Ganz allgemein lässt sich die
literarästhetische Rezeptionskompetenz
als Teil der ▪
literarischen bzw.
literarästhetischen Kompetenz
auffassen.
Sie steht dabei für die Fähigkeit, die spezifische ästhetische Eigenart
literarischer Werke wahrzunehmen, in einem textnahen sprach- und
formbewussten Umgang mit Literatur bis hin hin zu gattungsspezifischen
Zielen und Inhalten adäquat zu verstehen und damit die Voraussetzung für die
Teilhabe an dem Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung über
Literatur zu schaffen.
Literarisches Lernen
und literarische Kompetenz
Der Begriff des
literarischen Lernens ist nicht mit dem Ziel literaturästhetischer
Bildung im Allgemeinen gleichzusetzen, lässt dieses Lernen doch auch
andere Zugänge zur Literatur in der Schule zu als mit dem Fokus auf
primär sprachlich-ästhetische Phänomene.
Allgemein fungiert
der Begriff wohl als eine Art ▪
Sammelbegriff für
alles, was ▪
literarisches Lesen zur Persönlichkeitsbildung beitragen
kann. (vgl. Büker
2002, S.130) In diesem Sinne kann man literarisches Lernen auch
als "schulische Lehr- und Lernprozesse zum Erwerb von Einstellungen,
Fähigkeiten, Kenntnissen und Fertigkeiten" auffassen, "die nötig
sind, um literarisch-ästhetische Texte in ihren verschiedenen
Ausdrucksformen zu erschließen, zu genießen und mit Hilfe eines
produktiven und kommunikativen Auseinandersetzungsprozesses zu
verstehen." (ebd.,
S.121)
Aspekte der
literarästhetischen Rezeptionskompetenz (Kaspar H. Spinner)
In der Literaturdidaktik wird die
literaturästhetische Rezeptionskompetenz in eine Vielzahl von Teilkompetenzen unterteilt.
Dabei steht der Begriff stets auch im Zusammenhang mit den Begriffen
literarischer Bildung und dem so genannten literarischen Lernen.
Die prominenteste
Unterteilung geht dabei auf »Kaspar
H. Spinner (geb. 1941) (2006) zurück, der elf Aspekte
"literarischen Lernens" benannte, die in der Folge in der
Fachwissenschaft viel diskutiert wurde. Dabei schließt er soziales
und ethisches Lernen aus. (Abraham/Kepser
(42016, S.114) und lässt die literarästhetische
Produktionskompetenz ebenso wie die Befähigung zum kritischen Lesen
durch Erwerb einer Wertungskompetenz außen vor.
Auch seine
Terminologie scheint nicht immer gut gewählt. So wird ihm u. a.
vorgehalten,
-
dass er
»kognitiv« als Gegenteil von »imaginativ“ oder »empathisch« (im
Zusammenhang mit seinen Aspekten
8 und
10) verwendet, obwohl die menschliche Kognition stets auch
Affekte und Emotionen umfasst. Treffender wäre, nach Ansicht von
Maiwald
(2015, S.87) hier wohl der Terminus diskursiv.
-
dass er seinem
Aspekt "Beim
Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln" "eine didaktisch
normative und zudem wunschbildhafte Vorstellung literarischer
Rezeption zugrunde" liegt, die mehrfach zutage tritt, wenn der
beschreibt, was ein Leser bei der Rezeption tun "muss" und der
Eindruck vermittelt wird, dass eine Rezeption "ohne komplettes
Ausfantasieren der fiktionalen Welt" (ebd.)
wenig Wert habe. Genau das müsse nämlich ein Romanleser z. B. zunächst überhaupt
nicht, der für das Verstehen des Textes zunächst nichts anderes
tun müsse, als ein hinreichend komplexes mentales ▪
Situationsmodell der erzählten Welt zu konstruieren. In
keinem Fall müsse er sich jede Landschaft, jeden Gegenstand,
jedes Geräusch vorstellen. (vgl.
ebd.)
In die nachfolgende
tabellarische Aufstellung haben wir die soziale (S = Sozialisation)
und die kulturelle Bedeutsamkeit (E = Enkulturation), wie sie das
Grundmodell
von
Abraham/Kepser
(42016, S.27, S.117f.) vorsieht, integriert.
Was hier in der
Beschreibungsspalte zusammengetragen wurde, geht über das von
Spinner (2006)
und im Anschluss
Abraham/Kepser
(42016, S.27, S.117f.) Formulierte hinaus und bezieht
aus pragmatischen Gründen auch weitere Aspekte aus
konstruktivistischen Theorien zum Verstehen von Texten ein.
1 |
Beim
Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln |
-
Imaginationsfähigkeit
-
innere
Bilder entstehen lassen
-
in der
Teilöffentlichkeit der Schule darüber kommunizieren
(S)
-
die
Rezeptionsgeschichte reflektieren und Bezüge zur
eigenen (inneren) Wahrnehmung herstellen
(E)
|
2 |
Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander
ins Spiel bringen |
-
Fähigkeit, in einen Text "einzutauchen"
-
Lesen genießen
-
persönliches Angesprochensein und das, was der Text
offeriert (Textangebot), sollen sich in einem Prozess
steigern
-
Bezüge zu eigenen Erfahrungen zulassen oder herstellen
-
Selbstreflexion, die vom Text ausgeht, in die
Kommunikation mit anderen einbringen
(S)
-
eigene
Lesebiografie als Form kultureller Teilhabe auffassen
(E)
|
3 |
Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen |
-
Präferenzen für bestimmte Arten und Stile poetischer
Rede entwickeln
-
Alltagssprache und ästhetisch gestaltete Sprache
unterscheiden können
-
die
sprachlich-ästhetische Gestaltung des Textes in ihrem
Funktionszusammenhang von Inhalt, Aufbau und Sprache
erkennen und dafür eine entsprechende
motivationale und
volitionale
Bereitschaft ("Entdeckerfreude" (Spinner)) entwickeln
-
literarische Texte akustisch, visuell oder szenisch
präsentieren und damit zum Gegenstand der Kommunikation
machen; verschiedene Textpräsentationen beurteilen
(S)
-
sprachliche Gestaltung (im kulturellen Kontext)
aufmerksam wahrnehmen von
Abraham/Kepser
(42016, S.117 dem Bereich der
Enkulturation zugeordnet) (E)
|
4 |
Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen |
-
Empathie
durch
Identifikationsprozesse entwickeln
-
Fremdverstehen durch Alteritätserfahrungen (kulturelle,
ethnische, religiöse, weltanschauliche; Einschränkungen
persönlicher Art, z. B. Behinderungen; unterschiedliche
geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen) ermöglichen,
-
Komplexität und Widersprüchlichkeit erfahren, um zu
einer gesteigerten Selbstreflexion zu gelangen
-
Übernahme
von Perspektiven der Protagonisten als Angebot zur
Erweiterung der eigenen Sicht auf die Welt nutzen
(S)
-
literarische Figuren als Repräsentanten bestimmter
historischer, sozialer oder mentaler begreifen
(E)
|
5 |
Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen |
-
innertextliche Sinnbezüge herstellen, die ▪
Textbasis in der Text-Leser-Interaktion erfassen und
ein kohärentes Textverständnis entwickeln, ein ▪
Situationsmodell des Textes, das mit dem eigenen
Vorwissen "angereichert" worden ist, für die Sinnbildung
konstruieren
-
mit
anderen über die eigene Kohärenzbildung auf lokaler und
globaler Textebene kommunizieren
(S)
-
narrative
und dramaturgische Handlungslogik verstehen (von
Abraham/Kepser
(42016, S.117 dem Bereich der
Enkulturation zugeordnet) (E)
|
6 |
Mit
Fiktionalität bewusst umgehen |
-
Beziehungen zwischen außerliterarischer Realität und
Fiktion herstellen
-
zwischen pragmatischen (Sachtexten, nichtfktionale und
literarischen (fiktionalen) Texten unterscheiden können
-
den
fiktionale Welt mit ihren Elementen verstehen und
imaginativ ausgestalten
-
über die
literarischen Weltentwürfe mit anderen kommunizieren und
ihren Bezug und ihre Bedeutsamkeit für die eigene
Realität beurteilen, ohne die fiktionale Welt als Abbild
der Wirklichkeit zu verstehen
(S)
-
mit
Fiktionalität bewusst umgehen (von
Abraham/Kepser
(42016, S.117 dem Bereich der
Enkulturation zugeordnet) (E)
|
7 |
Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen |
-
zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung
unterscheiden können
-
Metaphern
und Symbole
in literarischen Texten verstehen und deuten
-
Metaphern
und Symbole im Alltagsleben wahrnehmen und darüber
kommunizieren (S)
-
Uneigentlichkeit und uneigentliche Rede als besonderen
ästhetischen Zugang zu Welt begreifen und schätzen
(E)
|
8 |
Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses
einlassen |
-
die
prinzipielle Mehr- bzw. Vieldeutigkeit (Polysemie)
literarischer Texte verstehen und akzeptieren
-
sich über
andere Sichtweisen und Lesarten austauschen und als
gleichberechtigt zulassen (S)
-
Wertungen
vornehmen; unterschiedliche Lesarten als Beiträge zum
Diskurs über Literatur begreifen
(E)
|
9 |
Mit
dem literarischen Gespräch vertraut werden |
-
einen
literarischen Text mit der eigenen Lebensführung in
Beziehung setzen und diese expressiv, erörternd etc.)
artikulieren
-
mit dem
▪ literarischen Gespräch
vertraut machen (von
Abraham/Kepser
(42016, S.117 dem Bereich der
Sozialisation) zugeordnet) (S)
-
Literatur
als Ergebnis eines kulturellen Aushandlungs- und
Verständigungsprozesses begreifen
(E)
|
10 |
Prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres gewinnen |
-
Präferenzen für bestimmte Gattungen und Genres
entwickeln
-
über
Präferenzen und ▪
Lesemodi
mit anderen sprechen (S)
-
prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres
gewinnen (von
Abraham/Kepser
(42016, S.117 dem Bereich der
Enkulturation zugeordnet) (E)
|
11 |
Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln |
-
literarische Texte als historisch und als Reaktion auf
Vergangenes begreifen
-
eigene
Vorstellungen zu Epochen und verschiedenen historischen
oder zeitgenössischen Strömungen der Literatur bilden
-
zu den
literarischen Produkten und anderen Merkmalen bestimmter
Epochen in der Kommunikation mit anderen Interesse,
Ablehnung o. ä. bekunden (S)
-
literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln (von
Abraham/Kepser
(42016, S.117 dem Bereich der
Enkulturation zugeordnet) (E)
|
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
24.12.2023
|