Dass man Texte
unterschiedlich schnell lesen und dabei doch den Inhalt hinreichend zu
erfassen kann, demonstriert das sogenannte »Schnelllesens (Speed Reading).
Dabei
hat das Bestreben, möglichst schnell Informationen aus verschiedenen
gedruckten Büchern zur Hand zu haben und zu lesen, schon vor und nach
der Erfindung des Buchdrucks den Erfindergeist beflügelt, wie das
Leserrad von
Agostino Ramelli (1531-1600) aus dem 16. Jahrhundert zeigt, als
Bücher zum Teil noch viele Kilogramm schwer waren. Manche sehen darin
auch eine Art von analogem Hyptertextsystem, bei dem, wie er selbst
anlässlich der Präsentation seiner Erfindung 1588 in Paris sagte, "ein
Mann (...) eine größere Anzahl von Büchern lesen (kann), ohne sich vom
Platz zu bewegen." (zit. n. Karin von Behr, Ein Bett für Zettels Traum,
Über Leseräder, Schmökersessel, Büchersofas und andere Möbel zur
Lektüre, in: SZ v. 15./16.3.1986)
Natürlich haben
Lesemaschinen wie von Ramelli mit dem, was heute als Speed Reading
verkauft wird, nicht viel zu tun, aber hinter beidem steht doch ein
Geschäftsmodell.
Beim Speed
Reading jedenfalls scheint dies durchaus auch ein lukrativ zu sein. Unzählige Kurse
zum "Power Reading", "Turbolesen", "Scan Reading", "Alpha Reading" oder
"Improved Reading" machen aus der Not vieler Menschen, die in engen
Zeitplänen gefangen und unter "einem strikten Zeitregiment" einer rundum
"bewirtschaftete(n) Zeit" leben (Safranski
2015, S.106) und im Gefühl der Zeitknappheit Zeit gewinnen wollen,
eine Tugend. Sie versprechen, gegen eine stattliche Kursgebühr versteht
sich, mit Abstandsregeln (Augenabstand zum Text soll 40 cm betragen),
der Aufforderung den Text weder laut noch gedanklich mitzusprechen und
allerhand a
nderer Tipps das Lesetempo normaler Leserinnen und Leser zu
verdoppeln, wenn nicht gar zu verdreifachen.
Dieses rein
leseökomisch ausgerichtete Lesen, das als kompetitives Lesen in
Wettbewerben institutionalisiert und kultiviert wird, bringt zum Teil
erstaunliche Schnellleser hervor, die mit
600 bis 700 Wörtern pro Minute etwa doppelt bis dreimal so schnell lesen
wie der durchschnittliche Leser. Dabei sollen sie trotz des hohen
Lesetempos den wesentlichen Teil des Textes, was immer da gemessen wird,
erfassen.
Offenbar reicht aber
auch die Anwendung von ▪ Lesetechniken,
bei denen man den Text von vornherein nicht als Ganzes ▪
sequenziell oder
▪ intensiv lesen will und liest, z. B. beim ▪
orientierenden und ▪
diagonalen Lesen,
aus, um die Lesegeschwindigkeit bei gleichzeitigem Erfassen von
bestimmten Textstrukturen und Inhalten effektiv zu erhöhen. Und wird der
Text ▪ suchend oder ▪
punktuell mit einem bestimmten
Suchraster bzw. bestimmten Suchbegriffen gelesen, gilt dies um so mehr.
Schnelllesende Überflieger/-innen von Texten heranzubilden, passt zudem
ohnehin in keiner Weise zu dem Erwerb der ▪
Lesekompetenz,
wie sie schulische Bildungsprozesse anstreben.
Hinzukommt im Übrigen,
dass Behaltens- und Verstehensleistungen beim Lesen auch in ganz
besonderer Abhängigkeit von dem Vorhandensein einer positiven Stimmung,
also emotionalen Aspekten des Lesers, sind.
Im Idealfall sollte
das, was für die Leseförderung gilt, eben auch für viele andere
Lesesituationen gelten dürfen: "Lesen sollte (...) ein bewusst freudiges
Erlebnis sein, um es zu einem erfolgreichen Erlebnis zu machen. Lesen
sollte der Phantasie freien Raum geben, in kreative Problemlösungen
einfließen und eben nicht nur als Pflicht und Bürde empfunden werden."
(Kiefer 2010, S.19)