In Europa gibt es keinen "Normalweg" (Schorn-Schütte
2009,
S.98) zur Entstehung einer modernen Staatlichkeit, "an dem alle anderen Wege
zu messen wären." (ebd.)
Nicht immer führt er über die sukzessive Monopolisierung staatlicher Gewalt durch eine
absolute, vom Gottesgnadentum legitimierte monarchisch-fürstliche Spitze,
also salopp gesagt "ganz von oben", sondern auch über ▪
andere Wege mit weitaus mehr Akteuren.
In den Kategorien der älteren Geschichtswissenschaft gesprochen, geht es
dabei um "einen langsamen Prozess der Ansammlung von Herrschaftsrechten in
der Hand von Landesfürsten" (ebd.,
S.97), die als "Übergang vom »Personenverbandsstaat«
zum »institutionellen Flächenstaat«"
(Mayer 1939, zit. n.
ebd.)
charakterisiert worden ist, Es dauerte seine Zeit, bis "aus der persona verbundenen Gemeinschaft des Adels als
Herrschaftsstand mit eigenem Recht" (ebd.),
eine neue Ordnung geschaffen wurde, in der es galt die "in langer Tradition
wurzelnde(n) Partikularinteressen von Klerus, Adel und Stadtbürgertum (...)
abzuschleifen zugunsten eines »gemeinen Besten«, das zunehmend von oben
verordnet wurde, durch den Staat und seine mit einer umfassenden
Polizeigesetzgebung steuernd und ordnend eingreifenden Bürokratie." (Schilling
1987, S.155)
"Von oben", also dominiert von der monarchisch-fürstlichen Spitze, ging dies
vor allem in den Großterritorien Deutschlands wie z. B. Brandenburg-Preußen,
Österreich, Sachsen und Hannover vonstatten, während viele andere mittlere
und kleinere Territorien entweder lange "»Schwellenstaaten«" (Schilling
1994a, S.135) auf dem Weg zu moderner Staatlichkeit blieben oder, allein
auf sich gestellt und eben zu klein, dazu mit räumlich zum Teil weit
auseinander liegenden Herrschaftsgebieten essentielle Voraussetzungen für
eine solche Entwicklung überhaupt nicht besaßen und sogenannte
"»Minderstaaten«" (ebd.)
blieben.
Der moderne Staat hält die Schlüsselmonopole staatlicher Gewalt in
seiner Hand
Dass allein die Institutionen des modernen Staates, in den westlichen
Demokratien (▪
Strukturprinzip Demokratie) in einem historisch entstandenen
ausgeklügelten System der ▪
Gewaltenteilung
(legislative, exekutive und judikative Gewalt), in einem insgesamt ▪
rechtsstaatlichen und an Garantien der ▪
Grundrechte
seiner Bürgerinnen und Bürger das öffentliche und in beschränkter Weise auch
das private Leben der Menschen "regulieren" dürfen, ist Teil unseres ▪
heutigen Staatsverständnisses. Allerdings
kann, salopp gesagt, auch ein demokratischer Staat nicht einfach tun und
lassen, was er will, zumal sich seine Akteur*innen, bei uns z. B.
maßgeblich die politischen ▪
Parteien,
in regelmäßigen Abständen in ▪
Wahlen
und Abstimmungen zur Wahl ( ▪
Formen politischer
Beteiligung) stellen müssen (Volkssouveränität).
Jedenfalls ist es für uns heute, klar, dass nur der Staat
-
Steuern erheben darf
("Schutzgeld"erpressungen oder ähnliches sind kriminell)
-
bewaffnete Streitkräfte
und eine (bewaffnete) Polizei unterhalten darf ("Privatarmeen" oder so
etwas wie eine selbsternannte »"Scharia-Polizei",
die als eine Art »islamischer
Religionspolizei als islamische Moralwächter auf Rundgängen
patrouillieren, sind verboten und der Waffenbesitz steht, im Gegensatz
z. B. zum »Waffenrecht
der USA, bei uns einer strengen stattlichen Kontrolle)
-
die strafrechtliche
Verfolgung mit den im »Grundgesetz
der Bundesrepublik Deutschlandz und im »Strafrecht
vorgesehenen Maßnahmen organisieren und durchsetzen darf (»Verbot
der Todesstrafe, »Schutz
vor willkürlicher Verhaftung, Verhängung von »Geld-
und »Freiheitsstrafen,
keine »Volks-
bzw. Lynchjustiz)
-
Pässe und ähnliche
Urkunden (Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden etc.) ausstellen darf
(die Urkunden der rechtsextremen »"Reichsbürger",
die die Legitimation der Bundesrepublik Deutschland als souveränem Staat
bestreiten und deren Rechtsordnung ablehnen, sind ungültig und rechtlich
unwirksam, und auch eine »Vielehe
zu schließen und in diesem Sinne polygam zu leben, ist
in Deutschland im Allgemeinen ein Straftatbestand)
-
verlangen kann, dass wir
unseren Wohnsitz angeben müssen und bei einem Wechsel neu zu
registrieren haben (»Meldepflicht)
-
neue Gesetze und
Verordnungen erlassen und andere außer Kraft setzen kann (z. B.
Corona-Verordnungen während der »COVID-19-Pandemie,
»Klimaschutzgesetze
etc.)
Diese Liste ließe sich natürlich nach Belieben verlängern und dient hier nur
zur Verdeutlichung. Sie soll einen kleinen Einblick in die für moderne Staatlichkeit
unerlässliche Monopolstellung der staatlichen Gewalt geben und dazu dienen,
das Eigene im Fremden zu entdecken.
Die Erlangung von Schüsselmonopolen im Zuge der frühneuzeitlichen
Staatsentwicklung
Auf dem
Weg zum modernen Staat kommt es in zahlreichen landständisch verfassten
Territorien zu Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den souveränen
Fürsten und ihren jeweiligen Standesvertretungen. Sie haben ihren Ursprung
in der nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges eintretenden
"Krisensituationen, die die Unfähigkeit der alten Ordnungskräfte erweisen,
territoriale und soziale Desintegration zu verhindern, die die - wiederum in
sich konfessionell zerrissenen - Stände überfordern und die fast
zwangsläufig das Gesetz des Handelns in die Hand eines entschlossenen
Fürsten legen, der die bisherigen Beschränkungen seiner Macht mehr oder
weniger energisch beseitigt, also es versteht, sich von den Ständen zu
emanzipieren oder sie in eine bedeutungslose Nebenrolle abzudrängen." (Duchardt
1998, S.36)
Für die innere und äußere Konsolidierung der vergleichsweise jungen Territorialstaaten war es
unerlässlich, "Individuen und Gruppen mit
Sonderrechten in den als homogen begriffenen Untertanenverband einzufügen."
(Schilling
1987, S.155) Und dieses Ansinnen war in einer Gesellschaft, die sich
durch ihre "bunte Vielfalt von sozialen Gruppen eigenen Rechts und
besonderer Lebensführung" (ebd.,
S.148) auszeichnete, nicht gerade einfach.
Die Entstehung des frühmodernen Staates im 17. Jahrhundert mit einer in
einer obersten Gewalt konzentrierten Staatlichkeit erfolgte im Kern über
zwei Entwicklungsprozesse.
-
Zum einen musste sich
eine staatliche Zentral- und Lokalverwaltung entwickeln, "die getragen
wurde von den Fürsten als den Inhabern jener Staatsgewalt verpflichteten
Beamtenschaft mit umfassender Regierungs- und Verwaltungskompetenz". (Schilling
1987, S.153)
-
Zum anderen mussten
alle anderen Personen und Institutionen, die traditionell
(herrschaftliche bzw. staatliche) Gewalt ausübten, ausgeschaltet werden.
Der Vorgang, wie die Stände in den entstehenden einheitlichen
Untertanenverband nach und nach eingebunden wurden, wird als
Mediatisierung bezeichnet.
Im Allgemeinen konnten neue Ordnungen und Gesetze überall in Europa nur im
Zusammenwirken von monarchisch-fürstlicher Spitze und den Vertretungen der
Stände (meistens Adel, Klerus und Bürgertum) erlassen werden. Dieses
Grundprinzip, bei dessen Umsetzung es immer wieder zu Spannungen bis hin zu
gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, bestimmte den
dualistischen Ständestaat der
Frühen Neuzeit. Der hochadelige Landesherr konnte die wesentlichen
Entscheidungen (Erhebung von Steuern, dynastische Fragen, Entscheidung über
Krieg und Frieden) nur in Abstimmung mit den Ständen treffen. (vgl. Schorn-Schütte
2009, S.90)
Das stehende Heer als Basis der äußeren Souveränität
Eines der
Schlüsselmonopole der territorialen Staatsentwicklung war der Aufbau
eines stehenden Heeres in den Territorien des Alten Reiches, die
dazu in der Lage waren. Schon der Westfälische Friede hatte bei
seiner "weitgreifenden Reaktivierung der Reichswehrfassung" (Schilling 1994a, S.118f
.), mit der die Sicherheit des Reiches nach außen gewährleistet
werden sollte, den Landesherren die "reichsrechtlich sanktionierte
Handhabe" gegeben, ihre Untertanen zur Rekrutierung des stehenden
Heeres heranzuziehen.
Bis dahin war dies rechtlich nicht möglich,
weil das »Land« im dualistischen Ständestaat nur dann zu
militärischer Hilfe mit Geld oder Waffendienst verpflichtet war,
wenn tatsächlich Kriegshandlungen zu erwarten waren. Was also auf
eigentlich zur Stärkung der militärischen Schlagkraft des Reiches
gedacht wurde, führte so am Ende vor allem zu einer Stärkung der
"armierten" Mittel- und Großstaaten, die sich ein stehendes Heer
leisten konnten, dies nicht nur in ihren Territorien, sondern auch
im Reich, indem sich die nicht-armierten Staaten von den armierten
vertreten ließen.
Die Reform der
Reichsverfassung legte die Wehrsteuerhoheit endgültig in die Hände
der Landesherren, die diese aber nicht immer widerstandslos
gegenüber dem Land und den Ständen durchsetzen konnten, wie das
Beispiel des sogenannten ▪
Königsberger
Aufstandes Mitte des 17. Jahrhunderts zeigt. Unter den
rechtlichen Voraussetzungen der Reichswehrfassung konnten die Stände
und Untertanen auch vom Reich und seinen Institutionen auch "keine
Rechtshilfe mehr erwarten, wenn ihr Landesherr ihre Stadt zur
Festung erklärte und Handel und Wandel dadurch zum Erliegen kamen
oder wenn - wie bald in Brandenburg-Preußen - die Bauernsöhne
bestimmter Distrikte zur Armee gepresst wurden" (ebd., S.120).
Solche
Zwangsaushebungen von Soldaten waren auch immer wieder ein Mittel
von Fürsten, um ihre für Machtenfaltung und Machtrepräsentation so
ungeheuer wichtige höfischen Prachtenfaltung und Prasserei mit einem
▪
Soldatenhandel zu finanzieren.
So
vermieteten sie auf der Grundlage von sogenannten Subsidienverträgen
vollausgestattete Truppenkontingente an verschiedene Reichskreise
oder verkauften die zum Militärdienst gepressten "Landeskinder"
z. B. als
Soldaten 1775 wie eine Ware an die Engländer, um sie auf deren Seite
in den »Amerikanischen
Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) gegen die aufständischen
Siedler zu schicken. (Prignitz1991,
S.14).
Die neue Staatlichkeit formierte sich dadurch, dass sie sich
Schlüsselmonopole staatlicher Gewalt sicherte. Dazu gehörte neben der
▪ territorialen Herrschaft des Landesherrn über das religiöse Bekenntnis auch
die Angliederung und
Aufsicht über die Kirchenverwaltung und die Übernahme
von Aufgaben, für die bis dahin die da noch autonomen Kirchen zuständig
waren. Dazu zählten z. B. die "so wichtigen Aufsicht über Ehe- und
Familie, der Übernahme des Schul- und Erziehungswesens sowie der Armen- und
Sozialfürsorge." (Schilling
1987, S.154) Zugleich erschloss die direkte oder indirekte Aufsicht über
das Vermögen der Kirche den Landesherren auch neue Finanzquellen, die sie
dringend für den personellen und in institutionellen Aufbau staatlicher
Behörden benötigten. Hinzu kam noch, dass sich
die Fürsten auf der Grundlage ihrer neuen und herausragenden Stellung im
religiösen System eine neue, gegenüber dem Personenverband und seiner
personenrechtlichen Beziehungen (Treuverhältnis) grundlegend andere
Legitimation ihrer Gewalt gaben, die das neue Gewaltmonopol ideologisch
stabilisierten: Als "Retter des Glaubens (praecipua fidei)" wurde ihnen
fortan eine "sakrosankte Dignität" zugesprochen, "was den Untertanen durch
den Gottesgnadentitel, den nun jeder Fürst trug, sowie durch die
allsonntägliche Fürbitte für den Landesherrn und seine Familie stets aufs
neue vergegenwärtigt wurde." (ebd.)
Das sogenannte Gottesgnadentum führte mit seiner religiösen Übersteigerung
dabei auch zur "Entpersönlichung des Staatsprinzips" (ebd.).
Nach außen hin trug die
Konfessionalisierung ebenfalls zur Stabilisierung der Landesherrschaft bei.
Sie förderte nämlich die Abgrenzung von anderen Territorien, die eine andere Konfession
hatten und bewirkten die
Entwicklung von distinktiven
sozial-kulturellen Mentalitäten und Verhaltensformen, die sich in
manchen Dingen zwischen katholisch oder protestantisch geprägten Regionen,
aller Modernisierungsprozesse zum Trotz, sogar noch bis heute beobachten
lassen. Noch gerade 70 Jahre ist es her, dass etliche protestantische
Flüchtlinge aus dem Osten, die man in erzkatholischen Gebieten Bayerns auf
Anweisung der Behörden unterbrachte, sozial in einer Weise ausgegrenzt
wurden, wie man sich das heute kaum mehr vorzustellen vermag.
Auch wenn es immer wieder
zu Spannungen mit der Staatsmacht kam, hatten die ▪
territorialen
Konfessionskirchen ein großes eigenes Interesse daran, den
politisch-gesellschaftlichen Transformationsprozess nach Kräften zu stützen
und, wo es ging, eigene Akzente zu setzen. Die erforderliche
▪ Sozialdisziplinierung der neuen "Untertanengesellschaft"
war neben den
staatlichen Institutionen vor allem ihr ureigenes Geschäft und wurde ganz
entscheidend von ihr mit religiösen Konzepten mitgestaltet.
Dass der für die
Modernisierung von Staat und Gesellschaft nötige
"sozialpsychologische Wandel, der die Einstellungen und Haltungen,
die Mentalität der Menschen von Grund auf veränderte" (vgl.
Schilling 1994,
S.368) vorankam, war vor allem den großen Konfessionskirchen
geschuldet, die mit ihrer ▪ "Kirchenzucht"
diesen Wandel maßgeblich mitgesteuert und geprägt haben.
Dabei wird bei
unterschiedlicher Akzentuierung der Konzepte die zunehmende
"Selbstdisziplinierung des Einzelnen und die von den staatl. Eliten
angeleitete Disziplinierung von Adel, Ständen, Hof (Zeremoniell),
Bürokratie (Leistungsprinzip), Militär (Drill) und Untertanen" als
eine Entwicklung verstanden, bei der beide Komponenten "in
einem zielgerichteten, säkularen Prozess der Umformung zusammen(wirkten)".
(Holenstein 2013)
Neben der allgemeinen »Kirchenzucht
zur Sicherstellung der kirchlichen Ordnung und Lehre und der bischöflichen
Gerichtsbarkeit waren es vor allem die Pfarrer, die mit ihren Hausbesuchen
und Visitationen ein mehr oder weniger strenges Auge auf Leben und Moral der
Menschen hatten. Dabei hatten sie auch allem das sexuelle Verhalten der
Bevölkerung im Visier, das noch im 16. Jahrhundert, zumindest nach außen
hin, vergleichsweise freizügig erschien. (vgl.
Schilling 1994,
S.368f.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.09.2023
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