Eine schwierige Abgrenzung
Was für die Wissenschaft insgesamt schon eine Herausforderung ist,
nämlich genau zwischen den Begriffen zu differenzieren, die im weitesten
Sinn bildhafte Zeichen darstellen, ist unter literaturdidaktischer
Perspektive
auch nicht annähernd zureichend zu leisten. Betroffen ist dabei die ▪
trennscharfe Abgrenzung von bildhaften
Zeichen, die über sich hinausweisen wie z. B. Symbol, Metapher,
Allegorie, Emblem oder Metonymie, aber auch die ▪
Unterscheidung von Begriffen wie Motiv,
Stoff und Thematik.
Pointiert zusammengefasst lässt sich hinsichtlich der Abgrenzung von
Stoff, Thema und Motiv sagen, dass das Motiv die kleinste
strukturbildende und bedeutungstragende (semantische) Einheit
bildet, "der Stoff sich aus einer Kombination von Motiven
zusammensetzt und das Thema die abstrahierte Grundidee eines Textes
darstellt." (Christine
Lubkoll, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 5. Aufl.
2013, S.542f.)
Literarische Motive können allerlei: Sie strukturieren einen Text
und beeinflussen, wie er rezipiert wird
Literarische Motive sind so etwas wie
ganz allgemeine Vorstellungen über bestimmte Situationen oder
Sachverhalte, die sich über unterschiedliche Dichtungen hinweg immer
wieder zeigen. So kann z. B. das Insel-Motiv, die Vorstellung also, dass
jemand oder eine Gruppe von Menschen isoliert von anderen auf einer
Insel leben, in allen möglichen
literarischen
Texten gestaltet sein. Und trotzdem beruht es auf einer in allen
konkreten Gestaltungen gemeinsamen Grundidee darüber, was es ausmacht.
Die Zahl literarischer Motive ist dabei fast unüberschaubar und
Gegenstand einer eigenen wissenschaftlichen Teildisziplin.
Bei der schulischen
Textinterpretation
können ▪ literarische Motive
eine wichtige Rolle spielen, auch wenn sie kaum auf einer text- oder
gattungsübergreifenden vergleichenden Analyse beruhen dürften. Dafür
müsste man verschiedene Gestaltungen des Motivs im Werk eines Autors
bzw. einer Autorin, in den unterschiedlichen
Literaturgattungen
und zu verschiedenen Zeiten heranziehen.
So führt die Berücksichtigung literarischer Motive im schulischen
Literaturunterricht häufig ein Schattendasein. Mit dem
teachSam-Arbeitsbereich zum sogenannten ▪
Robinsonmotiv haben wir ein Beispiel die unterrichtliche
Beschäftigung mit einem in der Literatur und den Medien immer wieder
gestalteten Motiv zusammengestellt.
In der
traditionellen Erzähltheorie
versteht man unter Motiven inhaltliche Elemente, die in
verschiedenen literarischen Gattungen
räumlich, zeitlich und figural gleich bleiben, aber in den Literaturgattungen und den konkreten
literarischen Texten verschieden umgesetzt werden können.
Was leisten Motive?
Motive werden von einem Autor bzw. einer Autorin eines
literarischen Textes in der Regel sehr bewusst in einen Text
"eingebaut". Werden sie vom Leser bei der Rezeption wahrgenommen,
können sie bei jedem einzelnen Leser - bewusst oder unbewusst -
Assoziationen
aufrufen, die mit diesen Motiven verbunden werden. Oft sind dies
auch Vorstellungen, die in der Gesellschaft in einer bestimmten Zeit
über ein bestimmtes Phänomen weit verbreitet sind. In diesem Fall
spricht man von Konnotationen.
In einer Erzählung können Motive darüber hinaus verschiedene Funktionen
haben. Sie können
-
die
Erzählung strukturieren, indem sie mehrmals oder immer wieder
auftauchen und damit das, was da jeweils erzählt wird,
miteinander in Beziehung setzen (tun sie das systematisch,
spricht man von einem
Leitmotiv)
-
ein Geschehen
einfach nur veranschaulichen und damit gewissermaßen
illustrieren
-
Spannung erzeugen
-
eine allgemeine
und abstrahierte Richtung vorgeben, wie der Text nach Ansicht
des Autors bzw. der Autorin verstanden und interpretiert werden
kann (Steuerung und Lenkung der Rezeption)
Dass die Begriffe
▪ Thema, Stoff und Motiv häufig nicht einfach voneinander abgegrenzt
werden können, sollte man im Umgang mit dem Begriff zumindest
wissen.
Nicht nur
Motive finden, sondern sie auch im
Funktionszusammenhang beschreiben
Das
Identifizieren von literarischen Motiven in einem literarischen Text
ist kein Selbstzweck. Wer sich mit ihnen im Rahmen der schulischen
Textinterpretation
befasst, sollte sie in ihrer Funktion für das Textganze beschreiben
können. Die schulische Motivanalyse ist also stets der
Textinterpretation untergeordnet, zu der sie allerdings wichtige
Beiträge leisten kann.
Wer also Motive in seiner
Textinterpretation
verwenden will, sollte stets danach fragen, welche
Funktion(en) (s. o.) sie für das Textganze
haben und sie unter Berücksichtigung dieses Aspekts beschreiben.
Natürlich sind die sprachlichen Mittel,
die in einem Text zu finden sind, nicht
gleichermaßen für die Gestaltung der Aussage von Bedeutung. Daher
konzentriert man sich also am besten auf die sprachlichen,
stilistischen und rhetorischen Mittel, deren Funktion einem klar ist
und begnügt sich bei anderen mit knappen Randbemerkungen.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.11.2024
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