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"Brüll! Kreisch! Donner! Schepper!"
- Schulischer Dramenunterricht zwischen "Reclam-" und
Regietheater
Theater steht bei Jugendlichen nicht eben hoch im Kurs
Theater ist bei der
Jugend angesichts der Medienkonkurrenz, in die es sich gestellt sieht, schon
seit längerem nicht unbedingt angesagt und in den Augen von Jugendlichen
auch nicht konkurrenzfähig.
Befragt man die Jugendlichen, ob sie überhaupt über Theatererfahrungen
verfügen, so hört man in der Regel von sehr positiv erlebten
Kindheitserlebnissen, die vom Kasperle-Theater im Kindergarten bis zu den
oft besonders eindrucksvoll erlebten Kindertheateraufführungen, wie z. B.
Weihnachtsmärchen auf den Bühnen städtischer Theater, reichen. Einige können
auch auf Jugendtheater- oder Schultheater-Vorstellungen verweisen, die, so
die Befragten, eigentlich überwiegend Spaß gemacht haben. Und das selbst
dann, wenn ihr Besuch für alle als Schülerinnen und Schüler verpflichtend
gewesen ist.
Was die Schülerinnen und Schüler äußern,
lässt sich z. T. auch mit Befunden
aus der Theaterstatistik belegen. Während nämlich die "klassischen Sparten"
des Theaters wie das Schauspiel und das Musiktheater über schwindende
Zuschauerzahlen klagen, nehmen die Zuschauerzahlen der Kinder- und
Jugendtheater, und in dessen Folge auch das Angebot solcher Stücke, zu.
(vgl.
Klein o. J., darin Vergleich von Besucherzahlen 1991/92 und 2001/02)
Den
Weg ins Theater der Erwachsenen, jenes Theater mit "hochkulturellem"
Anspruch jedenfalls, finden nur noch wenige, zumal offenbar auch das
Engagement der Lehrkräfte, die früher im Zusammenhang mit der Dramenlektüre
Theaterbesuche organisiert haben, angesichts zunehmender Arbeitsbelastung
der Lehrer im Kernbereich nachgelassen hat. (vgl.
Göbel 1980, S.516,
Heuer 1996, S.579,
Rüther 1999, S.187).
Wer von den Jugendlichen dennoch ins Theater geht,
gehört zu dem Kreis der 25% Jugendlicher, die nach der Shell-Jugendstudie
von 2006 zur Gruppe der "kreativen
Freizeitelite" zählt, die "gekennzeichnet [ist] durch ein hohes Maß
an bildungsnaher aktiver Freizeitgestaltung »Bücher lesen«, »Kreatives
Machen« und »Engagement in Projekten« sind hier vermehrt anzutreffen." (Langness/Leven/Hurrelmann
2006, S.80) Dabei ist davon auszugehen, dass der Anteil weiblicher
Jugendlicher, die den Weg ins Theater finden, dabei den ihrer männlichen
Altersgenossen deutlich übertrifft. 1997 jedenfalls stellte die 12.
Shell-Jugendstudie fest, dass von den befragten Jugendlichen im Alter von
12-24 Jahren 16% der weiblichen Jugendlichen und 10% der männlichen
Jugendlichen "oft" oder "sehr oft" Theater, Museen, Ausstellungen und
klassische Musikkonzerte besuchen. (vgl.
Fritzsche 1997, S.344)
Darüber hinaus ist festzustellen, dass das Theater auch im Kontext der
non-medialen Freizeitaktivitäten
von Jugendlichen so gut wie keine Rolle spielt (vgl. z. B.
[JIM-Studien) Allerdings ist dies kein Jugendphänomen allein. Eine
Langzeitstudie von ARD und ZDF hat ergeben, dass "der
Bevölkerungsanteil, der großes Interesse an Kunst, Literatur, Theater und
Oper (also an besagter Hochkultur) hat, bei vier bis sechs Prozent liegt;
sieben Prozent interessieren sich für Kino- und Medienthemen, elf Prozent
für Volkstheater und 19 Prozent für Volks- und Schlagermusik. (vgl.
Bußmann o. J.)
So reicht denn auch die Klage über das mangelnde Interesse am
Theater weit über die Jugendlichen hinaus, denn " bis tief hinein in die
bürgerliche Klientel hat sich Herz über Kopf, ein beängstigendes
Desinteresse an dieser Institution breitgemacht; immer stärker wird die
Unterhaltungskonkurrenz, immer weiter rutscht das Theater im Bewusstsein der
städtischen Kulturgesellschaft an die Peripherie" (Gerhard
Jörder, in: Die Zeit 2001)
Ob dagegen helfen kann, was »Wiebke
Tomescheit in »stern-online
(18.10.2019) meint, ist zumindest zweifelhaft, richtet sich aber
wohl vor allem an die Vertreter des sogenannten ▪ Regietheaters:
"Junge Menschen wollen Stücke sehen, keine Inszenierungen. Die
feiern nicht, wenn die Schauspieler pinke Ritterrüstungen tragen
und die Handlung auf den Mond verlegt wurde, die wollen einfach
den verdammten Shakespeare sehen – und eigentlich am liebsten
möglichst originalgetreu. Da könnte sich manch Regisseur
vielleicht mal ein bisschen zurücknehmen." Werktreue, was immer
das sein mag, als Konzept für das Audience Development? Eine
abenteuerliche Idee!
Und doch: Es gibt, gerade auch unter Jugendlichen, Stimmen,
die eine Lanze für "ihr" Theater brechen. Zu ihnen zählt Marie
Rohrer, die in Berliner Jugendtheatern zwei Jugendstücke gesehen
hat und irgendwie Lunte gerochen hat und von ihren Erfahrungen
im
Tagespiegel (2.02.2015) berichtet hat. Unter der
Zwischenüberschrift "Im Theater bleibt keine Zeit für Popcorn
und Cola" schreibt sie:
"Im Theater gibt es nur Nüsschen. Aber es
nimmt uns mit in eine andere Welt: Es gibt keine Grenze zwischen
dem Publikum und dem Geschehen. Es findet hier statt, vor
unseren Augen, live. Das Stück, die Schauspielern und die
Kulisse fordern unsere Aufmerksamkeit. Da bleibt keine Zeit für
Popcorn und Cola. „Die meisten Jugendlichen wissen gar nicht,
was sie verpassen, wenn sie nicht ins Theater gehen“, erzählt
mir Volker Ludwig nach der Vorstellung. Ludwig ist der Gründer
des Grips-Theaters. Das sehe ich genauso. Nach einem Kinofilm
bin ich müde und schlecht gelaunt. Das Sonnenlicht blendet, wenn
ich auf die Straße gehe. Aber das Theater belebt mich, ich kann
nicht genug davon kriegen. Es ist an der Zeit, dass wir unsere
Köpfe von den Smartphones abwenden, unsere bequemen Kinosessel
verlassen und dahin gehen, wo echte Menschen große Geschichten
erzählen."
Dramendidaktische Grundpositionen
Wenn die Sprache auf den Literaturunterricht in
der Schule kommt, rückt immer wieder die Behandlung von
dramatischen Texten in den Mittelpunkt von Fragestellungen, wie
derartige Texte zu behandeln bzw. wie mit ihnen in den Lehr- und
Lernprozessen institutionellen Lernens in der Schule umgegangen
werden soll.
In der Dramendidaktik hat man darauf auf dreierlei Weise
zu antworten versucht (vgl.
Payrhuber 1998, S. 647):
-
Ausgehend von
der Überlegung, dass der herkömmliche dramatische Text
ähnliche Strukturen aufweist, wie andere "dramatische
Formen" wie z. B. das Hörspiel, der Film oder auch das
Fernsehspiel, plädierte man auf der Grundlage eines
erweiterten Textbegriffs dafür, herkömmliche dramatische
Texte in den Kontext anderer "dramatischer Werke" zu stellen
und im Unterricht als einen Typ des Dramatischen neben
anderen zu behandeln. (Müller-Michaelis
1971/21975)
Der
Dramenunterricht sollte dabei einem Konzept folgen, das die
strukturelle Beschreibung von gattungs- bzw.
textsortenspezifischen
Strukturen zu leisten und entsprechendes Strukturwissen zu
vermitteln hatte. (vgl.
Bogdal/Kammler (2002, S.183ff.)
-
Von der
tatsächlichen Mediennutzung und den Medienpräferenzen der
Jugendlichen vor und nach der Schule ausgehend sahen andere
(z. B.
Stocker 1972, auch
Stocker 1976a oder
Renk 1978/31986)
einen Dramenunterricht, der sich vor allem um medial
vermittelte "dramatische Formen" kümmerte und dabei auch
triviale Produkte in die unterrichtliche Behandlung
einfließen ließ.
-
Der
ideologiekritischen und gesellschaftskritischen Betrachtung
am Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts konnte der Dramenunterricht ohnehin
nicht standhalten, da man in ihm eine Manifestation des
bürgerlichen Literaturkanons sah.
Didaktiker
wie
Ivo
(1969),
Ide (1970) oder das
Bremer Kollektiv (1971) forderten daher den gänzlichen
Verzicht auf die schulische Dramenbehandlung und ihre
Substitution durch Massenliteratur, die durchaus auch
trivial sein durfte.
Probleme des Dramenunterrichts in der Schule
Das vergleichsweise geringe Interesse Jugendlicher am
"Erwachsenentheater" stellt dem schulischen Literaturunterricht nicht gerade
ein gutes Zeugnis aus. Dabei sollte dieser aber auch nicht vorschnell als
Prügelknabe dafür herhalten, solchen Entwicklungen, die von zahlreichen
Faktoren abhängen, nichts oder nur wenig entgegensetzen zu können.
Dramatische Texte haben es heutzutage in der Schule nichtzuletzt aus den
oben skizzierten Gründen ohnehin schwer und sind auch wirklich "schwere
Kost" für einen ganz großen
Teil von Schülerinnen und Schülern. Ihre Rezeption durch Schülerinnen und
Schüler ist dabei immer wieder von •
Fremdheitserfahrungen
geprägt, die sich auf unterschiedliche Art und Weise auswirken
und auf ebenso unterschiedliche Art und Weise thematisiert und
"bearbeitet" werden müssen.
Und diejenigen, die Ursachen dafür
ergründen, tragen eine ganze Litanei möglicher Gründe zusammen. Die einen
sagen, es liege an den Dramen bzw. ihrer Auswahl für heutige Spielpläne,
andere beklagen, dass der Theaterbesuch selbst in Familien mit Eltern, die
über eine höhere Schulbildung verfügen, oft kein Thema mehr sei, und
schimpfen auf Lehrerinnen und Lehrer aus verschiedenen Gründen heutzutage
weniger Motivation als früher haben, ihre Schüler ins Theater zu begleiten.
Vielen Erwachsenen stehen dazu wohl noch eigene leidvolle Erfahrungen mit Dramen im
Literaturunterricht vor Augen, die ihnen selbst jeglichen Spaß am Theater
verdorben haben. (vgl.
Waldmann 52008, S. 1, vgl.
Göbel 1980, S.516,
vgl.
Heuer 1996, S.579,
vgl.
Rüther 1999, S.187).
Und die drei maßgeblichen ▪
Grundpositionen der
Literaturdidaktik in diesen Fragen liegen seit langem in einem Widerstreit,
ohne dass sich eine von ihnen gegenüber den anderen hat endgültig
durchsetzen können. (vgl.
Payrhuber 1998, S.647)
Dabei wird die auf eine lange
Gattungsgeschichte zurückgreifende "Kulturwertigkeit" (vgl.
ebd.) des Dramas
eigentlich von niemandem ernsthaft in Frage gestellt.
Was die Probleme indessen noch verschärft, ist die hitzig
geführte »Debatte um "Reclamheft-" und Regietheater, die zugleich die Frage danach
aufwirft, wohin Dramenlektüre im Unterricht eigentlich führen soll.
Vielleicht muss man nicht soweit gehen wie
Bogdal/Kammler (2002, S.181), die meinen, dass das sich Anfang des 20.
Jahrhunderts schon durchsetzende Regietheater, bei dem die
Inszenierungsideen des Regisseurs vor die vermeintliche Werktreue gehen, mit
der bloßen Lektüre eines Dramentextes (im Reclam-Heft) eigentlich schon
Schluss gemacht hat.
In jedem Fall wird man jedoch einzuräumen haben, dass
"das Lesen, Zusammenfassen und Interpretieren von Reclam-Ausgaben das Drama
als Textsorte und Kunstform eigentlich nicht erfassen" kann und auch der
heutige entfalteten kulturellen Praxis des Theaters nicht gerecht werden. (vgl.
Abraham/Kepser 22006, S.141)
Argumente für die Behandlung von Dramen im schulischen
Literaturunterricht
Bei all den vorgetragenen Problemen gibt es dennoch auch gute pädagogische
Argumente für die Behandlung von Dramen in der Schule.
Wie jede Kunst bieten
auch Dramen demjenigen, der bereit ist, sich auf sie einzulassen Chancen,
sich selbst zu erfahren, fremde und eigene Vorstellungen miteinander in
Beziehung zu setzen und somit ein vertieftes Verständnis von sich selbst und
den anderen, der eigenen und der fremden Lebenswelten zu erlangen.
Dramen
können dies vielleicht sogar besonders gut, weil sie "Bilder des Lebens"
darbieten, die sinnlich unmittelbar wirken. Sie liefern Bilder in einer fiktionalen Welt, die
Alternativen zu individuellen Lebensentwürfen und Lebensvollzügen, zu den
Schemata und den Strukturen gesellschaftlichen Lebens darstellen, in denen sich seine
Rezipienten bewegen. Wer sich darauf einlässt, kann neue Erfahrungen machen
und neue Erkenntnisse gewinnen. (vgl.
Payrhuber 1998, S. 649ff).
Diesen Zielen muss sich der moderne Dramenunterricht verschreiben. Die
Behandlung von Dramen sollte Schüler nach
Payrhuber 1998, S. 65f).
-
"motivieren, die Begegnung und Beschäftigung mit Dramen zu bejahen"
-
befähigen, das von ihnen gemachte Angebot der
"Erfahrungserweiterung" (Jauß
1975, S. 338) zu erfahren und anzunehmen
-
anhalten, ihre eigenen Erfahrungen und Deutungen, ihre eigenen
"Wert- und Normvorstellungen" (Spinner
1987) einzubringen
-
dabei ermöglichen, ihre Fähigkeiten zu rationaler Analyse und
kritischer Auseinandersetzung weiter zu entwickeln
-
die für ihre Argumentation mit dem Text funktional nötigen Begriffe
und Fragestellungen nahebringen
-
Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen.
"Das Ergebnis des Unterrichts", so resümiert
Payrhuber (1998, S. 652) abschließend, "sollte [...] ein ´junger
Mensch sein, der eine positive Einstellung zum Drama erworben und seine
Relevanz für die eigene Lebensgestaltung erfahren hat, der 'kenntnisreich'
(Müller-Michaelis 1978, 17), kompetent und vergnüglich mit ihm umgehen kann
und willens ist, es auch nach dem Ende seiner Schulzeit noch zu rezipieren,
sei es lesend über das (Text-)Buch, hörend oder sehend über die Medien
Rundfunk und Fernsehen, wie vor allem und zuerst als Zuschauer einer
Theateraufführung."
Typologien dramendidaktischer Ansätze
Es gibt eine Reihe konkurrierender
•
Typologien dramendidaktischer Ansätze,
die sich freilich im Kern nicht wesentlich unterscheiden. Die wichtigste
scheint wohl die von
Bogdal/Kammler (2002, S.183ff.) zu sein, die vier verschiedene Konzepte
des Umgangs mit Dramen im Literaturunterricht unterscheiden, nämlich a)
•
strukturell-deskriptive Konzepte, b)
•
Theater- und
spielpädagogische Konzepte, c)
•
Konzepte des produktiven Umgangs mit
dem dramatischen Text und der simulierten Inszenierung von Dramen und d)
•
Konzepte einer aufführungsbezogenen Lektürepraxis.
Dabei scheinen Konzepte einer aufführungsbezogenen Lektürepraxis wohl am
ehesten zielführend für einen Dramenunterricht zu sein, der die Schülerinnen und
Schüler in die kulturelle Praxis Theater einführen will.
Denn auch sie
schließen "strukturelle Einsichten in die
Textsorte Drama nicht aus, führen aber
über Belehrung hinaus in eine Teilhabe an Praktiken hinein, wie sie auch am
Theater gepflegt werden, wenn man sich dort ein neues Stück erarbeiten will:
Skizzen möglicher Bühnenbilder, schriftliche Erweiterung von Nebentexten,
Herausgreifen einzelner Szenen bzw. Ausschnitte zur Inszenierung usw. sind
eben nicht nur didaktisch-methodische Kniffe handlungs- und
produktionsorientierten Unterrichts, sondern Elemente einer Kultur des
Theaters, in die Lernende einzuführen sind." (Abraham/Kepser 22006, S.143)
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"Brüll! Kreisch! Donner! Schepper!"
- Schulischer Dramenunterricht zwischen "Reclam-" und
Regietheater
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
06.02.2024
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