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Sozialdisziplinierung als Mittel der Staatsentwicklung

Überblick

 
GESCHICHTE
Grundbegriffe der Geschichte Europäische Geschichte Frühe Neuzeit (1350-1789) Zeitalter der Renaissance (ca.1350-1450) Zeitalter der Entdeckungen (1415-1531) Reformation und Glaubenskriege (1517-1648) Absolutismus und Aufklärung (ca. 1650-1789) Entstehung des frühmodernen Territorialstaats im Absolutismus Didaktische und methodische Aspekte Überblick Ausgangspunkt: Vielfalt sozialer Gruppen mit zahlreichen Sonderrechten und Lebensformen Schlüsselmonopole staatlicher Herrschaft [ Sozialdisziplinierung als Mittel der Staatsentwicklung ÜberblickAspekte der Sozialdisziplinierung (Oestreich/Schulze) Christliche Sexualmoral, Sexualstrafrecht und Policey-Ordnungen in der frühen Neuzeit Die Entwicklung sozial konstruierter Scham in der frühen Neuzeit und im Barock ] Die Rolle der territorialen Konfessionskirchen Beginn des bürgerlichen Zeitalters ▪ Deutsche Geschichte
 

Die Entwicklung hin zu einem modernen Staatswesen machte Veränderungen und Entwicklungen in zahlreichen Bereichen nötig. Bei der Erlangung von ▪ Schlüsselmonopolen staatlicher Gewalt in den Territorien, die den Prozess über eine monarchische Spitze (Könige, Fürsten) in Gang brachten und in Gang hielten, ging es immer auch um die Schaffung einer einheitlichen Untertanengesellschaft, in der die alten feudalen Sonderrechte keine Bedeutung mehr besaßen.

Daneben gab es in vielen Gebieten auch Entwicklungen hin zum modernen Staat, die ohne autoritären Druck von oben zu einer "funktionierende(n) »Selbstregulierung der Untertanen« (Schilling 1997; Schmidt 1997)" führten und auf anderen "Formen des Aushandelns und Ausprobierens [...] der Verhaltensspielräume im konkreten sozialen Handeln" (Niefanger 32012, S.53) beruhten.

Statt vielfältiger personenrechtlicher Beziehungen und einer Vielfalt sozialer Gruppen mit zahlreichen Sonderrechten und Lebensformen, sollten sich die Bevölkerung, ihre "Individuen und Gruppen mit Sonderrechten in den als homogen begriffenen Untertanenverband" einfügen. (Schilling 1987, S.155)

Und dieses Ansinnen war in einer Gesellschaft, die sich durch ihre "bunte Vielfalt von sozialen Gruppen eigenen Rechts- und besonderer Lebensführung" (ebd., S.148) auszeichnete, nicht gerade einfach: 

  • Adelige und andere Privilegierte pochten auf ihre traditionellen Sonderrechte.

  • Kaufleute und Handwerker, die in den zahlreichen unabhängigen Städten lebten, wollten sich auf der Grundlage ihrer errungenen wirtschaftlichen Bedeutung, nicht von einem Landesherrn hereinreden lassen.

  • Viele Bauern, die in räumlich abgelegenen Gegenden lebten, regelten ihr Miteinander nach ihren eigenen Regeln.

  • Die große Zahl der Hirten, Schäfer und einfachen herumziehenden Personen, fühlten sie wohl ohnehin niemandem untertan. (vgl. ebd.)

Alles, was für uns heute der Staat so selbstverständlich im Bereich von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft "reguliert", musste also zunächst einmal der landesherrlichen "Policey" unterworfen werden und das, wenn möglich, nicht nur auf der oberen Ebene des landesherrlichen Regiments sondern auch auf der lokalen Ebene. Dieser Prozess wird als Sozialdisziplinierung bzw. ▪ soziale Disziplinierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft bezeichnet, der eine ▪ Vielzahl von Aspekten hat.

Dabei ist bei unterschiedlicher Akzentuierung der Konzepte die zunehmende "Selbstdisziplinierung des Einzelnen und die von den staatl. Eliten angeleitete Disziplinierung von Adel, Ständen, Hof (Zeremoniell), Bürokratie (Leistungsprinzip), Militär (Drill) und Untertanen" als eine Entwicklung zu verstehen, bei der beide Komponenten  "in einem zielgerichteten, säkularen Prozess der Umformung zusammen(wirkten)". (Holenstein 2013)

"Das moderne Leben in größerer Verkehrsdichte – beginnend mit der Verstädterung in der frühen Neuzeit – setzte eine moralisch–geistige Veränderung des Individuums und seiner Einstellung zu anderen voraus. Der Mensch, der vorher in ländlicher, mehr oder weniger isolierter Selbstbestimmung, auf jeden Fall, in einem überschaubaren und heterogenen sozialen Umfeld gelebt hatte, musste lernen, sich in differenziertere, größere und engere Räume einzufügen. Das geschah erstens durch Einsicht in die Notwendigkeiten, zweitens durch den Zwang der Umstände, drittens durch Gesetz und Verordnung. Es setzte eine Selbstdisziplin und gleichzeitig Erziehung zu neuen Moralbegriffen ein, die die Existenz der Mitmenschen berücksichtigte und auf einen geordneten Ablauf des gesellschaftlichen Zusammenlebens, auf ein effektiveres Staatsleben zielte." (Schulze 1987, S.289)

In diesem Prozess mussten eine Vielzahl ▪ sozialregulierenden und sozialdisziplinierenden Verordnungen und Gesetze erlassen  und für ihre Durchsetzung gesorgt werden, die tief in das Leben der Menschen eingegriffen und das neue Verhältnis von Untertan und Staat verankerten. Das Streben nach "Policey und guter Ordnung", d. h. auf die "Wahrung bzw. Herstellung der moralischen und religiösen Ordnung" ausgerichtet war und "zugleich den Bestand der öffentlichen Ordnung umfasste und die ungestörte Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit, des öffentlichen Wohls und der Sicherheit im damaligen Verständnis einschloss", machte aus, was man in dieser Zeit unter Policey verstand. Policey ist daher nicht mit unserem heutigen Begriff von Polizei vergleichbar und "bedeutet also nicht ein Organ der Regierung, sondern die Gesamtheit der sozialen Ordnungsversuche seitens der Obrigkeit." (ebd.)

Beispiele dafür sind die ▪ Polizeiordnung der Gräfin »Anna von Ostfriesland (1562-1621) aus dem Jahr 1545 oder auch die fast zweihundert Jahre jüngere »Policeyordnung für das Herzogtum Westfalen (1723).

Sie können verdeutlichen, welche Bereiche des Lebens zu regulieren, sich die die neuen staatlichen Gewalten vorgenommen haben und bei Verstößen gegen die Regeln mit entsprechenden Sanktionen zu ahnden hatten.

Sozialdisziplinierung als Konzept des gesellschaftlichen und politischen Wandels

Auch wenn es andere Entwicklungen hin zum frühmodernen Staat gab (z. B. auch den ▪ Stadtrepublikanismus) bleibt der Blick In diesem Arbeitsbereich auf die Entwicklungen im absolutistischen Frankreich und in den Großterritorien Deutschlands z. B. Brandenburg-Preußens, Österreichs, Sachsens, Bayerns, Hannovers und Württembergs beschränkt, weil sich darin bestimmte Entwicklungslinien des gesellschaftlichen Formationsprozesses, der zur Staatsbildung geführt haben.

Dass den "vielen Klein- und Kleinfürstentümer, die das Bild des Alten Reiches aufs Ganze gesehen prägten, (...) meist bereits die Kraft zur Vollendung der frühmodernen Staatsbildung (fehlte)," (Schilling 1987, S.185) verdeutlicht dabei auch, dass das Konzept der Sozialdisziplinierung von oben nicht als universelle Prozesskategorie taugt, sondern eher einen idealtypischen Verlauf unter bestimmten Bedingungen beschreibt.

Vorausgesetzt also, dass die Sozialdisziplinierung als idealtypischer Begriff  keine "keine omnipotente Allgegenwärtigkeit" (Schulze 1987, S.292) besitzt, keinen geradlinigen Prozess darstellt und auch "niemals und in keinem Land zu einem einheitlichen System ausgestaltet" (ebd., S.267) worden ist, taugt der Begriff doch dafür, die Gesamtheit eines ▪ langhaltenden Transormationsprozesses als Ganzes zu betrachten, weil er "die historische(n) Ereignisse des geistigen und materiellen Lebens, religiös–ethische Vorstellungen sowie die rechtliche und ökonomisch–soziale Wirklichkeit auf einen abstrakten Nenner bringt." (ebd., S.266)

Das Konzept der Sozialdisziplinierung beschreibt dabei den Prozess, wie es im Zuge der frühmodernen Staatsentwicklung in einer langwierigen Entwicklung gelang, neue Formen der obrigkeitlichen und der sozialen Kontrolle zu installieren, welche die auf eine lange Geschichte zurückgehenden Partikularinteressen von Klerus, Adel und Stadtbürgertum "zugunsten eines »gemeinen Besten«, das zunehmend von oben verordnet wurde, durch den Staat und seine mit einer umfassenden Polizeigesetzgebung steuernd und ordnend eingreifende Bürokratie." (Schilling 1987, S.155) Zug um Zug abschleifen konnten.

In einer Zeit, in der "der Boden für ein friedlich geordnetes Zusammenleben der Menschen ins Wanken" (Schulze 1987, S.289f.) geraten war, wurde so die ▪ "absolutistische Disziplinierung" zu dem immer weiter um sich greifende(n) Gegenschlag zur Ausdehnung der Gemeinwohlverankerung."  (ebd., S.289f.)

Konzepte der Sozialdisziplinierung

Das Konzept der Sozialdisziplinierung ist mit zwei Namen verbunden, die bei ihrer Grundlegung des Konzeptes unterschiedliche Akzente gesetzt haben, sich aber insgesamt ergänzen.

Der deutsche Historiker »Gerhard Oestreich (1910-1978), der das sein Konzept "bewusst zu einem Leitkonzept der frühneuzeitlichen Geschichte Europas" (Schulze 1987, S.298) gemacht hat, verstand unter dem 1969 von ihm geprägten Begriff der Sozialdisziplinierung ein Bündel von geistig-moralischen und psychologischen Änderungen, denen sich die Menschen in Form zunehmender Selbstdisziplinierung durch die Entwicklung des führmodernen Staates unterziehen mussten.

Im Gegensatz zu »Nobert Elias (1897-1990), dem es in seinem 1939 erstmals erschienenen Werk »"Der Prozess der Zivilisation" vor allem darauf ankam, die Verinnerlichung solcher Verhaltensnormen als einen Prozess der fortschreitenden, aber keineswegs geradlinig verlaufenden Zivilisation beschreiben, ging es Oestreich darum, die konkreten Verhaltensänderungen zu untersuchen, denen sich die Menschen unter äußerem Zwang in einem langfristigen, allerdings ungeplanten Prozess der "Verstaatlichung" der Gesellschaft unterziehen mussten. So sei es Norbert Elias, betont Schulze (1987, S.274), darum gegangen, dem Prozess der Zivilisation nachzugehen, "dem Strukturwandel der oberen Schichten mit der höfischen Gesellschaft als Spitze und Vorbild einer gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne des Verhaltens und zivilisatorischen Benehmens" (ebd.), während Oestreich und ihn "der Prozess der Regulierung und Disziplinierung möglichst breitet Schichten im Sinne der Sozialisation der Gesamtgesellschaft."

Oestreich zog für sein Konzept vor allem die unzähligen Policey-Ordnungen aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit als Quellen heran. Indem er im Unterschied der bis dahin dominierenden verfassungsgeschichtliche Perspektive den Blick auf die Entwicklung des frühmodernen Staates im Absolutismus auf zentrale sozialgeschichtliche Bedingungen richtete, konnte er "die unendliche Fülle bewegten Lebens einfangen und durch die Ausweitung des Politischen ins Soziale und Mentale das Klima der menschlichen Existenz in der frühen Neuzeit bestimmen" und "Geschichte im umfassenden Sinn als Prozess der Kultur begreifen", indem die ▪ Sozialdisziplinierung neben der Rationalisierung und der Zivilisation "in einem über Jahrhunderte sich erstreckenden Vorgang die psycho-soziale Haltung des Menschen, sein Mitwelt-Verhalten" verändert hat. (ebd., S.268)

So konnte er zeigen, dass seit dem Hochmittelalter schon die städtischen Obrigkeiten, aber auch die fürstlichen Verwaltungen in den Territorialstaaten überall in Europa eine nicht enden wollende Flut von Erlassen und Verordnungen erließen, um "das Streben nach Ordnung noch im Sinne einer Harmonisierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse"  mit Policeyordnungen sozial zu regulieren (ebd., S.267) oder mit Gesetzen wie z. B. dem ▪ Strafrecht bei sexuellen Delikten und a. m. mit  »Zucht und Ordnung« sozial zu disziplinieren.

Er lenkte damit den Blick auf die ▪ "Ordnung größerer Menschenmassen" (ebd., S.292) und konnte zeigen, dass die Sozialdisziplinierung zugleich "Reaktion auf Wandel und Entwicklung" war als auch "Neuschöpfung angesichts veränderter Umstände". (ebd.)

In ihrer Funktion "dem sozialen Wandel von der Agrar- und Feudalgesellschaft zur bürgerlichen und städtischen Gesellschaft" (ebd.) zu dienen, kam es dabei zu tiefgreifenden Änderungen.

Was früher im Rahmen der persönlichen Beziehungen im Personenverbandsstaat oder durch Herkommen und Brauch geregelt war, funktionierte angesichts  einer fortschreitenden Intensivierung des öffentlichen Lebens" nicht mehr oder funktionierte jedenfalls auf Dauer nicht mehr und wurde und "zu einer starren Vorschrift geordnet und umgewandelt [...], deren Einhaltung und Befolgung wiederum entsprechende Überwachungsmaßnahmen" (ebd., S.272)erforderlich machten.

So griffen zunächst die Kirche, dann mit ihr der Staat, und dann mehr und mehr der Staat allein, in alle mögliche Lebensbereiche regulierend und disziplinierend ein. Sie stützen sich dabei auf die "neue, die öffentliche Ordnung tragende Schicht des Hofstaats- und fürstlichen Beamtentums" (ebd., S.288).

In der ▪ Bürokratie entstand ein "Typ einer besonderen Persönlichkeit" (ebd., S.285), dessen Fähigkeit zur Selbstdisziplin Leistungsprinzip, Wille zur Leistung und Einsatz für das Gemeinwesen zu den prägenden Strukturen seiner Amtsführung wurden.

Die neuen Beamten sorgten mit ihrem ▪ Fachwissen im römischen Recht und der Verwaltung, nach und nach und je nach den aktuellen Erfordernissen verschieden, dafür, dass von der Wiege bis zur Bahre "staatlich" alles geregelt wurde, was zuvor überhaupt nicht verbindlich geregelt war oder von anderen Institutionen und Inhabern hoheitlicher Gewalt (Adelige, Kirche) bestimmt und in eigener Verantwortung reguliert worden war. Dazu gehörten, in einer beliebig erweiterbaren Liste, Taufe, Hochzeit, ▪ Ehebruch und ▪ vorehelicher und außerehelicher Geschlechtsverkehr, Begräbnis, Kleiderordnung, Essen, Trinken, Müllbeseitigung, Münze, Maße, Gewicht, Handel, Handwerk, Bergbau, Manufakturen, Arbeits- und Lohnbedingungen, Kreditaufnahme, Unterhaltung der Landstraßen und Brücken, Warenqualität, Luxusverbote, Bönhasen, Wucher und vieles andere mehr.

Insgesamt wurde mit diesen sozialregulierenden und sozialdisziplinierenden Maßnahmen die allgemeine Lebensführung  auch den christlichen Moralvorstellungen angepasst. Und auch das Arbeitsleben wurde auf Effektivität und Ordnung "getrimmt" und damit umfangreichen Diszplinierungsmaßnahmen unterworfen.

Müssiggang und Verschwendung wurden so mehr und mehr verpönt. Ihnen standen die aus der ▪ neostoizistischen Tugendlehre stammenden Tugenden virtus, disciplina, oboedientia entgegen, die als "die Ordnungsbegriffe der Untertanen des Absolutismus, der Bürokratie und des Militärs, der beiden institutionellen Stützen des frühmodernen Staates" (ebd., S.288) waren. Pflichterfüllung, Fleiß, Nützlichkeit, Gehorsam und Affektkontrolle standen dabei stets im Dienste der übergeordneten Ordnung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens.

Abweichendem Verhalten, hier kommt spätestens auch das Konzept von »Nobert Elias' (1897-1990) wieder ins Spiel, sollte auch über die Internalisierung der neuen Regeln in der sozialdisziplinierten Untertanengesellschaft jedenfalls so wenig Raum wie möglich bleiben.

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 30.01.2024

 
 

 
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