▪ Erweiterter Textbegriff
(Überblick)
Diskontinuierliche Texte: Lesekompetenz und Bildkompetenz
Diskontinuierliche Texte (auch nichtlineare Texte genannt) sind
Texte, die aus einer Kombination von grafischen und textuellen Elementen bestehen.
Teil der allgemeinen Lesekompetenz ist dabei auch die ▪
Bildkompetenz,
ohne die die komplexen Bild-Text-Beziehungen, wie sie zahlreiche
diskontinuierliche Texte auszeichnen, nicht erschlossen werden können.
Diskontinuierliche Texte, die solche Merkmale aufweisen, sind z.
B. Karten, ▪ Diagramme,
▪
Bildstatistiken,
▪ Infografiken,
▪
PR-Infografik,
▪
kartographische Infografiken,
▪
journalistische
Pressegrafik, Formulare, Tabellen, Schaubilder, ▪
Prinzipdarstellungen
usw. Diese werden gewöhnlich nichtlinear rezipiert.
Dazu kommen aber noch Mischformen aus kontinuierlichen und
diskontinuierlichen Texten. Das ist z. B. häufig in Werbeanzeigen
der Fall, bei Karikaturen und Cartoons, aber auch immer häufiger
sind z. B. komplexe Texte, die sowohl aus einem ganz "normalen"
kontinuierlichen Text und einem dazu gehörigen diskontinuierlichen
Text (Tabelle, Infografik, Bildstatistik etc.) bestehen und
aufeinander Bezug nehmen.
Diskontinuierliche Texte nützen die Vorteile der Bildkommunikation
Diskontinuierliche Texte gehen häufig einher mit einer im Rahmen der
Visualisierung von Sachverhalten angestrebten oder nötigen Vereinfachung
komplexerer Zusammenhänge.
Dabei machen sie sich die ▪
Vorzüge der
Bildkommunikation zu eigen wie die
▪
hohe
Kommunikationsgeschwindigkeit, die
▪
fast
automatische Aufnahme ohne größere gedankliche Anstrengungen, die
▪
besonders effiziente
Informationsverarbeitung durch ein Bild, die
▪
subtile Übermittlung von
Einstellungen und Gefühlen, die
▪
hohe Glaubwürdigkeit
und die
▪
hohe Anschaulichkeit und
dadurch allgemeine Verständlichkeit. (vgl. auch: ▪
Vorteile von Bild und Text)
In der Tendenz zur Reduktion
liegen auch Gefahren, wie
Haible
(o. J.,) zu Recht feststellt. So könnten nämlich "Informationen, zu
deren Erläuterung man sonst einen längeren, kontinuierlichen Text hätte
lesen müssen, auf das Wesentliche komprimiert," dazu führen, "dass
Aspekte verloren gehen oder wenig differenziert vermittelt werden. Zudem
erweckt alles, was mit Zahlen und Statistik zu tun hat, also auch die
grafisch-schematisierte Darstellung zahlenbasierter Daten, den Eindruck
von seriöser wissenschaftlicher Sachlichkeit."
Nichtzuletzt erweckten solche Darstellungen häufig den Eindruck, dass
die darin aufbereiteten Ergebnisse "für jeden ohne Vorkenntnisse leicht
zu entschlüsseln und auf einfache Weise überprüfbar" seien. Das erkläre
zwar ihre allgemeine Verbreitung und Beliebtheit, zugleich öffnet sich
damit auch ein weites Tor zur Manipulation. Denn gerade manche
Infografiken zeichneten sich lediglich durch leichte Verständlichkeit
und inhaltliche Seriosität auf der Oberfläche aus, während sie neben
reinen Sachinformationen dem Leser "auch appellative, wertende und
tendenziöse Informationen" unterjubelten.
Eine falsche Gegenüberstellung: Lesen und das angebliche Konsumieren
von Bildern
"Lesen
gilt noch heute als »gebildeter« als das Konsumieren von Bildern", beklagt
Christian
Doelker (1997/2002, S.16) zu
Beginn seiner Untersuchung nüchtern und kritisiert den modernen
Kulturpessimismus, der angesichts der wachsenden Bedeutung von Bildern in
der Kommunikation "die mittelalterlichen Bilderstürme in der modernen
Version der Bilderverachtung" fortsetze (vgl. ebd., S. 19) Seine Kritik
akzentuiert, was andernorts ebenso klar mit dem Vorwurf gesagt worden ist, dass "die meisten Schulabgänger »piktorale
Analphabeten« seien, denen es an "visual literacy" mangle (Weidenmann
1988, S.9)
Besonders zu denken geben muss, wenn der "Verbalsnobismus"
(Doelker), die kulturpessimistisch fundierte, geringschätzige Haltung in
Schule und Bildung gegenüber der Bildkommunikation fördert. Auch wenn
das Urteil Doelkers über den in der Schule gepflegten
"Buchfundamentalismus" inzwischen so jedenfalls kaum mehr
aufrechterhalten werden kann, ist der Beitrag diskontinuierlicher Texte
für den Erwerb der allgemeinen Lesekompetenz erst seit kurzem
einigermaßen unstrittig. Allerdings sind die damit einhergehenden
didaktischen Fragen noch nicht gelöst. (▪
Vorteile von Bild und Text)
Vor allem gibt es kaum wissenschaftlich fundierte Lesestrategien,
die sich in spezifischer Form auf diskontinuierliche Texten anwenden
lassen. Die entsprechenden ▪
KMK-Bildungsstandards
für den Mittleren Bildungsabschluss (Jahrgangsstufe 10),
welche die Kultusministerkonferenz vom 4.12.2003 verabschiedet hat,
differenzieren hier nicht explizit. Sie "definieren den Kompetenzbereich
pauschal" (Haible
(o. J.,) und legen zunächst ▪ "grundlegende
Verfahren für das Verstehen von Texten" fest, die für
kontinuierliche und diskontinuierliche Texte gelten. Ausdrücklich wird
von den Schülern dabei im Kompetenzbereich ▪ "Verschiedene
Lesetechniken beherrschen" erwartet, dass Schülerinnen und Schüler "flüssig,
sinnbezogen, überfliegend, selektiv, navigierend (z.B. Bild-Ton-Text
integrierend) lesen" können. Der besondere Charakter
diskontinuierlicher Texte mit ihren vielfältigen Bild-Text-Relationen
und dafür geeignete Lesestrategien, die den Besonderheiten des
Textverstehens diskontinuierlicher Texte gerecht werden könnten, sind
nicht aufgeführt.
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Erweiterter Textbegriff (Überblick)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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