In Kafkas
Prosastück ▪ "Auf
der Galerie" kommt dem Titel eine besondere Bedeutung zu. Auch
wenn das Geschehen, das sich im Zirkusrund abspielt, im Mittelpunkt
der kurzen Erzählung steht, hat Franz Kafka nicht dieses zur
Titelgestaltung genutzt und den Text etwa mit "Im Zirkus" oder "In
der Arena" etc. überschrieben.
Da der Titel als
Mittel der Rezeptionslenkung durch den Autor zu verstehen ist, hat
Kafka also damit ganz bewusst auf das "Geschehen" aufmerksam
gemacht, das sich oben auf der Galerie abspielt, wo im obersten Rang
die Plätze am billigsten, weil von der Manage am weitesten entfernt
sind, während unten in
der Manege die Zirkusnummer der Kunstreiterin vorgeführt wird.
Mit dem Titel wird
im Text ein Bezugspunkt innerhalb der Erzählung geschaffen. Zugleich
wird damit aber auch eine Erwartungshaltung beim Leser aufgebaut,
"der eine Schilderung der Handlungen oder Zustände eben auf dieser
Galerie erwartet"
Hermes
(1994/2003, S.219) , die allerdings vom Text nicht eingelöst
wird, weil dieser im Folgenden die Manege und das sich darin
ereignende Geschehen in den Mittelpunkt rückt.
"Was dort oben
geschieht", betont Jürgen
Kobs (1970, S.79, zit. n.
Bekes 1988a,
S.17f.), "ist wichtiger und 'wirklicher' als die Vorgänge in der
Manege; durch den im Titel selbst festgelegten Fluchtpunkt gewinnt
das Stück seine perspektivische Einheit." Daher ist, wie
Bekes (1988a,
S.18) an gleicher Stelle fortfährt, "die Perspektivfigur des
Galeriebesuchers" auch der Bezugspunkt der Analyse, denn "an ihr
erprobt der Erzähler [...] verschiedene Seh- und Denkweisen der
Wirklichkeit."
Auf der Galerie
oben ist der junger Galeriebesucher aber herausgehoben aus der Masse
des sonstigen Publikums, weil er nicht nur das Geschehen in der
Manege, sondern auch das Verhalten des Publikums beobachtet. In
gewisser Weise wird er damit ein Beobachter zweiter Ordnung, der
selbst aber wiederum von dem Erzähler als Beobachter dritter Ordnung
aus einer den beiden anderen Perspektiven übergeordneten Perspektive
beobachtet wird. (vgl.
Niehaus
2010, S.74)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.10.2024