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Literaturwissenschaftliche Modelle zum Lesen und Verstehen von Texten

Sinnbildung während des Lesens literarischer Texte

Die rezeptionsästhetische Auffassung

 
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Roman Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen

Die literarwissenschaftliche, hermeneutisch fundierte ▪ Rezeptionsästhetik hat die Sinnbildung, die ein Rezipient beim Lesen eines Textes vornimmt, als fortlaufende Akte der Konkretisation beschrieben und theoretisch erklärt.

Dabei gehen ihre Auffassungen auf »Roman Ingarden (1893-1970), einem polnischen Philosophen und Anhänger der »Phänomenologie Husserls zurück, der mit seiner Theorie der Werkerfassung die spätere Rezeptionsästhetik beeinflusst hat, ohne dass seine Auffassungen jedoch in der Rezeptionsästhetik münden. Grundlegend ist seine Betonung der "mitschöpferischen Tätigkeit des Lesers", auf dessen aktives Zutun die die Bedeutungskonstruktion angewiesen ist.

"Der Leser liest [...] gewissermaßen 'zwischen den Zeilen' und ergänzt unwillkürlich, durch ein - wenn man so sagen darf - 'überexplicites' Verstehen der Sätze und insbesondere der in ihnen auftretenden Namen, manche von den Seiten der dargestellten Gegenständlichkeiten, die durch den Text selbst nicht bestimmt sind. Dieses ergänzende Bestimmen nenne ich das 'Konkretisieren' der dargestellten Gegenstände. Darin kommt die eigene, mitschöpferische Tätigkeit des Lesers zu Wort: aus eigener Initiative und Einbildungskraft 'füllt' er verschiedene Unbestimmtheitsstellen mit Momenten 'aus', die sozusagen aus vielen möglichen, bzw. zulässigen gewählt werden, obwohl letzteres [...] nicht notwendig ist. Gewöhnlich vollzieht sich diese 'Wahl' ohne bewusste und für sich gefasste Absicht des Lesers. Er lässt einfach seine Phantasie frei walten [...] Wie dies im einzelnen Fall geschieht, hängt sowohl von den Eigentümlichkeiten des Werkes selbst als auch vom Leser, dem Zustand, bzw. der Einstellung ab, in der er sich gerade befindet. Infolgedessen können zwischen den Konkretisationen desselben Werkes bedeutende Unterschiede bestehen, auch dann, wenn sie vom selben Leser bei verschiedenen Lektüren vollzogen werden." (Roman Ingarden, Konkretisation und Rekonstruktion 1968, in: Warning 1975, S.46)

Was in einem Text unbestimmt geblieben ist, darf, so Ingarden, allerdings vom Leser bei der Sinnfindung nicht beliebig ausgefüllt werden. So könnten z. B. Unbestimmtheitsstellen, die sich auf den Charakter einer Figur, auf die Art und Weise ihres Empfindens, die Tiefe ihrer  Denkweise und ihre Emotionalität beziehen, "nicht auf eine beliebige Weise ausgefüllt werden, da solche Ergänzungen von großer Bedeutung für die betreffende dargestellte Person sind." (ebd.) Dabei wird der Spielraum, den die Unbestimmtheitsstelle dem Leser lässt, allerdings von Faktoren abhängig gemacht, die sich an rein subjektiven Faktoren der literarischen Wertung orientieren und und postuliert, dass man durch nichtangemessenes Ausfüllen von Unbestimmtheitsstellen "ein "Werk sehr verflachen und banalisieren" kann. Im umgekehrten Fall kann das angemessene Ausfüllen das Werk "vertiefen".

"Die Weise der Konkretisierung zeigt aber auch, inwiefern eine bestimmte Konkretisation eines Werks 'im Geist' der künstlerischen Intentionen des Verfassers ist, ihnen nahe steht oder im Gegenteil von ihnen abweicht. Entweder ist das konkretisierte Werk dem Stil gemäß oder verwandt, in welchem es - dem im Werk effektiv Vorhandenen entsprechend - geschaffen wurde, oder es hat infolge einer bestimmten Art der Konkretisation diesen Stil verloren. [...] Es ist also sowohl von dem Gesichtspunkt der Richtigkeit oder Treue der Konkretisation des Werkes aus nicht irrelevant, wie sich eine Konkretisation des Werkes tatsächlich vollzogen hat. Und im Zusammenhang damit stehen die Fragen nach einer adäquaten ästhetischen Erfassung des literarischen Kunstwerks sowie - in der Folge - nach ihrer treffenden Bewertung." (aus: Roman Ingarden, Konkretisation und Rekonstruktion 1968, in: Warning 1975, S.46) 

Wolfgang Iser: "Wir aktualisieren den Text durch Lektüre"

»Wolfgang Iser (1926-2007) entwickelt seine wirkungs- bzw. rezeptionsästhetischen Vorstellungen über die Sinnbildung beim Lesen in Abgrenzung zu den »Emil Staiger (1908-1967) und »Wolfgang Kayser (1906-1960), repräsentierten "Kunst der Interpretation" abgrenzt, die mit der streng hermeneutisch ausgerichteten ▪ werkimmanenten Interpretation lange die Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum dominierte.

Entschieden wendet sich Iser gegen die von der "Kunst der Interpretation" vertretenen Auffassung, "dass die Bedeutung im Text selbst verborgen ist" (Wolfgang , Die Appellstruktur (1970), in: Warning 1975, S.229f.)und fragt danach, warum Texte mit den Interpreten solche Versteckspiele veranstalten; mehr noch aber, warum sich einmal gefundene Bedeutungen wieder verändern, obgleich doch Buchstaben, Wörter und Sätze dieselben bleiben." (ebd.)

Isers Konzeption der Aktualisierung des Textes beim Lesen richtet sich gegen objektivistische und subjektivistische Positionen.

  • Die objektivistische Position geht davon aus, " der Sinn eines Textes vollständig in ihm enthalten" ist und "sich durch sachgerechtes Verstehen gleichsam entnehmen (lässt)" (Richter 1996, S.522).

  • Die subjektivistische Position sieht im Text "lediglich eine Projektionsfläche für beliebige Bedeutungszuweisungen". (ebd.)

Für ihn steht dagegen fest, dass Bedeutungen literarischer Texte (...) überhaupt erst im Lesevorgang generiert (werden)". (Iser, Die Appellstruktur (1970) ebd.) Die Bedeutungen, die beim Lesen entstehen, müssten daher als "Produkt einer Interaktion von Text und Leser" verstanden werden und seien "keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt" (ebd.) Daher bildet Literatur die Wirklichkeit auch nicht ab. Stattdessen "entfalten sich ihre Wirklichkeitsangebote erst, wenn der Leser sie wahrnimmt, aufnimmt und in seiner Phantasie ausmalt." Martin (Lensch 2000, S.9f.)

Aus der Tatsache, dass der Leser also die Bedeutung eines Textes selbst generiert, folgert er, dass auch das Ergebnis der Sinnkonstruktion stets ein individuelles ist, das die "Handschrift" des Lesers zeigt.

Folgerichtig ist für Iser ein literarischer Text nicht auf eine Bedeutung festzulegen, weil dies voraussetzt, dass eine solche unabhängig vom Text existiert. Würde dies zutreffen, wäre ein literarischer Text nur die "Illustration einer ihm vorgegebenen Bedeutung" (Iser, Die Appellstruktur (1970) ebd.) Dementsprechend wurden literarische Texte auf bestimmte Lesarten festlegt, "bald als Zeugnis des Zeitgeistes, bald als Ausdruck von Neurosen seiner Verfasser, bald als Widerspiegelung gesellschaftlicher Zustände und als anderes mehr gelesen." (ebd.)

Leserinnen und Leser "aktualisieren den Text durch Lektüre". Voraussetzung dafür sei, dass ein literarischer Text "einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten" einräumt, was die Tatsache, dass er häufig "zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Lesern immer ein wenig anders verstanden worden" ist. (ebd.)

Im wirkungsästhetischen Konzept Isers sind "fiktionale Texte so beschaffen, dass sie zwar immer neue und gleich angemessene Realisationen erlauben, zugleich aber doch nicht alle Realisationen als gleichberechtigt akzeptiert werden müssen. Denn fiktionale Texte sind in mancher Hinsicht bestimmt, gleichzeitig jedoch in anderer Hinsicht unbestimmt." (Richter 1996, S.522)

Die Unbestimmtheit fiktionaler literarischer Texte kann dabei pragmatisch oder semantisch sein. Für die Sinnfindung ist dabei die semantische Unbestimmtheit besonders wichtig. Dabei geht Iser von der These aus, dass ein fiktionaler Text als ästhetischer Gegenstand "niemals mit bereits Existierendem identisch ist und ausschließlich mit Hilfe dieses Textes konstituiert wird." (Richter 1996, S.523) Da er per se keine Totalität darstellen, sondern immer einen Ausschnitt aus dieser präsentiert, ist er grundsätzlich "nicht vollständig determiniert", sondern weist stets "Momente von Unbestimmtheit auf". (ebd.) Derartige Unbestimmtheiten, die unterschiedliche Auswirkungen auf die Kohärenz eines Textes haben, kann ein Leser dadurch schließen, dass er von dem ausgeht, was er auf der lokalen Textebene vorfindet, letzten Endes bleibt er bei der "Ausgestaltung des im Text Angelegten" aber stets "unausweichlich auch auf seine Subjektivität angewiesen."  (ebd.)

Dabei vollzieht sich die Sinnfindung beim Lesen über eine andauernde vorgreifende Hypothesenbildung, die im Leseprozess überprüft, bestätigt oder revidiert werden:

"Die bei fortschreitender Lektüre entstehenden einzelnen Vorstellungssegmente werden, entsprechend dem fortschreitenden Auftauchen und Verschwinden der Textelemente, durch ständige vorausgreifende Hypothesenbildung und ständige Bestätigung oder Revision der ursprünglichen Erwartung zueinander in Beziehung gesetzt, nämlich zu einem als stimmig empfundenen Ganzen verknüpft, einer »konsistenten Interpretation« (Iser, 1984), »Sinnkonfiguration« [...]. Die Vorstellungssegmente stehen dabei während des Lese- und Verarbeitungsvorgangs in einem Verhältnis zum Thema (dem jeweils aktuell gebildeten Vorstellungssegment) und Horizont (einem oder mehreren damit verknüpfbaren anderen Segmenten). Die Sinnbildung vollzieht sich zumal bei längeren Texten auf der Basis einer sehr großen Zahl zu verknüpfender Vorstellungssegmente und auf mehreren Ebenen. Im Roman oder im Drama gilt es etwa den »plot« [das temporal-kausal strukturierte Handlungsgerüst, d. Verf.] zu rekonstruieren." (ebd., S.525)

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 17.12.2023

 
 

 
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