen und
Leser*innen, die darüber nicht verfügen. Die
Verständnisschwierigkeiten, die sich daraus ergeben, führen
insbesondere im Literaturunterricht der Schule zu den gleichen
Abneigungen gegen solche dramatischen Texte von seiten der
Schülerinnen und Schüler, wie es die klassischen Dramen
erfahren.
Die
Abweichungsqualität der dramatischen Rede gegenüber der
Normalsprache in ihrer jeweiligen Form und
Dimension, zu der auch historisch unterschiedliche
Konventionen der
Bühnensprache zählen, hat also, auch wenn sie mitunter von
Rezipienten als störend, sperrig und "unnatürlich" empfunden
wird, durchaus Methode. Dass sich uns
ihre auf ihrer Künstlichkeit beruhende Funktion oft nicht so einfach erschließt und sich bei uns
auch nicht jene Wirkungen einstellen, welche die Autoren
derartiger Texte in dem historisch-gesellschaftlichen Kontext
ihrer Zeit angestrebt haben, als sie ihre Dramen sprachlich so
gestaltet haben, liegt dabei in der Natur der Sache, die sich u.
a. aus der oft großen historischen Distanz ergeben.
Dramensprache
zwischen Schwulst und "natürlichem" Sprechen
In der
Geschichte des Dramas lässt sich ein sich über Jahrhunderte
hinziehender Diskurs darüber verfolgen, ob und, wenn ja, in
welchem Umfang die Dramensprache sich von der Normal- bzw.
Alltagssprache unterscheiden kann und soll. Sie kann hier nicht
umfassend nachgezeichnet werden, soll aber doch in ihren
gegensätzlichen Grundpositionen sichtbar gemacht werden.
Schon im 18.
Jahrhundert kam in Deutschland die Forderung auf, die
Dramensprache anspruchsvoller Dramen einer "natürlichen"
Ausdrucksweise anzunähern. Dabei nahmen "die deutschen
Kunstrichter des 18. Jhs. (Bodmer,
Breitinger,
Gottsched)" vor allem "die hochbarocke, manieristische »Lohensteinische
Schreibart«" (Asmuth
62004, S.76) ins Visier und werteten diese als
"Unnatur" und "Schwulst", also auf sprachlicher Ebene so
bombastisch und überladen wie so manche ▪
Barockkirche, ab.
Die Dramen von
»Daniel
Caspar von Lohenstein (1635-1683), der neben »Andreas
Gryphius (1616-1684) der bedeutendste Dramatiker der ▪
Literaturepoche
des ▪
Barock (1600-1720) war, galten bis Ende des 18. Jahrhunderts
als Beispiele schlechten Stils und von Geschmacklosigkeit
schlechthin (Alexander
1984, S.183). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
hatten Lohensteins Dramen dagegen noch als vorbildhaft gegolten.
Dass er zum "Prellbock der Literaturkritik" wurde (Asmuth,
Lohenstein (1971), S.73, zit. n.
ebd.)
lag indessen nicht allein an dem ihm vorgeworfenen schwülstigen
Stil, sondern auch daran, dass er klassische Dramenregeln nicht
einhielt und die dargestellten Charaktere mit ihrer
"Schulgelehrsamkeit" und ihrem rhetorischen Pathos insgesamt bei
den Kritikern der ▪
Aufklärung
(1720-1785) in Ungnade fielen. (vgl.
Alexander 1984, S.181)
Statt dem
barocken "Hang zum Gesuchten" (Asmuth
62004, S.77), das schon in der römischen Antike
von dem Rhetoriker ▪
Quintilian (um 35 - 96 n. Chr.) als der kapitale Fehler der
Beredsamkeit (mala affectatio, kakozelon) gebrandmarkt worden
war, sollte als eine natürliche Sprechweise auf den Bühnen
gepflegt werden. Dieser Position schloss sich auch ▪
Gotthold Ephraim Lessing
(1729-1781) an, der sich "laut eigener Bekundung immer mehr
»vor dem Schwülstigen (...) , als vor dem Platten (gehütet)« hat
(ebd.),
selbst wenn auch in seinen Dramen von einer wirklichen
Natürlichkeit der Sprache nicht die Rede sein kann und seine
Dramensprache mit ihrer Vorliebe für
Metaphern
stets "auf den Kammerton gestimmt" (ebd.)
bleibt und nie an das für das ▪
naturalistischen Drama typische, an Herkunft, Milieu und
Zeitumstände typische "natürliches" Sprechen imitierende
Dramensprache heranreicht.
Linguistische und paralinguistische Aspekte des Sprachgebrauchs
im Drama
Die dramatische Rede nutzt
linguistische und
paralinguistische Aspekte des Sprachgebrauchs.
So kann der
Sprachstil, den eine Figur pflegt, als ▪
implizit-figurale Technik sehr aufschlussreich für
ihren ▪ Charakter sein und eine
individuelle ▪ Figurenperspektive
zum Ausdruck bringen, wenn sich z. B. eine Figur
stets "gepflegt" in einer gehobenen Standardsprache ausdrückt
oder eben umgangssprachlichen "Slang" mit derben Formulierungen
benutzt.
Allerdings gilt
dies nicht völlig uneingeschränkt. Der ▪
Korrespondenzbezug
zwischen Sprache und Figur gestaltet sich nämlich mitunter,
insbesondere bei ▪ Dramen der
geschlossenen Form, durchaus komplizierter und steht dort im
Dienst der ▪
ästhetischen Homogenisierung der Sprache, was den
einfachen Rückschluss von Sprache und Sprachverhalten auf
den Charakter der Figur natürlich unmöglich macht.
-
Paralinguistische
Aspekte des Sprachgebrauchs bei der dramatischen Rede
Paralinguistische Aspekte der dramatischen Rede betreffen
die so genannten
prosodischen Merkmale der Sprache (suprasegmentale
Elemente), die in der Regel erst bei der ▪
Inszenierung auf der Bühne
von Regie und Schauspielern, passend zu der Interpretation
einer Figur im Rahmen einer Inszenierung, erarbeitet werden.
Dabei können sie aber auch als ▪
explizit-auktoriale Charakterisierung im Nebentext, den ▪
Bühnenanweisungen bzw. Regiebemerkungen, die
▪ auktorial intendierte
Rezeptionsperspektive vorgeben.
Wie diese
Aspekte aber
bei der Artikulation der ▪ dramatischen Rede genau inszeniert werden sollen, mit welcher
Stimmlage (Tonhöhe), mit welchem Stimmvolumen, mit welchem
Sprechtempo und mit welcher Akzentstruktur intoniert und
artikuliert werden soll, wird erst bei der Inszenierung des
Textes auf der Bühne festgelegt.
▪
Implizit-figurale Charakterisierungstechniken
▪
Die sprachliche Gestaltung
der dramatischen Rede analysieren und beschreiben
(Textinterpretation)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.06.2025
|