Grundformen schriftlichen Erörterns in der Schule
Man kann drei verschiedene
Grundformen beim
schriftlichen Erörtern in der Schule unterscheiden:
Daneben gibt es eine
Reihe weiterer ▪ Formen, die man
insgesamt als ▪ schulische Schreibformen
in ▪ klassische,
▪ neuere
und
▪ freiere Formen.
Freies problem- und
sachverhaltsbezogenes Erörtern
Freies problem- und sachverhaltsbezogenes Erörtern
(▪ Problem-
und Sacherörterung) Das freie problem- und sachverhaltsbezogene Erörtern wird auch
freie Erörterung oder
textungebundene
Erörterung genannt.
-
Das
Kriterium des Sach- und Weltbezugs liegt der Einteilung zugrunde, die
Fritzsche (1994,
S. 116) vornimmt. Er unterscheidet bei der freien, weil textungebundenen Erörterung zwischen zwei
Grundtypen, der Sacherörterung und
der Problemerörterung.
Die Themenauswahl
Was die Themenauswahl für
das schriftliche Erörtern im Deutschunterricht angeht, plädiert
Fritzsche (1994,
S. 116) mehr oder weniger entschieden dafür, dass fachspezifische Themen zu
Sprache und Literatur die Regel, die Erörterung von Themen anderer Fächer
jedoch "zur Einübung der 'freien Erörterung' und um den fächerübergreifenden
Nutzen des Verfahrens deutlich zu machen" angebracht sein können.
Die in den
▪
Einheitliche Prüfungsanforderungen in
der Abiturprüfung Deutsch (
EPA 2002) dem
erörternden Erschließen zugeordneten Arbeitsformen und Aufgabentypen,
die von dem
Kriterium des anzuwendenden Erschließungsverfahrens ausgehen,
behandeln hingegen die freie Erörterung und die
freie literarische
Erörterung gleichrangig. In der schulischen
Praxis und der länderspezifischen Umsetzung der Einheitlichen
Prüfungsanforderungen hat sich aber de facto eine ganz eindeutige
Bevorzugung der freien literarischen Erörterung herausgestellt, so wie es
ursprünglich auch von Fritzsche gefordert worden ist.
-
Dabei soll sich
die freie Erörterung mit Themen von individueller
und gesellschaftlicher Relevanz befassen.
-
Die
freie literarische
Erörterung soll sich allgemeinen mit der Literaturproduktion und -rezeption
zusammenhängende Fragen zuwenden.
Die freie Erörterung
im Wandel der Zeiten
Die freie Erörterung
ist die älteste der Grundformen erörternden Schreibens
in der Schule
und war im Laufe ihrer schulischen Vermittlung unter dem Einfluss
gesellschaftlicher Entwicklungen einem weitreichenden Wandel unterworfen.
Als
▪
Besinnungsaufsatz löste sich die aus der argumentativ angelegten
Abhandlung entstandene Schreibform vor allem im Nationalsozialismus
von den Prinzipien rationaler Auseinandersetzung und wurde für die
Charakterbildung der heranwachsenden Volksgenossen umfunktioniert.
-
Dabei war, wie Otto
Ludwig (1988,
S.404ff.) betont, der nationalsozialistische Besinnungsaufsatz nicht von
vornherein durch die Themenvorgabe explizit formulierter Gegenstände der
NS-Ideologie (Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus etc,) als
"Gesinnungsaufsatz" zu erkennen.
-
Vielmehr sollte die Regimetreue durch die
"Haltung" zum Ausdruck gebracht werden, mit der das Thema zu
bearbeiten war.
"Dass in allen Aufsätzen eine nationalsozialistische Haltung zum
Ausdruck kommen sollte, war zu selbstverständlich, als dass es noch eines
Wortes bedurft hätte."
Die Ideologielastigkeit des freien Erörterns im
Gewand des so genannten Besinnungsaufsatzes im Nationalsozialismus hat die
Diskussion um den Fortbestand des freien problem- und sachverhaltsbezogenen
Erörterns lange Zeit beschäftigt.
Seit es sich in der
Nachkriegszeit
freilich auch von dem an den »Humanismus
angelehnten Konzept der Charakterbildung löste, konnte es vor
allem durch seine Zuwendung zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen
Themen eine Zeitlang wieder an Boden gewinnen.
Verbunden mit
empanzipatorisch-kommunikativen Zielen
hatte das freie Erörtern damit den Rahmen innerer Betrachtung
gesprengt und den
Besinnungsaufsatz hinter sich
gelassen.
Dies klingt auch heute noch durch, wenn
Matthießen
(2003, S. 135) ausführt: "Mit der Fähigkeit, ein bearbeitbares und
gesellschaftlich relevantes Thema zu erörtern, verfügt der Lernende über ein
existenziell bedeutendes Instrument der subjektiven Äußerung, welche durch
die Berücksichtigung der einzubindenden oder zu entkräftenden
Gegenstandspunkte objektiviert wird. Der Schüler nimmt mit seinem Schreiben
an einem öffentlichen Diskurs teil - auch wenn er nur für einen Korrektor
schreibt - und erarbeit sich sie Kompetenz zur Teilnahme am öffentlichen
Leben."
Schreibziel:
Selbstaufklärung in einem auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten
Schreibprozess
Angesichts der besonderen Bedingungen der Kommunikationssituation beim
schulischen Schreiben dient
das problem- und sachverhaltsbezogene Erörtern vor allem der eigenen
Selbstaufklärung im Zuge eines auf Erkenntnisgewinn ausgelegten
Schreibprozesses.
-
Hierzu bedient es sich eines bestimmten Textmusters (Textmusterwissen,
Textstrukturwissen).
-
Im Vordergrund stehen die zu erbringenden
kognitiven Leistungen in den verschiedenen Teilbereichen der
Schreibkompetenz (Zielsetzungskompetenz,
inhaltliche Kompetenz,
Strukturierungskompetenz und
Formulierungskompetenz).
-
Ebenso wichtig sind davon abgeleitete Qualitätsmerkmale wie Logik bzw.
Plausibilität der vorgebrachten Argumente oder, textlinguistisch formuliert,
die Herstellung von Kohärenz.
-
Die
kommunikative Funktion des Textes erschöpft sich weitgehend an bestimmten Stil- und
Ausdrucksfunktionen (z. B. Standardsprache, sachlich-nüchtern und
distanziert wirkender Stil ohne spürbare emotionale Beteiligung) und zeigt
sich in einer dem Text selbst zugeschrieben
Textverständlichkeit.
Die
produktorientierte Schreibdidaktik
Die
produktorientierte Schreibdidaktik, die dem möglichst
textmusterkonformen Schreiben die höchste Priorität
gibt, bevorzugt eine Methodik, die den Schreibprozess beim
erörternden Schreiben in Teilprozesse mit entsprechenden ▪
Arbeitsschritten
zerlegt.
Zu diesen zählen z.
B.
▪ Schritt-für-Schritt-schreiben,
zumindest freilich eine
▪
planende Schreibstrategie,
ist nötig, um den
normativen Erfordernissen beim ▪ erörternden Schreiben gerecht werden zu können. Allerdings kann
das Ganze, jedenfalls wenn es im Rahmen der schulischen Aufsatzsituation –
ohne die Möglichkeit einer vorgeschalteten oder in den
Schreibprozess selbst
eingebundenen Recherche – oft kaum über
knowledge telling hinausgehen.
Und wer
schriftlich erörtert, ist, nicht anders sind die immer wiederkehrenden
Klagen von Schülerinnen und Schüler zu verstehen, gut beraten, wenn er den
mehr oder weniger vorgeschriebenen "Ablauf- und Organisationsschemata"
(Ortner 2000/2002) folgt, mit denen sie die gestellten
Schreibaufgaben in
einer ▪ sozialen Abhängigkeitsorientierung am erfolgversprechendsten zu
bewältigen glauben.
Die "klassische" Texterörterung, auch textgebundene Erörterung genannt, kann
als ▪ schulische Schreibform nicht auf so eine lange Geschichte
wie die Problem- und Sacherörterung verweisen. Sie
fand in der heute üblichen Art erst in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Eingang in den
schulischen Aufsatzunterricht.
Als der ▪"
Besinnungsaufsatz
“, wie das nun ganz
im
Sinne Humboldts auf die Innenschau festgelegte problembezogene Erörtern von Wertfragen zur eigenen Gewissenserforschung
genannt wurde, in Öffentlichkeit und im didaktischen Diskurs mehr und mehr
in die Defensive geriet, wollte man mit dem Bezug des Erörterns auf
geeignete
Texte dem schriftlichen Erörtern eine
inhaltliche Grundlage geben.
Ungeachtet dieser Ausrichtung des Erörterns
auf einen bestimmten Text konnten die prinzipiellen Schwierigkeiten, die
Schülerinnen und Schüler zeigten, wenn sie mit dieser Schreibaufgabe
konfrontiert wurden, nicht einfach durch die Rückbindung des Erörterns an
eine Textvorlage gelöst werden.
Denn im Grunde täuschte die Vorgabe eines
Textes, dessen zentrale Aussagen zu erörtern waren, darüber hinweg, dass
damit maßgebliche Mängel nicht beseitigt werden konnten.
Auch weiterhin hatten Schülerinnen und Schüler Defizite bei der
erforderlichen inhaltlichen Kompetenz im Bereich eines Welt- und
bereichsspezifischen Wissens und es stellten sich auch kaum Fortschritte in den
anderen Teilbereichen der Schreibkompetenz ein.
-
Im Gegenteil,
mangelndes Textmusterwissen/Textstrukturwissen setzt oft schon bei der
Analyse des Referenztextes und seiner inhaltlichen und argumentativen
Strukturen deutliche Grenzen und führt dazu, dass die Schülerinnen und
Schüler, oft ohne sich das nötige (Text-)Wissen verfügbar machen zu können,
zu einer x-beliebigen Äußerung des Textes ihre Meinung abgeben.
-
Da es zudem
für sie angesichts der meist anspruchsvollen, dazu noch oft sehr ausgewogen
argumentierenden Textvorlagen kaum möglich ist, mit ihrem eigenen Welt –und
bereichsspezifischen Wissen anders als immer nur floskelhaft beipflichtend,
"dazwischen zu kommen", gewinnen Strategien zur Bewältigung der
Schreibaufgabe mehr und mehr an Bedeutung, die sich auf die paraphrasierende
Wiedergabe des Gedankenganges im Referenztext konzentrieren. (vgl. auch:
"Reibetexte": Methodisch-didaktische
Modellierung und Redigierung von Texten)
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Die
eigentliche Erörterung der zentralen Textaussagen bleibt, da sich dazu
bestenfalls noch etwas aus der mehr oder weniger subjektiv gefärbten eigenen
Erfahrungswelt sagen lässt, damit oft auf der Strecke und muss mit ein paar
wenigen, eher marginalen Randnotizen auskommen.
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So korrespondiert die
mangelnde inhaltliche Kompetenz, selbst dann noch, wenn man auf "Allerweltsthemen"
und Themen aus der jugendlichen Erfahrungswelt zurückgreift, mit deutlichen
Schwächen im Bereich der
Zielsetzungs-,
Strukturierungs- und
Formulierungskompetenz).
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Vieles von dem, was in Kommentaren einschlägiger und
renommierter Tages- und Wochenzeitungen zur Erörterung angeboten wird, lässt sich eben auch beim besten Willen kaum auf den persönlichen
Erfahrungshorizont von Schülerinnen und Schülern "herunterbrechen", von denen
die welt- und schreiberfahrensten zudem wissen, dass man dabei nur
"dilettieren" kann oder gar dem Vorwurf mangelnden Textbezugs ausgesetzt
werden kann.
Wegen dieser grundsätzlichen Kritik, aber auch vor allem wohl wegen der im
Gefolge der Pisa-Studien entstehenden Diskussion um die
Lesekompetenz, ist
das Konzept des ▪ erörternden Schreibens um eine neue Form erweitert worden.
Die »Pisa-Studie, "die
bekanntlich den Begriff der
Lesekompetenz aus der Fähigkeit zur
Informationsentnahme und –auswertung definiert und dabei von einem
Textbegriff ausgeht, der lineare und nichtlineare Texte (kontinuierliche
und diskontinuierliche Texte, d. Verf.) umfasst, also neben
Sachtexten auch
mediale Darstellungen wie Statistiken und Diagramme“ (ISB (Hg.) 2010,
Bd. 1, S.146), hat dabei die Richtung gewiesen und den
entsprechenden Handlungsdruck erzeugt.
Außerdem haben sich im
Gefolge des ▪ materialgestützten
Erörterns auch die so genannten ▪ freieren Formen des Erörterns in der Schule
etabliert wie z. B. Essay,
Kommentar,
Glosse,
Rede bzw.
Redebeitrag.
Text- und
Bildmaterial als Grundlage eines problemlösenden Schreibens
Beim
materialgestützten (auch dossiergestützten) Erörtern
werden den
Schülerinnen und Schülern im Rahmen der
Schreibaufgabe
eine Anzahl von
kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Texten angeboten, die ihnen helfen
soll, ihre Argumentation zu einem Thema/Problem/Sachverhalt auf eine
solidere Basis zu stellen.
Zugleich soll sie ihren Schreibprozess, der mithin auch die
Recherche umfassen soll, von umfangreicheren Recherchearbeiten, z. B. im
Internet oder unter Heranziehung anderer Quellen, entlasten.
Vorbei also
die Zeit, als sich die jugendlichen Schreiber ihre Argumente aus
den Fingern saugen mussten, wenn ihnen nur der Rückgriff auf ihr oft zum
Gegenstand der Erörterung keineswegs passendes Vorwissen blieb.
Materialgestütztes
Erörtern in einem prozessorientierten Schreibprozess
Erörterndes
Schreiben, das die Recherche zu Thema und Textmuster als Teil eines
prozessorientierten Schreibens versteht, lässt sich auch im Unterricht
durch Schaffung einer dazu geeigneten situativen, möglichst multimedial und
mit Möglichkeiten zur Online-Recherche ausgestatteten Lernumgebung umsetzen.
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Wichtig ist vor allem auch eine motivierende
Schreibaufgabe, die sich
möglichst an den (auch medialen) Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler
orientieren sollte. (Lebensweltbezug)
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Außerdem sollte das Schreibhandeln in Form eines problemlösenden Schreibens gestaltet sein, das auf möglichst reale oder der
Realität nachempfundene Kommunikationshandlungen (situatives Schreiben) bezogen werden kann.
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Unter
diesen Voraussetzungen ist es durch den Einbezug fremder bzw. neuer
Gesichtspunkte aus den zur Schreibaufgabe zählenden Materialien auch für
schwächere Schüler eher möglich, einen eigenen Standpunkt zu einem
bestimmten Thema zu erarbeiten. Zudem lassen sich dafür auch verschiedene
Kompetenzniveaus beschreiben.
Die Rolle des
Materials
Beim materialgestützten Erörtern ist
das Material selbst, oft ein besonders
herausgestellter "Kerntext" umgeben von weiteren Materialien, nicht
Gegenstand der Erörterung, wie dies bei der "klassischen" Texterörterung
erwartet wird.
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Dementsprechend
muss man beim Abfassen seines Textes auch keinen klaren und eindeutigen,
expliziten Bezugs
auf die unterschiedlichen Texte (Textbezug)
nehmen.
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Allerdings: Wenn auch der Stellenwert des Textbezugs
nicht mehr so hoch ist wie bei der Texterörterung, sollen die Ergebnisse, die bei
der Informationsentnahme und Analyse der Materialtexte gewonnen wurden, in
die eigene Stoffsammlung wie in die Ausgestaltung der Argumentation
"einfließen“ (vgl.
ISB (Hg.) 2010, Bd. 1, S.147).
Dies kann jedoch implizit
oder explizit erfolgen. Kommt es zu einer
expliziten Bezugnahme auf den Text, müssen die Regeln des
Textbelegs und der
Zitation beachtet werden.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
06.01.2024
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