Kritik am Erörtern als Konsequenz der Übermacht subjektiven Denkens?
Wer heute die freie Erörterung verteidigt, hat meistens schlechte
Karten.
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Die weit verbreitete Infragestellung der Erörterung
reicht bis hin zu ihrer grundsätzlichen Ablehnung.
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Man vermutet
dahinter "die Übermacht des subjektivistischen Denkens, die Abneigung gegenüber
umfangreicheren Aufgaben und die Angst, Erwartungen zu enttäuschen" (Matthießen
2003, S.134)
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Trotz dieser
Vorbehalte gegen das Erörtern lässt sich wohl kaum bestreiten,
dass ein Schüler, der die Fähigkeit erworben hat, "ein
bearbeitbares und gesellschaftlich relevantes Thema zu erörtern,
(...) über ein existenziell bedeutendes Instrument der
subjektiven Äußerung (verfügt), welche durch die
Berücksichtigung der einzubindenden und zu entkräftenden
Gegenstandpunkte objektiviert wird."
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Und darüber hinaus, so wird betont, nehme der Schüler
schreibend "an einem öffentlichen Diskurs teil - auch wenn er nur für einen
Korrektor schreibt - und erarbeitet sich die Kompetenz zur Teilnahme am
öffentlichen Leben." (ebd.)
Besinnungsaufsatz: Recherche im Internet nach dem Begriff
Das Internet macht's möglich. So kann, wer will, auf der
Suche nach dem, was den Besinnungsaufsatz, von dem allenthalben noch im
Zusammenhang mit dem schriftlichen Erörtern die Rede ist, eigentlich
ausmacht, im Internet nach Eingabe des entsprechenden Suchbegriffs schnell
fündig werden.
Zugleich kann eine solche Spurensuche auch verdeutlichen,
weshalb diese Aufsatzform immer mehr in die Schusslinien der Kritik geriet
und schließlich mehr oder weniger von der schulischen Bühne verschwunden
ist.
Dabei ist der Begriff keineswegs verschwunden, und selbst in moderner
Methodenbestsellern für die Unterrichtsgestaltung ist, ohne jede Scheu davon
die Rede, dass Schülerinnen zur Reflexion ihrer eigenen Erfahrungen mit
Teamarbeit in der Schule "einen Besinnungsaufsatz zum Thema
»Teamarbeit« im Umfang von einer halben DIN-A4-Seite"(!)
schreiben sollen. (Klippert
2009)
Dies ist wohl hauptsächlich einem fachdidaktisch eben nicht ganz
auf der Höhe der Zeit befindlichen Gebrauch eines Terminus geschuldet ist,
der lange schon aufs Abstellgleis geraten ist. Allerdings verbirgt sich
dahinter eben auch eine schreibdidaktisch bedenkliche Position, die in der
Produktion eines zwar wenig umfangreich anzulegenden, nichtsdestotrotz an
einem normativen Textmuster orientierten Text eine geeignete Schreibaufgabe
sieht, um das Thema zu bearbeiten. Dies kann und soll hier indessen nicht
weiter vertieft werden.

(Quelle: Der Spiegel 22/1971,S.58)
Kurze Geschichte der freien Erörterung
Die ▪
freie Erörterung ist die älteste der heute noch üblichen Grundformen
▪ erörternden Schreibens
in der Schule
und war im Laufe ihrer schulischen Vermittlung unter dem Einfluss
gesellschaftlicher Entwicklungen einem weitreichenden Wandel unterworfen.
Diese wechselvolle Geschichte kann und soll hier nicht im Einzelnen
nachgezeichnet werden. Die Geschichte des schulischen Erörterns ist dabei
eingebettet in die ▪
Geschichte des Schulaufsatzes
im Allgemeinen, die andernorts (z. B.
Ludwig 1988)
umfassend aufgearbeitet worden ist, und hier den Rahmen sprengen müsste.
Hier geht es lediglich darum, einige wichtige Aspekte auszuzeigen, die in
der Diskussion um den sogenannten Besinnungsaufsatz bis heute Bedeutung
besitzen. Der so genannte Besinnungsaufsatz gilt bis heute trotz der antiquierten
Bezeichnung immer noch als eine ▪ schulische
Schreibform des schriftlichen Erörterns. Er wird dann als eine
Sonderform angesehen, die sich vor allem mit
allgemeinen
Wertfragen auseinandersetzt. (vgl.
Fritzsche 1994,
S. 116) Dabei zeichnet sich der Begriff durch seine Nähe zur Alltagssprache
aus, worin sicherlich einer der Gründe für seine bis heute festzustellende
Verwendung ist. Das Verb "besinnen" stammt aus dem »Mittelhochdeutschen
und bedeutet dort "nachdenken", im reflexiven Sinne, "sich etwas bewusst
werden" bedeutet. Im modernen Sprachgebrauch versteht man heute darunter,
über etwas nachdenken, überlegen, sich an jemanden erinnern, sich etwas
bewusst werden, etwas bedenken oder über über etwas nachsinnen. (vgl.
DUDEN-Deutsches Universalwörterbuch, 2006) Irgendwie steckt das alles im
Konzept des Besinnungsaufsatzes. Unabhängig welcher Schreibstrategie man bei
seiner Produktion folgt, immer geht es um eine kognitive Leistungen im
Rahmen eines
(epistemisch-)heuristischen
Schreibprozess, an
dessen Ende im Idealfall ein Beitrag zur Identitätsbildung, wenn schon nicht
mehr zur althergebrachten "Charakterbildung" geleistet worden ist.
Im Nationalsozialismus löste der Besinnungsaufsatz die argumentativ
angelegte Abhandlung mit ihrem Prinzip rationaler Auseinandersetzung ab und
diente, so umfunktioniert, der Charakterbildung
der heranwachsenden Volksgenossen. Dabei war, wie Otto
Ludwig (1988,
S.404ff.) betont, der nationalsozialistische Besinnungsaufsatz nicht von
vornherein durch die Themenvorgabe explizit formulierter Gegenstände der
NS-Ideologie (Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus etc,) als
"Gesinnungsaufsatz" zu erkennen. Vielmehr sollte die Regimetreue durch die
"Haltung" zum Ausdruck gebracht werden, mit der das Thema zu
bearbeiten war. "Dass in allen Aufsätzen eine nationalsozialistische Haltung zum
Ausdruck kommen sollte, war zu selbstverständlich, als dass es noch eines
Wortes bedurft hätte."
Die Ideologielastigkeit des freien Erörterns im
Gewand des so genannten Besinnungsaufsatzes im Nationalsozialismus hat die
Diskussion um den Fortbestand des freien problem- und sachverhaltsbezogenen
Erörterns lange Zeit beschäftigt. Seit es sich in der Nachkriegszeit
freilich auch von dem an den »Humanismus
angelehnten Konzept der Charakterbildung löste, konnte es vor
allem durch seine Zuwendung zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen
Themen eine Zeitlang wieder an Boden gewinnen. Verbunden mit
empanzipatorisch-kommunikativen Zielen hatte das freie Erörtern
damit den Rahmen innerer Betrachtung gesprengt und den eigentlichen Besinnungsaufsatz,
im Prinzip, hinter sich gelassen. Doch ehe dies so weit war, mussten auch
zahlreiche Widerstände überwunden werden.
Der online verfügbar gemachte SPIEGEL-Artikel mit dem Titel »"Höchste
Werte" vom 24.05. 1971 (Nr. 22/1971) führt mitten hinein in die damals
geführte Kontroverse. Anfang der siebziger Jahre wurde vom »Bremer
Kollektiv, einer nicht genau abgrenzten Gruppe von zunächst nur in
Bremen wohnenden Deutschlehrern, eine schonungslose "Bestandsaufnahme
Deutschunterricht" (1970) vorgenommen, so auch der Titel des von »Heinz
Ide (1912-1973) 1970 herausgegebenen Buches, das sich als Teil einer in
den Jahren 1971 bis 1977 auf zwölf Bände anwachsenden Reihe mit der "Krise"
des Faches und seiner "versäumten Lektionen" auseinandersetzte.
In diesem Zusammenhang berichtet der Spiegel über den unter den Lehrkräften
Baden-Württembergs besonders deutlichen Unmut, die sich mit dem, was ihren
Schülerinnen und Schülern im Rahmen des schriftlichen Abiturs zur
Besinnung angeboten wurden, nicht mehr abgeben wollten. Deutlich wandten sie
sich gegen diese dort verlangen "moralischen Abhandlungen (...) vom
orientalischen Teespruch ('Es gibt Wahrheiten, boshafte, niederträchtige,
und Unwahrheiten, fromme, gesegnete') über ein nöliges Lamento Ortega y
Gassets ('Daß ein Mensch dem anderen dient, erscheint uns heute als eine
untergeordnete und in gewisser Weise erniedrigende Handlung') bis hin zum
pfiffig-geschäftstüchtigen Sprüchlein des US-Verfassungsvaters und
Blitzableiter-Erfinders Benjamin Franklin ('Sei höflich zu allen, gesellig
zu vielen, Kamerad mit wenigen, Freund mit einem, Feind mit keinem.')"
Eine
ganze Reihe solcher Themen sind auch in die ▪
teachSam-Themensammlung zur Sach-
und Problemerörterung aufgenommen. Was man denen, die solche Themen auch
weiterhin in der schriftlichen Abiturprüfung präferierten, entgegenhielt, brachte »Walther
Killy (1917-1995) auf den Punkt, der mit den Worten zitiert wurde: "Mit
solchen Aufgaben wird lediglich Geschwätz provoziert, Hochstapelei
kultiviert und die würdige Beschäftigung mit würdigen Gegenständen unmöglich
gemacht."
Themengruppen des Besinnungsaufsatzes
»Rolf
Gutte (geb. 1926), einer der Mitglieder des »Bremer
Kollektivs, hatte
seinerzeit 4.500 Themen unter die Lupe genommen, und war dabei im Zuge
seiner "Bestandaufnahme" zu einer bemerkenswerten am Inhalts- bzw. Weltbezug
orientierten Unterscheidung von sechs verschiedenen Themengruppen gelangt.
Dabei handelt es sich um:
-
Themen, "die zur Besinnung auf die "eigentlichen', die
"wesentlichen", die "höheren' Werte auffordern" (Beispiel: "Ordnen Sie
die Begriffe Verehrung, Respekt, Ehrfurcht, Achtung!");
-
Themen, die den "Rückzug ins Private" emporstilisieren "zu einer
tieferen Welterfahrung und zur Erfüllung menschlichen Lebens überhaupt"
(Beispiel: "Alles Unglück des Menschen kommt daher, daß er nicht ruhig
in einem Zimmer verweilen kann");
-
Themen, die beweisen, "daß das wahre Glück der Erdenkinder, die
erfüllte Innerlichkeit, bedroht ist" (Beispiel: "Am Übermaß zerbricht
der Mensch");
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Themen, die "den Verlust an "Persönlichkeit", beklagen und beim
Schüler ein "Ausweichen auf privatistische Scheinlösungen" provozieren
(Beispiel: "Kann der Mensch im Zeitalter der Massenproduktion seinem
Leben noch eine persönliche Note geben?");
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Themen, die "auf Überparteilichkeit, Ausgleich, geistige Mitte"
zielen (Beispiel: "Kritik -- ein Recht, eine Pflicht, eine Gefahr"); >
Themen, die "eine Elite autonomer Persönlichkeiten, deren Ideal eine
moralisch gedachte Vervollkommnung ist", anvisieren (Beispiel: "Drei
Feinde hat die Freiheit: das Geld, die Macht, die Masse")
-
Themen, die "zur Unterwerfung unter die Ordnungsfunktion des Staates
und damit zur Anerkennung des Bestehenden" hinführen (Beispiel: "Ist die
selbstlose Hingabe an eine Idee oder an eine dem Wohl der Allgemeinheit
dienende Sache heute noch eine selbstverständliche, sinnvolle und
sittliche Forderung?"). (vgl.
Ide (Hg.)
1970, zit. n. »Spiegel,
Nr. 22/1971, S.58)
Besinnungsaufsatz und die kommunikative Wende in der Aufsatzdidaktik
An der Schwelle zur
▪ kommunikativen Wende in den 1970er Jahren
in der Aufsatzdidaktik hatten sich zahlreiche
Lehrkräfte dem seit der Studentenbewegung an die Schule herüberwehenden
Zeitgeist angeschlossen.
Ihre kritische Analyse des Deutschunterrichts, die
den argumentativen und kommunikativen Mustern zur Infragestellung und ideologiekritischen Betrachtung althergebrachter
Wertorientierungen in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen entsprach,
hatte die "unpolitischen Bildungsziele einer angepassten
Mittelstandmentalität" (Gutte) klar im Visier.
Erörternde
Auseinandersetzungen mit aktuellen politisch-gesellschaftlichen Themen
sollten an die Stelle der moralischen Abhandlungen des herkömmlichen
Besinnungsaufsatzes treten. Die Gefahr einer zeitbedingt linkslastigen
Politisierung der Aufsatzlehre und mithin des gesamten Deutschunterrichts
ließ indessen die Gegner der neuen Ausrichtung nicht einfach verstummen. Und
auch der Begriff Besinnungsaufsatz verschwand ebenso wenig wie seine Themen
aus den Schulen. Aber auch der inhaltlich modernisierte Besinnungsaufsatz
stieß in der Praxis schulischen Schreibens schnell an seine Grenzen. Setzte
er doch das Idealbild eines jungen Menschen voraus, der im Zuge
weitreichender Politisierung des gesellschaftlichen Lebens außerhalb der
Schule, als frühreifes zoon politikon an den politischen und
gesellschaftlichen Prozessen teilhatte oder sich zumindest, wenn auch
vielleicht nur notgedrungen, damit auseinandersetzte.
So sahen sich sehr
viele Schülerinnen und Schüler auch mit den neuen Themen überfordert. Statt
auf Emanzipation und Mündigkeit in einer problem- und aufgabenbezogenen
lernstrategischen Orientierung hinzuarbeiten, waren sie schnell wieder beim
alten. Sie suchten Zuflucht in einer sozialen Abhängigkeitsbeziehung zur
Lehrperson, weil sie wussten, dass es letztlich angesichts ihres
"gymnasialen Halbwissens" und universitärer Zulassungsbeschränkungen darauf
ankam, ihren Blick allein darauf zu schärfen, "was der Lehrer wohl gern hört
und gut zensiert." (»Spiegel,
Nr. 22/1971, S.58) Kein Wunder also, dass die Klagen über solcherart
schwafelnde Heuchelei auf beiden Seiten wuchs.
Nicht nur deshalb, aber wohl
vor allem darum, schlug die Stunde der
Texterörterung, von
der man sich nicht nur die endgültige Abkehr vom alten Besinnungsaufsatz
erwartete, sondern auch die Entwicklung eines in der Auseinandersetzung mit
vorgegebenen Positionen neuen Schwung für den nun an eine Textvorlage
gebundenen, auf Erkenntnisgewinn angelegten
(epistemisch-)heuristischen
Schreibprozess
erhoffte.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
06.01.2024
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