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Würde
man den jungen Mann in • Wolfgang Borcherts
Geschichte »Die
Küchenuhr« mit dem heutigen Wissenstand psychologisch
diagnostizieren, so ginge man wohl davon aus, dass er an
einer starken ▪
posttraumatischen Belastungsstörung, mit deutlichen ▪
konstriktiven Symptomen leidet. die vor noch nicht allzu
langer Zeit als Zustand des Wahnsinns bezeichnet worden ist. Er gälte
dementsprechend als psychisch krank. Sein Verhalten ist auffällig: Er zeigt
angesichts der Ereignisse der Bombennacht, die ihm seine Mutter und sein
Zuhause genommen hat, in einer heiteren Grundstimmung, weil er mit der
defekten Küchenuhr, die offenbar genau zu dem Zeitpunkt stehen geblieben
ist, als die Bombe eingeschlagen ist, in gewisser Weise auch die
fortlaufende Zeit zum Stehen gebracht hat, indem sie die Erinnerung an die
"paradiesischen" Zustände vor den tragischen Ereignissen wach hält und in
die Gegenwart einbringt.
Neben der Küchenuhr als
Symbol ist es vor allem das seltsame und auffällige Verhalten des jungen
Mannes, das die Interpreten als Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der
Geschichte ansehen.
Wilhelm
Große
(1995/2017, S.56) spricht davon, dass der junge Mann, auch wenn Borchert seinen
psychischen Zustand nicht konkret beschreibe, nach dem Verlust seiner Eltern
und seines Elternhauses unter Schock stehe und "wahnsinnig" geworden sei. Er
sei "zwar nach normalen Maßstäben verrückt, aber diese ver-rückte Position"
lasse ihn "vieles anders und damit vielleicht sogar wahrer sehen."
Orientiert an seiner von der normalen Perspektive weggerückten bzw.
ver-rückten Sichtweise, sei es "gerade der Verrückte, "der die Situation
wieder zurechtrückt" und als "Außenseiter" als der "aus der Norm Gerückte",
einer Gesellschaft aufzeige, "wie sie sich wieder ins Lot rücken kann",
selbst er dies unbewusst tue. (ebd.
S.57)
Um das Wortspiel
weiterzutreiben: Verrückt eigentlich!
So bedarf es nach Ansicht
Großes dieser ver-rückten Perspektive, dass am Ende der Geschichte doch noch
über den gegenwärtigen Zustand der Zerstörung hinausweisend, der Gedanke der
Humanität spürbar werde, die als "Möglichkeit und Notwendigkeit, einen
Grundstein für eine neue Gesellschaft" lege. (ebd.
S.57) "In der Küchenuhr", so betont er, "ist jener vergangene, paradiesische
Zustand aufgehoben im Sinne der Bewahrung; er ist in der Uhr festgestellt,
und indem die Erinnerung an das Paradies so überdauert, leuchtet das
Paradies wieder als erreichbarer Zustand am Ende des Zustandes der
Zerstörung auf. Innerhalb eines verwüsteten Ortes verweist die Uhr somit
indirekt auf eine Möglichkeit, eine humane Gesellschaft zu begründen."
Die entrückte Perspektive des jungen Mannes
Werner
Zimmermann (1962) wendet sich gegen eine
"naturalistisch-nihilistische Deutung", die die vermeintliche
Fröhlichkeit, mit der der junge Mann seine traumatischen Erfahrungen
von sich abspaltet, als "Symptome des ausbrechenden Wahnsinns" (ebd.,
S.131) verstehe. Was der junge Mann ausstrahle, sei weniger ein
Verrücktsein als ein Entrückstein (vgl. ebd.,S.133).
Die These vom
Verrücktsein bzw. Verrücktwerden widerspreche dem Symbolcharakter der
Küchenuhr. Sie gebe ihm nämlich, weil sie für die Angabe der
"normalen" ´Zeit unbrauchbar geworden sei, die Möglichkeit, "eine
andere, höhere Wirklichkeit" zu sehen, "die eben der gewohnte Ablauf
der Zeit verdeckt und die auch nicht mit dem Maß dieser Zeit zu
messen ist." (ebd.)
So zeige die Art und Weise, wie der junge Mann mit der defekten Uhr
spreche, de(n) höhere(n) Wert des Bleibenden gegenüber dem des Vergänglichen"
und damit den "Vorrang der übersinnlichen gegenüber der sinnlichen
Wirklichkeit" und verkünde auch dort und gerade dort, "das Paradies
der Liebe [...], wo äußerlich nur die Hölle der Zerstörung 'sinnlos
waltet". So gesehen erinnere
die Küchenuhr nicht nur an die in der
Vergangenheit empfangene
Liebe. Darüber hinaus werde sie zu einem geheimnisvollen Zeichen
dafür, "dass diese Liebe nun auch wirklich
ausstrahlt als unmittelbar
gegenwärtige Kraft, die
sich als so mächtig erweist, dass sie den Schmerz über den
leiblichen Tod derer, die Liebe schenkten, vergessen macht." Auf
diese Weise sei die Küchenuhr auch mehr als ein bloßes Erinnerungsstück.
Für den jungen Mann sei sie vielmehr
ein Gegenstand magischer Heilkraft. Für den Leser hingegen
stelle sie eine Chiffre dar, deren eigentliche Bedeutung sichtbar
werde, wenn man den Handlungszusammenhang in seiner symbolischen
Deutung verstehe. Damit lasse sich auch der Gegensatz zwischen
der äußeren Wertlosigkeit und dem inneren Wert der Küchenuhr in
ihrer Symbolik auflösen und mache sie als eine "verwandelnde Kraft,
[...] einer Reliquie vergleichbar" sichtbar.
Der junge Mann
selber entpuppe sich am Ende als "Tor", der "zum Weisen" werde
oder als "Wahnsinniger", der zum Hellsichtigen werde wie der
Blinde zum Seher. (vgl. ebd.)
Die Erkenntnis, die der junge Mann auf der Grundlage und in seiner
Art der Verarbeitung leidvoller Erfahrungen gewonnen habe, habe ihn
letztlich auch aus seiner Einsamkeit herausgeführt, wie die
Kontaktaufnahme mit den anderen Personen auf der Bank verdeutlicht,
mit denen er mit seiner inneren Heiterkeit über die Küchenuhr und seine
Zeit vor den tragischen Ereignissen spricht. So könne auch sein
Lachen nichts anderes bedeuten, als dass auch in ihm etwas 'kaputt'
sei.
Zugleich mache diese innerliche Zerstörung aber erst die Erleuchtung
möglich, die aus dem Toren den Weisen, aus dem Wahnsinnigen den
Hellsichtigen oder aus dem Blinden einen Seher werden lasse.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.05.2025
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