Interpretationsaussagen am Text belegen
Bei einer ▪
Textinterpretation kommt es immer darauf an, dass Aussagen, die über den
zu interpretierenden Text gemacht werden, auch am Text belegt werden.
Der Textbeleg ist
erforderlich, um die Aussage ohne langes Suchen nachprüfbar machen.
Am
Beispiel von Interpretationsaussagen zu
▪
Franz Kafkas
Parabel "▪
Der
Aufbruch" aus einem Aufsatz Ulrich
Gaiers (1969), lässt
sich dies üben:
-
"Zunächst handelt dieser Mann nicht normal.
Er versteht einen sinnvollen Befehl nicht, so dass sein Herr selbst zum
Stall geht und das Pferd sattelt. Der Herr hört den Klang einer Trompete;
der Diener hört ihn nicht. Im ersten Teil der Geschichte fragt der Herr
normal und der Diener antwortet unnormal. Diese Verbindung hat den Effekt
einer Verfremdung der Situation für den Leser, indem sie ihn darüber
unsicher macht, ob die handelnden Personen normal sind. In diesem ersten
Teil der Geschichte tendiert der Leser sehr dahin, anzunehmen, der Diener
handele unnormal; [...] (These 1)
-
Im zweiten Teil jedoch handelt der Diener plötzlich normal.
Er hält seinen Herrn an, um ihn über die Reise und die Verpflegung zu
befragen. Aber jetzt gibt der Herr seltsame Antworten. [...](These
2) So wird die Haltung des Lesers den zwei Personen des Stückes gegenüber
umgedreht: was unnormal ist, wird normal, was normal ist, wird fremd und
paradox. Das Bewusstsein des Lesers wird so gezwungen, genau
nachzuvollziehen, was die Geschichte darstellt: einen Bruch, einen Wechsel
von der Sicherheit zur Ungewissheit.[…] Die Entwicklung des Herrn wird so dargestellt, dass er mit
allen Verbindungen und Beziehungen bricht: es wird deutlich, dass es nicht
nur eine Angelegenheit des Besitzes, der Verpflegung und der Sicherheit ist,
sondern dass diese Abreise der Ausdruck eines Bruches mit menschlichen
Verhältnissen darstellt. Indem der Herr die Arbeit des Knechtes ausführt,
wird schon angedeutet, dass die Herr-Knecht-Beziehung für ihn nicht mehr
existiert; seine Unfähigkeit, seine Absicht mitzuteilen, zeigt, dass er
innerlich schon das normale menschliche Verhalten hinter sich gelassen hat.
Seine Abreise ist radikal. Sie schreitet von außen nach innen fort, vom
Besitz zu den menschlichen Beziehungen. […]"
(aus: Gaier, Ulrich: Chorus of lies – on interpreting Kafka,
in: German Life an Letters, XXII, 1969, S.283-296; Übersetzung aus dem
Englischen von Erwin Leibfried, gekürzt, in: Leibfried, Erwin;
Interpretation, München: Bayerischer Schulbuch-Verlag, 3. Aufl. 1977, S.17)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.11.2023
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