"Kinderbettwäsche, Frühstücksflocken und Handys für Kinder waren
gestern - heute dürfen Kinder sexy sein. Es gibt Stringtangas und
Make-up für Mädchen, Videospiele und coole Klamotten für kleine
Superhelden. Sex sells - diese Marketingstrategie hat jetzt auch die
Kleinsten als Zielgruppe erfasst." Mit diesem Statement beginnt
Doris Simhofer
in der Zeitschrift Psychologie heute (5/2010) ihren Artikel "Die
Sexualisierung der Kindheit". Die Kinder als Opfer einer
perfiden Marketingstrategie?
Zu kurz gedacht! Es sind schließlich die Eltern, die ihre eigenen
Kinder, Mädchen vor allem, schon in frühesten Jahren so
ausstaffieren, dass sie aussehen wie ihre medialen Vorbilder. Nur
wessen Vorbilder sind dies eigentlich? Die der Kinder oder die der
Eltern? Immerhin machen die Eltern ihre Kinder zu dem, was sie in
der Gesellschaft dann darstellen und bringen sie damit nicht selten
in ernsthafte Entwicklungsprobleme. "Girls Power" rufen einige, vor
allem Mütter aus der Spice-Girls-Generation, mit freudig-trotzigem
Blick und freuen sich, dass sich schon kleine Mädchen heutzutage
etwas trauen können, was vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen
ist. Die
»Kindfrau als Projektionsfläche nicht zuletzt auch für Frauen,
die sich massiv für die sexuelle Gleichberechtigung von Männern und
Frauen einsetzen. Aber was sie mit ihren Kindern inszenieren,
fördert und dient dem männlichen Blick und an diesem hat sich, so
scheint es bis heute nichts geändert. Noch immer gilt, was
Christiane
Schmerl(1992, S.21) schon treffend formuliert hat: "Frauen sind
Körper; Männer sind Anschauende, Begutachtende oder Bilder-Macher,
Frauen sind Angeschaute, Begutachtete, Bildvorlagen. Der Mann ist
Mensch, die Frau ist Geschlecht; der Mann ist Regisseur,
Schiedsrichter, Kenner, Sammler; die Frau Ding, Bild, Beute und
stumme Projektionsfläche. Der Mann ist sachlich, die Frau dagegen
sinnlich, begehrlich und sonst gar nichts." Die Kindfrau propagiert, was Mädchen
in unserer Gesellschaft von frühauf lernen sollen: "Sexy" sein ist
alles, bringt Anerkennung als Frau und letzten Endes auch Erfolg. "Girls Power" - wirklich? Oder besser: Wie lernt es sich besser,
frühzeitig schon seinen künftigen Marktwert einschätzen zu können?
Man braucht heutzutage von Deutschland den Blick nicht mehr nach Amerika zu richten,
um an Halloween in deutschen Landen ähnliches zu beobachten, was
M. Gigi
Durham (2008a, S.1f.) über Erfahrungen in den USA berichtet hat. Wer die Augen nicht verschließt, kann sehen, dass sich bei solchen
Aktivitäten auch jüngste Mädchen (Durham berichtet z. B. von einem
5-jährigen Mädchen), ermuntert von entsprechenden Modevorgaben und
Eltern, die sich das leisten können und wollen, in
einer Art und Weise kleiden, die eigentlich eindeutig erwachsener
Erotik und Sexualität vorbehalten ist. In Straps und String-Tangas
mit Aufdrucken darauf wie "Winke, winke" oder "Süßes fürs Auge", wie
sie eine Weile lang von der US-Modemarke Abercrombie verkauft
wurden, scheinen
selbst die Jüngsten auf ihre Art und Weise zu genießen, was ihnen
die Gesellschaft in der Wirklichkeit keineswegs, zumindest nicht in
diesem Alter und schon gar nicht in solchen Formen, zugesteht: Sexualität.
Durham zeigt wenig Verständnis
dafür, dass dieses Verhalten von Eltern, aber auch von
feministischer Seite mitunter als "Girls Power" verharmlost wird,
zumal die Sexualisierung der frühen Mädchenjahre schon längst ein
einträgliches Geschäft geworden ist. Denn: Wenn exhibitionistische
Eskapaden von Promis wie Paris Hilton oder den Pussycat Dolls
jüngste Mädchen in den Bann ziehen, dann ist auch die entsprechende
Industrie nicht weit, die z. B. Dessous für die Jüngsten unter der
Modelinie "Little Miss Naughty" anbietet. Die Faszination, die von
solchen "sexy Girls" für Teile der Gesellschaft ausgeht,
so Durham, gründe auf
dem Widerspruch, der ihnen als Rolle zugeschrieben werde: Sie
verkörpern sowohl weibliches Selbstvertrauen (female empowerment)
als auch den ihnen von der Männergesellschaft zugeschriebenen Mythos von
sexualisierter Schönheit. Wenn Mädchen auf Werbeanzeigen erscheinen,
dann werden sie "feminisiert und sexualisiert", wobei Kriterien und
Rituale der Unterordnung, wie sie
Goffman (1981,
S.184) beschrieben hat (z. B. Mädchen lächeln fast immer, sind
meistens in liegender Position dargestellt und halten ihren Kopf
oder Körper schräg oder einer nicht aufrechten Position, die
unnatürlich wirkt. (vgl.
Fadler 2009,
S.34)
Im Grunde seien es fünf Mythen, die Mädchen von der Popkultur und
der Werbung über Sexualität vermittelt werden, meint Durham: 1)
Mädchen suchen sich nicht aktiv ihre männlichen Freunde aus. 2)
Jungen wählen sich die Mädchen aus, wählen aber nur Mädchen, die
sexy sind. 3) Es gibt nur eine bestimmte Vorstellung darüber, was
sexy ist. 4) Mädchen sollten hart dafür arbeiten, in dieser Form
sexy zu sein. 4) Je jünger ein Mädchen ist, desto mehr sexy wirkt
es. 5) Gewalt im Rahmen von Sexualität kann "scharf" (hot)
sein. Das solcherart sexy Mädchen, so fährt Durham fort, fasziniert
und stößt gleichzeitig ab. Die fünf Mythen bringen etwas hervor, was
sich als
Lolita-Effekt beschreiben lässt.
In der Alltagssprache steht der Begriff
"Lolita" für die kindliche "Lolita", die
»Kindfrau, ein junges Mädchen, das sich nach allgemeiner Ansicht
in einer ihrem Alter nicht angemessenen Art und Weise sexuell
verhält. Die Lolita zeige, so Durham, dabei Verhalten, das verboten
und/oder tabuisiert sei. Wer dies dennoch tue, fordere die
Gesellschaft heraus. Allerdings ist genau diese Abwertung auf der
anderen Seite Quelle der Faszination, die von den Lolitas ausgeht.
Ganz anders noch das literarische Vorbild, auf den der Begriff
zurückgeht. Es ist »Vladimir
Nabokovs (1899-1977) Roman
"»Lolita" (1955), der wegen seines Themas lange Zeit umstritten
gewesen ist. Darin zwingt der Ich-Erzähler Humbert Humbert "seine zu
Beginn der Erzählung zwölfjährige Stieftochter Dolores ('Lolita') zu
einer zweijährigen Odyssee durch die USA. Von ihm als 'Vater und
Tochter' ausgegeben, leben sie in einer – zunehmend gewaltsamen –
sexuellen Beziehung, aus der Dolores schließlich flieht." (Wikipedia,
3.3.2012) Während indessen die Romanfigur letztlich stets das
missbrauchte Opfer ihres erwachsenen männlichen Peinigers ist, hat
sich die Perspektive auf die modernen Lolitas umgekehrt: Sie
sind es, die mit ihrer "out-of-control libido" (Durham,
ebd.) kokettieren und als nymphomanische
»Kindfrauen (baby nymphomaniac) agieren.
In den Medien sind die Vorbilder der jungen Lolitas nicht schwer zu
finden. In der Rolle von Lolitas haben einige junge
Schauspielerinnen schon in den 1970er und 1980er-Jahren ihre
Karrieren begonnen, wie z. B. die junge »Nastassja
Kinski, »Lara
Wendel oder »Dawn
Dunlap. In den 1990er Jahren gehören dazu »Jane
March und »Dominique
Swain. Aber auch jenseits der Filmindustrie spielen
Prominente gerne mit dem Lolita-Effekt (z.B.
»Britney Spears in
jungen Jahren oder auch
»Paris Hilton). Und diese Medien-Lolitas haben natürlich auch
ihre jeweils eigenen "Lolitamacher". Und angesichts der umfassenden
Sexualisierung nimmt es daher auch kein Wunder, wenn junge Mädchen
nachmachen, was ihnen ihre Stars und Sternchen, selbst beim Sexting vormachen. (vgl.
Calvert, Clay
(2009).
Es sind rigide Rollenbilder, die zwischen den Polen "Girls Power"
und "Lolita-Effekt" vermittelt werden. Mögen Kinder insbesondere,
aber auch ihre Eltern, im Allgemeinen Opfer »struktureller
Gewalt (vgl.
»Johan Galtung (geb. 1930) sein, die sie mit ihrer einseitigen
Rollenzuschreibung auf sexuelle Attraktivität, daran hindert, sich
voll zu entfalten, so muss doch auch gesehen werden, dass und wie
sie bei der Sexualisierung der Kindheit "mitspielen". Wenn Frauen
als Mütter, die als Vorbilder ihrer Mädchen wirken, selbst in
starkem Maße nach diesen Rollenzuschreibungen leben, werden auch
ihre Töchter dem eher folgen und am Ende auf ihre Art und Weise zur
Selbstsexualisierung (self-sexualization) der Kindheit beitragen
(vgl. Calvert, Clay
(2009, S.12). Dabei kommt natürlich viel zusammen und ein
differenzierter Blick auf die unterschiedlichen Welten, in denen
Kinder heutzutage aufwachsen, kann erst die Wege zeigen, um der
Girls-Power-und-Lolita-Falle
zu entkommen. Aber mit jeder Entscheidung, die schon die Jüngsten,
wenn sie zwanghaft ihren oder den medialen, selbst in hohem Maße
sexualisierten Vorbildern ihrer Eltern folgen, quasi autonom oder
als Ergebnis familiärer Verhandlungen treffen, machen sie sich die
Sexualisierung ihrer eigenen Person mehr und mehr zu eigen. Am Ende
geht ihnen die Selbstsexualisierung, wie man sagt, "in Fleisch und
Blut über." Wenn sie dann am liebsten Kleidung "shoppen" gehen, die
sie attraktiv, "hot" und sexy machen soll, hat die Gesellschaft ihr
Ziel erreicht: Die Internalisierung der Sexualisierung.
Wohlgemerkt, und nur um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist, wie
auch der Sexualpädagoge Uwe Sielert vom Institut für Pädagogik an
der Uni Kiel betont, völlig in Ordnung, "wenn junge Mädchen die
Wirkung von Minirock und Make-up ausprobieren." Problematisch ist es
allerdings, da ist ihm in jedem Falle beizupflichten, wenn sie auf
diese Rolle fixiert bleiben. (vgl.
Simhofer 5/2010)
Und natürlich ist alles auch eine Frage des Alters: Denn oft ist
eine frühe Sexualisierung nur eine Kompensationsmöglichkeit und
wirkt auf diese Art und Weise wie eine Klammer, welche die Identität
zusammenhält, meint Sielert und fährt fort: 'Bekommen Jugendliche zu
wenig Zuwendung kann es zu einer frühen Sexualisierung kommen, um
die eigene Identität zu finden und sich wenigstens über den Körper
zu bestätigen."
Identitätsbildung und die Wege dahin stehen demnach immer im Fokus,
wenn es für die Heranwachsenden darum geht, "in der
Auseinandersetzung mit sexuellen Inhalten und Darstellungen (...)
die eigenen Grenzen, Vorlieben und Bedürfnisse" zu erkunden und
darüber Medienkompetenz zu erlangen. (Simhofer 5/2010)
In einer allüberall sexualisierten Gesellschaft sind Eltern und
Schule mehr denn je gefragt, Kinder und Jugendliche bei der
Herausbildung ihrer ohnehin schwierigen "Patchwork-Identität" (Keupp
1989, S.63ff.) wirklich zu unterstützen, sofern man Identität
eben nicht als "individuell-autonomen Prozess begreift" (Keupp
1997, S.27) Mädchen dabei Orientierung und Halt zu geben, heißt,
sie aus der Zwickmühle von vermeintlicher Girls Power und
Lolita-Effekt zu befreien.
Gert Egle, wwww.teachsam.de,
08.10.2021