Das zehnte Kapitel des 1. Teils des Romans, in dem es um die Affäre von
Michael Berg und Hanna Schmitz in der Zeit zwischen Februar und Sommer
1958 geht, besitzt sowohl für die Beziehung der beiden Hauptfiguren
während dieser Zeit, als auch für die Probleme, die der erwachsene
Ich-Erzähler später mit der Verarbeitung der Beziehung hat, eine
herausragende Bedeutung.
Am ersten Tag seiner Osterferien will Michael Hanna, die als
Straßenbahnschaffnerin beschäftigt ist, frühmorgens auf einer Fahrt von
Eppelheim nach Schwetzingen bei der Arbeit mit einem Besuch überraschen.
Er steigt dazu in den hinteren der beiden Waggons ein und hofft, dass
Hanna, die sich im vorderen Waggon mit dem Fahrer unterhält, zu ihm kommt.
Doch Hanna ignoriert ihn, so dass Michael völlig enttäuscht, unterwegs
irgendwo aussteigt und sich zu Fuß auf den Weg zu Hannas Wohnung macht, um
sie dort nach der Arbeit zur Rede zu stellen.
Als Hanna nach Hause kommt, entwickelt sich ein Streit zwischen den beiden
über die Vorgänge in der Frühe, der so heftig ist, dass Michael, der sich
ganz zu Unrecht von Hanna den Vorwurf anhören muss, er habe sie ignoriert,
die Wohnung verlässt mit der festen Absicht, nie mehr wiederzukommen.
Aber eine halbe Stunde später steht er wieder vor ihrer Tür und nimmt alle
Schuld auf sich. Mit dem Vollzug des an dieser Stelle um das sonst übliche
Vorlesen reduzierte Ritual des Badens, Liebens und Beieinanderliegens wird
die Versöhnung zwischen beiden sexuell und äußerlich vollzogen.
In den Betrachtungen des erzählenden Ichs, die das Kapitel abschließen,
erscheint das Ganze jedoch wie ein von Hanna inszeniertes Machtspiel und
seine bedingungslose Kapitulation vor ihr als von da an stets
wiederkehrendes Verhaltensmuster in Konfliktsituationen mit Hanna.
Die Handlung des Kapitels, das sich - sieht man von den Betrachtungen
und Reflexionen des
erzählenden Ichs ab - an
wenigen Stunden eines Tages abspielt (=
erzählte Zeit), lässt sich
inhaltlich in 5
Sinnabschnitte unterteilen.
Dabei beinhalten die ersten zwei und der vierte Abschnitt, die
hauptsächlich aus der Perspektive des jungen Michael (=
erlebendes bzw. erinnertes Ich)
erzählt werden, das Geschehen an diesem Tag und die Gedanken und Gefühle
des jungen Michael (=äußere und innere Handlung). Eingeschoben dazwischen
finden sich im dritten Sinnabschnitt und im letzten Reflexionen des
erzählen Ichs über das Geschehen aus der Distanz von etwa 35 Jahren.
Im ersten Sinnabschnitt wird erzählt, wie sich Michael frühmorgens
aufmacht und die Straßenbahn besteigt und von Hanna ignoriert wird. Im
zweiten Abschnitt verlässt er den Waggon und macht sich zu Fuß auf den
Weg. Mit seiner Sicht auf das Geschehen aus der Retrospektive kommentiert
das erzählende Ich im dritten Abschnitt das Geschehen als bösen Traum. Im
vierten Sinnabschnitt wird die Auseinandersetzung von Hanna und Michael
über die morgendlichen Ereignisse erzählt, die der erwachsende Michael im
letzten Sinnabschnitt noch einmal kommentiert.
Anlass der Auseinandersetzung zwischen Michael und Hanna im Anschluss an die
"gemeinsame" Straßenbahnfahrt ist zunächst wohl ein
Missverständnis. Während Michael, wie er später sagt, Hanna überraschen will
und erwartet, dass sie sich über diesen Besuch freut, sieht Hanna die
Sache ganz anders. Sie interpretiert, jedenfalls
äußert sie sich so, Michaels Einsteigen im hinteren Waggon als
Verleugnung, während dieser sich davon "Privatheit, einen Umarmung, einen
Kuss" (S.45) erhofft.
Die Art und Weise allerdings, wie beide mit dem
Verhalten des jeweils anderen umgehen, wie heftig die emotionalen Reaktionen vor
und während des anschließenden Streits ausfallen, lässt vermuten, dass
sich hinter der Oberfläche doch mehr und anderes verbirgt. Dass die
Ursachen des Konflikts woanders zu suchen sind, scheint auch
der erwachsene Michael zu merken, als er am Ende des Kapitels vermutet,
das Ganze sei ein "Machtspiel" Hannas gewesen, das sie habe gewinnen
wollen (vgl. S.49). Dass außerdem der Anlass dieses Konflikte
"eigentlich ohne Bedeutung" gewesen ist, sein "Ergebnis" aber, die
bedingungslose Kapitulation vor Hanna (vgl. 50) um so mehr, davon scheint
der Ich-Erzähler aus der Distanz seiner Jahre überzeugt.
Das Verhalten Michaels in der Straßenbahn und während des nachfolgenden
Streits erklärt sich zunächst einmal aus der Gefühlslage, in der er sich
in dieser Zeit befindet. In den Wochen vor der Straßenbahnfahrt fühlt er
sich "vollkommen
glücklich" (S.44).Er hat seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Hanna
hinter sich, den ersten Konflikt mit Hanna über seine Schulleistungen (1.
Teil, Kap. 8, S.36) mehr oder weniger unbeschadet hinter sich und ist in
seinen Gefühlen dennoch hin- und hergerissen, weiß nicht recht, ob das,
was er für sie empfindet, Liebe oder nur sexuelle Lust ist (vgl. S. 36).
Die Motive, die Michael bewegen, Hanna bei ihrer Arbeit zu besuchen,
liegen in seiner wachsenden Zuneigung zu Hanna begründet und auch in dem
Wunsch, in die von der übrigen Welt vollkommen abgeschottete, von wenigen
Kenntnissen über die Person Hannas gekennzeichnete Beziehung, einen
lebensweltlichen Bezug hineinzubekommen, ohne den schließlich keine
"normale" Beziehung auskommen kann.
Dass Hanna ihn während der Fahrt
ignoriert, obwohl sie ihn, wie der Erzähler vermutet, von Anfang an
gesehen hat, und ihn
körpersprachlich noch dazu offensiv zurückweist,
indem sie sich demonstrativ weiter mit dem Fahrer unterhält, verletzt
Michael sehr. Zwar versucht er diesem Affront mit gleichen Mitteln zu
begegnen, indem er sich bewusst auf die vordere Plattform des Waggons
stellt, um "Hanna zu fixieren" (S.46), doch seine Hoffnung, dass Hanna,
sobald sie seinen "Blick in ihrem Rücken spüren" würde, einlenken würde,
erfüllt sich nicht. Stattdessen stürzt er in tiefe Verzweiflung: "Aber ich
fühlte mich ausgeschlossen, ausgestoßen aus der normalen Welt, in der
Menschen wohnen, arbeiten und lieben. Als sei ich verdammt zu einer ziel-
und endlosen Fahrt im leeren Wagen." (S.46)
So ist Michael im zweiten Sinnabschnitt, nachdem er die Straßenbahn
verlassen hat, vollkommen niedergeschlagen, und lässt seinen Tränen auf
seinem Fußweg nach Hause freien Lauf (S. 47). Dabei muss ihn wohl seine
Vorstellung, dass ihm Hanna und der Schaffner gar noch hinterhergelacht
hätten (S.46), besonders geschmerzt haben.
Der erwachsene Michael Berg vergleicht im dritten Sinnabschnitt diese
Gefühle im Nachhinein mit einem bösen Traum (vgl. S. 47), wenngleich er
sich ebenso bewusst ist, dass einen "das Aufwachen aus einem bösen Traum
... nicht erleichtern" muss. " Es kann", so fährt er fort, "einen auch
erst gewahr werden lassen, was man Furchtbares geträumt hat, vielleicht
sogar welcher furchtbaren Wahrheit man im Traum begegnet ist." Der junge
Michael freilich scheint, als er diese Situation erlebt, zwar von der
Wucht seiner Emotionen überrascht, allerdings noch ohne tieferes
Verständnis für die möglichen Hintergründe.
Seine mangelnde Einsicht in die möglichen Hintergründe des Verhaltens von
Hanna wird daher auch sichtbar, als er "traurig, ängstlich und
wütend" (S.47) vor Hannas Wohnung wartet, um sie nach ihrer Rückkehr von
der Arbeit zur Rede zu stellen.(S.48) Dieser Gefühlwirrwarr steht ganz
offenkundig einer weiteren nüchternen Analyse dessen, was am Morgen
passiert ist, entgegen. Dies wird auch in der der nachfolgenden Auseinandersetzung mit Hanna
schon bald deutlich.
In Form
szenischer Darstellung, bei der die
direkte
Rede der Beiden nur hin und wieder mit kommentierenden Bemerkungen des
Erzählers unterbrochen wird, entwickelt sich der Streit in zwei Phasen. Im
ersten Teil des Gesprächs geht es um die Ereignisse am Morgen und ihre
Interpretation. Im zweiten Teil um die unmittelbaren Auswirkungen des
Streits auf Michael.
Als Hanna, von ihrer Arbeit nach Hause kommend, Michael vor ihrer Wohnung
vorfindet, macht sie ihm mit einer Frage, die an den ersten Konflikt
zwischen ihnen über die Schulleistungen Michaels (vgl. 1. Teil, Kap. 8,
S.36) anknüpft, sofort einen Vorwurf. "Schwänzt du wieder die Schule?"
fragt sie völlig unvermittelt und will damit das Heft für die kommende
Auseinandersetzung in der Hand halten; denn schließlich war es auch Hanna
gewesen, die in dem ersten Streit die Oberhand behalten hatte. Doch
Michael lässt sich zunächst nicht beirren und verlangt von Hanna eine Erklärung für
ihr morgendliches Verhalten. Als sie dies abtun will ("Was soll heute
morgen losgewesen sein?", S.47), fordert Michael eine konkrete Antwort auf
die Frage: "Warum hast du getan, als kennst du mich nicht?". Hanna
unterbricht ihn sofort und kehrt die Frage um, während sie ihm "kalt ins
Gesicht" sieht, um ihre Dominanz zu unterstreichen. Als Michael daraufhin
mit ein paar kurzen Worten Gelegenheit hat, seine durch und durch gut
gemeinten und "harmlosen" Motive darzulegen, wird er erneut unterbrochen.
Hanna wischt diese Erklärungen mit einer ironischen Bemerkung vom Tisch
und setzt ihn mit ihrer Bemerkung: "Du armes Kind." (S.48) herab, ehe sie
ihn auffordert, die Wohnung zu verlassen. Auch Michaels weitere
Beteuerungen, die an die Vernunft Hannas appellieren, können nichts
bewirken. Hanna postiert sich hinter dem Küchentisch als Beziehungssperre
und wertet Michael mit weiteren
körpersprachlichen Signalen
(Blick, Stimme und
Gesten), die ihm das Gefühl
geben ein "Eindringling"
zu sein, erneut ab und will weiter, dass er geht.
Als sich Michael daraufhin wohl frustriert und mit einem Anflug von
Renitenz statt zu gehen, auf das Sofa niedersetzt, wendet sich das
Gespräch. Während Michael im vorangegangenen Streitgespräch noch "empört"
versucht hat, Hanna Paroli zu bieten, leiten seine aufkommenden
Selbstzweifel die nachfolgende "Kapitulation" ein. Dabei vollzieht sich
dieser Wechsel so abrupt, dass Michael während des Streits mit Hanna ein
Wechselbad der Gefühle erleiden muss, wie es wahrscheinlich für einen
Fünfzehnjährigen in der
Adoleszenz mit der dafür
typischen Gefühlslabilität und der Suche nach der eigenen Identität,
grundsätzlich betrachtet, nicht überraschend ist. So stellen sich dem
erlebenden Ich des jungen Michael eine Reihe von Fragen, deren wichtigste
ist: "Hatte ich sie verletzt, ohne meine Absicht, gegen meine Absicht,
aber eben doch verletzt?" (S.48) Seine zuvor noch so
emphatisch betonte Empörung
über Hannas haltlose Vorwürfe ist damit Schuldgefühlen gewichen, die von
Verlustängsten genährt werden. Als Michael sich entschuldigt, zugleich
aber auch erklären will, wie alles gekommen ist, wird er von Hanna erneut
unterbrochen, die ihren Sieg im "Machtspiel" völlig auskostet und Michael
mit der Zurückweisung seiner Entschuldigung weiter erniedrigt. Mit der
Bemerkung "Du kannst mich nicht kränken, du nicht." (S.49) bohrt sie
weiter in der Wunde und gibt Michael das Gefühl völliger
Selbstüberschätzung. Als Michael sich völlig konsterniert, immer noch
weigert zu gehen, zieht sie sogar ein weiteres Register, um Michael zu
zeigen, wie unerreichbar sie für ihn ist, wenn sie nicht will. Vor seinen
Augen lässt sie das Badewasser einlaufen und zieht sich aus, wie
anzunehmen ist, wohlwissend, was dieses "Spiel" für Michael bedeutet:
Entweder du funktionierst so, wie ich mir das vorstelle, oder ich entziehe
dir meine Zuneigung.
Als Michael darauf die Wohnung verlässt, tut er dies offenbar zunächst in
dem Glauben, die Beziehung mit Hanna für immer zu beenden. Was Michael in
der halben Stunde durch den Kopf geht, bis er wieder vor Hannas Türe
steht, wird indessen vom Erzähler ausgespart.
So erscheint es nach allem bisher Gewesenen geradezu wie
selbstverständlich, dass Michael nach einer halben Stunde reumütig zu
Hanna zurückkehrt und alles, ohne jedes Wenn und Aber, auf sich nimmt:
"Ich hatte gedankenlos, rücksichtslos, lieblos gehandelt. Ich verstand,
dass sie gekränkt war. Ich verstand, dass sie nicht gekränkt war, weil ich
sie nicht kränken konnte. Ich verstand, dass ich sie nicht kränken konnte,
dass sie sich mein Verhalten aber einfach nicht bieten lassen durfte."
(S.49) Sieht man allerdings genauer hin, was das erlebende Ich zu
verstehen vorgibt, so ergibt sich geradezu ein Bild geistiger Verwirrung,
das seine Urteilsfähigkeit trübt. Irgendwie scheinen sich aufbegehrende
Gefühle und angepasster Verstand gegenseitig bei der Wahrnehmung und
Urteilsfindung zu hemmen, wenn einmal davon die Rede ist, Hanna sei
gekränkt gewesen, und dann wieder davon, dass dies überhaupt nicht sein
könne. Entscheidend ist allerdings der Akt seiner Unterwerfung unter die
autoritäre Macht Hannas über ihn, die in den Worten mündet, sie habe sich
sein "Verhalten einfach nicht bieten lassen" können.
Auf dem Hintergrund dieser Unterwerfung ist Hannas Eingeständnis, er habe
sie verletzt, selbst wenn ein Funke Wahrheit darin sein sollte, ebenso
Makulatur, wie ihr einverständliches Nicken auf die auf
Selbstvergewisserung eines erniedrigten Jugendlichen ausgerichteten
Fragen: "Verzeihst du mir?" bzw. "Liebst du mich?" (S.49). Mit ihrem
Angebot, wieder zu ihrem Ritual überzugehen ("Komm ich bade ich?"), nimmt
sie eine Art "Reinwaschung" für Michael vor, die zugleich ausdrückt, dass
sie es weiterhin ist, die die Kontrolle über die Beziehung und den
minderjährigen Michael besitzt. Nach dem Vollzug des Rituals des Badens,
Liebens und Beieinanderliegens lässt sie sich denn auch von Michael
erzählen, warum er am Morgen in den hinteren Wagen eingestiegen ist.
(S.49) Bemerkenswert immerhin, wie wenig Platz dies beim Erzählen
einnimmt. Denn nur eines scheint dem Erzähler in Erinnerung davon
geblieben zu sein, nämlich dass sie ihm im Anschluss daran sogar mit einer
vordergründig koketten, in Wahrheit aber von oben herab gesprochenen
Bemerkung geneckt habe: "Sogar in der Straßenbahn willst du's mit mir
machen? Jungchen, Jungchen!" (S.50f.) Die Rückkehr zu der ihre Dominanz
unterstreichenden Ansprache Michaels als "Jungchen" und ihre gleichzeitige
bewusst einseitige Fehlinterpretation der Motive Michaels zieht in den
Augen des erlebenden Ichs allerdings einen entlastenden Schlussstrich
unter das Ganze.
Doch in Wahrheit ist es anders. Sein Bemühen, die Beziehung zu Hanna zum
lebensweltlichen Kontext hin zu öffnen, ist gescheitet und damit seine im
Nachhinein wohl etwas naive Vorstellung, die Beziehung zu Hanna auf
Gleichberechtigung zu gründen.
Der Versuch, sich gegenüber Hanna zu behaupten, schlägt fehl und endet in
einer für Michael und im Grunde sein ganzes späteres Leben beeinträchtigenden
Katastrophe: seiner bedingungslosen Kapitulation und den Sturz in sexuelle
Hörigkeit verbunden mit Schuldgefühlen, die das traumatisiert, was im
Februar so ungemein "aufregend" für Michael begonnen hat: das Erlebnis der
eigenen Sexualität mit einem andersgeschlechtlichen Partner.
Davon, so gewinnt man den Eindruck, hat auch der erwachsene Erzähler nach
35 Jahren eine Ahnung, ohne dass ihm das Ganze wirklich hinreichend
bewusst zu sein scheint. Immerhin ahnt er die Tragweite dieses Konfliktes
und erkennt, dass das Ergebnis der Auseinandersetzung nachhaltige Folgen
für ihn hatte. So nimmt der junge Michael nach dieser Kapitulation Dinge
auf sich, die er nicht getan hat, gibt Fehler zu, die er nie begangen hat,
und bekennt sich Hanna gegenüber zu Absichten, die er nie gehabt hat. Es
genügt in der Folgezeit, das muss sich das erzählende Ich eingestehen,
wenn Hanna "kalt und hart" wird, dass Michael sich ihr unterwirft. Auch
wenn er dabei, gleichsam um sich zu entschuldigen, darauf hinweist, er
habe das Gefühl gehabt, "als leide sie selbst unter ihrem Erkalten und
Erstarren" (S.50), ist der Preis hoch, den Michael zahlt. Er weiß, dass
sie einfach über ihn triumphiert hat, glaubt freilich eh keine Wahl mehr
gehabt zu haben. Und genau dies ist es, was von dieser Szene ausgeht: Die
sexuelle Hörigkeit ist Tatsache geworden, die Michael um den Preis der
Selbsterniedrigung und Selbstverleugnung aufrecht erhalten muss, um der
mit Schuldgefühlen belasteten "Selbstvernichtung" bei einem möglichen
"selbstverschuldeten" Entzug der Zuwendung Hannas zu entgehen. Und jeder
Versuch, diesem Teufelskreis durch ein offenes Gespräch mit Hanna zu
durchbrechen, wird von ihr mit der Androhung der Reinszenierung des
Machtspiels sanktioniert ("Fängst du schon wieder an?").
Die Motive Hannas für ihr Verhalten in diesem Streit lassen sich, da
der Roman in der
Ich-Perspektive von Michael Berg
erzählt wird, nur aus dem von diesem erzählten Verhalten und seinen
Vermutungen als erlebendes oder erzählendes Ich erschließen. Die Gedanken
Hannas, sowie Geschehen, das vom Erzähler nicht erlebt bzw. ihm zugetragen
wurde, sind dem Ich-Erzähler daher nicht verfügbar. Ähnlich wie Michael
ist ihr Verhalten während und nach der Straßenbahnfahrt ebenfalls zunächst
einem Missverständnis geschuldet. Da sie mit ihren 38 Jahren die Beziehung
zu Michael von Anfang an anders definiert als er, sie zugleich bemüht ist,
sich nicht als "echte" Person in ihrer Lebenswelt zu zeigen, und alles
tut, um ihre Vergangenheit wie auch ihren Analphabetismus gegenüber
Michael zu verbergen, muss sie den überraschenden Besuch Michaels als
Bedrohung und nicht zulässige Grenzüberschreitung durch Michael empfunden
haben.
Mit seinem eigentlich durch und durch harmlosen Besuch dringt Michael in
ihr gesellschaftliches Leben ein, das sie bewusst außen vor gehalten hat.
Nur sehr zögernd gibt ja sie Michael etwas über sich preis. Sie schottet
die Beziehung nach außen hin ab und der Vollzug ihres Rituals ist dazu ein
sichtbares Zeichen. Kümmert sich Michael zu sehr um sie und gelingt es ihm
dadurch, mehr über sie zu erfahren, läuft sie Gefahr auf drei
verschiedenen Ebenen "demaskiert" zu werden: als Analphabetin, als
NS-Verbrecherin und als Frau, die einen minderjährigen Jugendlichen
missbraucht. So nimmt es nicht Wunder, dass Hanna während der Fahrt mit
der Straßenbahn und im anschließenden Streit alles dafür tut, Michael zu
demütigen, den Status quo der Beziehung zu erhalten und ihre Dominanz und
Kontrolle über den heillos überforderten Jugendlichen zu bewahren. Sie
inszeniert das "Machtspiel", an dessen Ende sie so gestärkt als Siegerin
hervorgeht, dass sie Michael, um ihn ein Stück weit zu entlasten, mitunter
das Gefühl gibt, sie lasse sich auf sein Modell der romantischen Liebe
ein.
....
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.05.2024