Als Gregor Samsa eines Morgens
aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem
ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten
Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen,
von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die
Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte.
Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine
flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
"Was ist mit mir geschehen?" dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein
richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier
wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinander gepackte
Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war - Samsa war Reisender -,
hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift
ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht
hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa
versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer
Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.
Gregors Blick richtete sich
dann zum Fenster, und das trübe Wetter - man hörte Regentropfen auf das
Fensterblech aufschlagen - machte ihn ganz melancholisch. "Wie wäre es, wenn
ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße", dachte er,
aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten
Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in
diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite
warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es
wohl hundertmal, schloss die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu
müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten,
leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann.
"Ach Gott", dachte er, "was für
einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein auf der Reise.
Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer als im eigentlichen Geschäft
zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die
Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer
wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr.
Der Teufel soll das alles holen!" Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem
Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf
besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen
weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und
wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn
bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.
Er glitt wieder in seine
frühere Lage zurück. "Dies frühzeitige Aufstehen", dachte er, "macht einen
ganz blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben
wie Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus
zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren
erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf
der Stelle hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich
wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst
gekündigt, ich wäre vor den Chef hingetreten und hätte ihm meine Meinung von
Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch
eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit
dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs
ganz nahe herantreten muss. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich
aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an
ihn abzuzahlen - es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern -, mache ich die
Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings
muss ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf."
Und er sah zur Weckuhr hinüber,
die auf dem Kasten tickte. "Himmlischer Vater!" dachte er. Es war halb
sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber,
es näherte sich schon drei Viertel. Sollte der Wecker nicht geläutet haben?
Man sah vom Bett aus, dass er auf vier Uhr richtig eingestellt war; gewiss
hatte er auch geläutet. Ja, aber war es möglich, dieses möbelerschütternde
Läuten ruhig zu verschlafen? Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber
wahrscheinlich desto fester. Was aber sollte er jetzt tun? Der nächste Zug
ging um sieben Uhr; um den einzuholen, hätte er sich unsinnig beeilen
müssen, und die Kollektion war noch nicht eingepackt, und er selbst fühlte
sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich. Und selbst wenn er den
Zug einholte, ein Donnerwetter des Chefs war nicht zu vermeiden, denn der
Geschäftsdiener hatte beim Fünfuhrzug gewartet und die Meldung von seiner
Versäumnis längst erstattet. Er war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat
und Verstand. Wie nun, wenn er sich krank meldete? Das wäre aber äußerst
peinlich und verdächtig, denn Gregor war während seines fünfjährigen
Dienstes noch nicht einmal krank gewesen. gewiss würde der Chef mit dem
Krankenkassenarzt kommen, würde den Eltern wegen des faulen Sohnes Vorwürfe
machen und alle Einwände durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt
abschneiden, für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue
Menschen gibt. Und hätte er übrigens in diesem Falle so ganz unrecht? Gregor
fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich
überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl und hatte sogar einen besonders
kräftigen Hunger.
Als er dies alles in größter
Eile überlegte, ohne sich entschließen zu können, das Bett zu verlassen -
gerade schlug der Wecker drei Viertel sieben -, klopfte es vorsichtig an die
Tür am Kopfende seines Bettes. »Gregor«, rief es - es war die Mutter -, »es
ist drei Viertel sieben. Wolltest du nicht wegfahren?« Die sanfte Stimme!
Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die wohl
unverkennbar seine frühere war, in die sich aber, wie von unten her, ein
nicht zu unterdrückendes, schmerzliches Piepsen mischte, das die Worte
förmlich nur im ersten Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im
Nachklang derart zu zerstören, dass man nicht wusste, ob man recht gehört
hatte. Gregor hatte ausführlich antworten und alles erklären wollen,
beschränkte sich aber bei diesen Umständen darauf, zu sagen: »Ja, ja, danke
Mutter, ich stehe schon auf.«
Infolge der Holztür war die
Veränderung in Gregors Stimme draußen wohl nicht zu merken, denn die Mutter
beruhigte sich mit dieser Erklärung und schlürfte davon. Aber durch das
kleine Gespräch waren die anderen Familienmitglieder darauf aufmerksam
geworden, dass Gregor wider Erwarten noch zu Hause war, und schon klopfte an
der einen Seitentür der Vater, schwach, aber mit der Faust. »Gregor,
Gregor«, rief er, »was ist denn?« Und nach einer kleinen Weile mahnte er
nochmals mit tieferer Stimme: »Gregor! Gregor!« An der anderen Seitentür
aber klagte leise die Schwester: »Gregor? Ist dir nicht wohl? Brauchst du
etwas?« Nach beiden Seiten hin antwortete Gregor: »Bin schon fertig«,
bemühte sich, durch die sorgfältigste Aussprache und durch Einschaltung von
langen Pausen zwischen den einzelnen Worten seiner Stimme alles Auffallende
zu nehmen. Der Vater kehrte auch zu seinem Frühstück zurück, die Schwester
aber flüsterte: »Gregor, mach auf, ich beschwöre dich.« Gregor aber dachte
gar nicht daran aufzumachen, sondern lobte die vom Reisen her übernommene
Vorsicht, auch zu Hause alle Türen während der Nacht zu versperren.
Zunächst wollte er ruhig und
ungestört aufstehen, sich anziehen und vor allem frühstücken, und dann erst
das Weitere überlegen, denn, das merkte er wohl, im Bett würde er mit dem
Nachdenken zu keinem vernünftigen Ende kommen. Er erinnerte sich, schon
öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten,
leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine
Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen
Vorstellungen allmählich auflösen würden. dass die Veränderung der Stimme
nichts anderes war als der Vorbote einer tüchtigen Verkühlung, einer
Berufskrankheit der Reisenden, daran zweifelte er nicht im geringsten.
Die Decke abzuwerfen war ganz
einfach; er brauchte sich nur ein wenig aufzublasen und sie fiel von selbst.
Aber weiterhin wurde es schwierig, besonders weil er so ungemein breit war.
Er hätte Arme und Hände gebraucht, um sich aufzurichten; statt dessen aber
hatte er nur die vielen Beinchen, die ununterbrochen in der verschiedensten
Bewegung waren und die er überdies nicht beherrschen konnte.
Wollte er eines einmal
einknicken, so war es das erste, dass er sich streckte; und gelang es ihm
endlich, mit diesem Bein das auszuführen, was er wollte, so arbeiteten
inzwischen alle anderen, wie freigelassen, in höchster, schmerzlicher
Aufregung. »Nur sich nicht im Bett unnütz aufhalten«, sagte sich Gregor.
Zuerst wollte er mit dem unteren Teil seines Körpers aus dem Bett
hinauskommen, aber dieser untere Teil, den er übrigens noch nicht gesehen
hatte und von dem er sich auch keine rechte Vorstellung machen konnte,
erwies sich als zu schwer beweglich; es ging so langsam; und als er
schließlich, fast wild geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht sich
vorwärtsstieß, hatte er die Richtung falsch gewählt, schlug an den unteren
Bettpfosten heftig an, und der brennende Schmerz, den er empfand, belehrte
ihn, dass gerade der untere Teil seines Körpers augenblicklich vielleicht
der empfindlichste war.
Er versuchte es daher, zuerst
den Oberkörper aus dem Bett zu bekommen, und drehte vorsichtig den Kopf dem
Bettrand zu. Dies gelang auch leicht, und trotz ihrer Breite und Schwere
folgte schließlich die Körpermasse langsam der Wendung des Kopfes. Aber als
er den Kopf endlich außerhalb des Bettes in der freien Luft hielt, bekam er
Angst, weiter auf diese Weise vorzurücken, denn wenn er sich schließlich so
fallen ließ, musste geradezu ein Wunder geschehen, wenn der Kopf nicht
verletzt werden sollte. Und die Besinnung durfte er gerade jetzt um keinen
Preis verlieren; lieber wollte er im Bett bleiben.
Aber als er wieder nach
gleicher Mühe aufseufzend so dalag wie früher, und wieder seine Beinchen
womöglich noch ärger gegeneinander kämpfen sah und keine Möglichkeit fand,
in diese Willkür Ruhe und Ordnung zu bringen, sagte er sich wieder, dass er
unmöglich im Bett bleiben könne und dass es das Vernünftigste sei, alles zu
opfern, wenn auch nur die kleinste Hoffnung bestünde, sich dadurch vom Bett
zu befreien. Gleichzeitig aber vergaß er nicht, sich zwischendurch daran zu
erinnern, dass viel besser als verzweifelte Entschlüsse ruhige und ruhigste
Überlegung sei. In solchen Augenblicken richtete er die Augen möglichst
scharf auf das Fenster, aber leider war aus dem Anblick des Morgennebels,
der sogar die andere Seite der engen Straße verhüllte, wenig Zuversicht und
Munterkeit zu holen. "Schon sieben Uhr", sagte er sich beim neuerlichen
Schlagen des Weckers, "schon sieben Uhr und noch immer ein solcher Nebel."
Und ein Weilchen lang lag er ruhig mit schwachem Atem, als erwarte er
vielleicht von der völligen Stille die Wiederkehr der wirklichen und
selbstverständlichen Verhältnisse.
Dann aber sagte er sich: "Ehe
es ein Viertel acht schlägt, muss ich unbedingt das Bett vollständig
verlassen haben. Im übrigen wird auch bis dahin jemand aus dem Geschäft
kommen, um nach mir zu fragen, denn das Geschäft wird vor sieben Uhr
geöffnet." Und er machte sich nun daran, den Körper in seiner ganzen Länge
vollständig gleichmäßig aus dem Bett hinauszuschaukeln. Wenn er sich auf
diese Weise aus dem Bett fallen ließ, blieb der Kopf, den er beim Fall
scharf heben wollte, voraussichtlich unverletzt. Der Rücken schien hart zu
sein; dem würde wohl bei dem Fall auf den Teppich nichts geschehen. Das
größte Bedenken machte ihm die Rücksicht auf den lauten Krach, den es geben
müsste und der wahrscheinlich hinter allen Türen wenn nicht Schrecken, so
doch Besorgnisse erregen würde. Das musste aber gewagt werden. Als Gregor
schon zur Hälfte aus dem Bette ragte - die neue Methode war mehr ein Spiel
als eine Anstrengung, er brauchte immer nur ruckweise zu schaukeln -, fiel
ihm ein, wie einfach alles wäre, wenn man ihm zu Hilfe käme. Zwei starke
Leute - er dachte an seinen Vater und das Dienstmädchen - hätten vollständig
genügt; sie hätten ihre Arme nur unter seinen gewölbten Rücken schieben, ihn
so aus dem Bett schälen, sich mit der Last niederbeugen und dann bloß
vorsichtig dulden müssen, dass er den Überschwung auf dem Fußboden vollzog,
wo dann die Beinchen hoffentlich einen Sinn bekommen würden. Nun, ganz
abgesehen davon, dass die Türen versperrt waren, hätte er wirklich um Hilfe
rufen sollen? Trotz aller Not konnte er bei diesem Gedanken ein Lächeln
nicht unterdrücken.
Schon war er so weit, dass er
bei stärkerem Schaukeln kaum das Gleichgewicht noch erhielt, und sehr bald
musste er sich nun endgültig entscheiden, denn es war in fünf Minuten ein
Viertel acht, - als es an der Wohnungstür läutete. "Das ist jemand aus dem
Geschäft", sagte er sich und erstarrte fast, während seine Beinchen nur
desto eiliger tanzten. Einen Augenblick blieb alles still. "Sie öffnen
nicht", sagte sich Gregor, befangen in irgendeiner unsinnigen Hoffnung. Aber
dann ging natürlich wie immer das Dienstmädchen festen Schrittes zur Tür und
öffnete. Gregor brauchte nur das erste Grußwort des Besuchers zu hören und
wusste schon, wer es war - der Prokurist selbst. Warum war nur Gregor dazu
verurteilt, bei einer Firma zu dienen, wo man bei der kleinsten Versäumnis
gleich den größten Verdacht fasste? Waren denn alle Angestellten samt und
sonders Lumpen, gab es denn unter ihnen keinen treuen, ergebenen Menschen,
der, wenn er auch nur ein paar Morgenstunden für das Geschäft nicht
ausgenützt hatte, vor Gewissensbissen närrisch wurde und geradezu nicht
imstande war, das Bett zu verlassen? Genügte es wirklich nicht, einen
Lehrjungen nachfragen zu lassen - wenn überhaupt diese Fragerei nötig war -,
musste da der Prokurist selbst kommen, und musste dadurch der ganzen
unschuldigen Familie gezeigt werden, dass die Untersuchung dieser
verdächtigen Angelegenheit nur dem Verstand des Prokuristen anvertraut
werden konnte? Und mehr infolge der Erregung, in welche Gregor durch diese
Überlegungen versetzt wurde, als infolge eines richtigen Entschlusses,
schwang er sich mit aller Macht aus dem Bett. Es gab einen lauten Schlag,
aber ein eigentlicher Krach war es nicht. Ein wenig wurde der Fall durch den
Teppich abgeschwächt, auch war der Rücken elastischer, als Gregor gedacht
hatte, daher kam der nicht gar so auffallende dumpfe Klang. Nur den Kopf
hatte er nicht vorsichtig genug gehalten und ihn angeschlagen; er drehte ihn
und rieb ihn an dem Teppich vor Ärger und Schmerz. »Da drin ist etwas
gefallen«, sagte der Prokurist im Nebenzimmer links. Gregor suchte sich
vorzustellen, ob nicht auch einmal dem Prokuristen etwas Ähnliches passieren
könnte, wie heute ihm; die Möglichkeit dessen musste man doch eigentlich
zugeben. Aber wie zur rohen Antwort auf diese Frage machte jetzt der
Prokurist im Nebenzimmer ein paar bestimmte Schritte und ließ seine
Lackstiefel knarren. Aus dem Nebenzimmer rechts flüsterte die Schwester, um
Gregor zu verständigen: »Gregor, der Prokurist ist da.« »Ich weiß«, sagte
Gregor vor sich hin; aber so laut, dass es die Schwester hätte hören können,
wagte er die Stimme nicht zu erheben.
»Gregor«, sagte nun der Vater
aus dem Nebenzimmer links, »der Herr Prokurist ist gekommen und erkundigt
sich, warum du nicht mit dem Frühzug weggefahren bist. Wir wissen nicht, was
wir ihm sagen sollen. Übrigens will er auch mit dir persönlich sprechen.
Also bitte mach die Tür auf. Er wird die Unordnung im Zimmer zu
entschuldigen schon die Güte haben.« »Guten Morgen, Herr Samsa«, rief der
Prokurist freundlich dazwischen. »Ihm ist nicht wohl«, sagte die Mutter zum
Prokuristen, während der Vater noch an der Tür redete, »ihm ist nicht wohl,
glauben Sie mir, Herr Prokurist. Wie würde denn Gregor sonst einen Zug
versäumen! Der Junge hat ja nichts im Kopf als das Geschäft. Ich ärgere mich
schon fast, dass er abends niemals ausgeht; jetzt war er doch acht Tage in
der Stadt, aber jeden Abend war er zu Hause. Da sitzt er bei uns am Tisch
und liest still die Zeitung oder studiert Fahrpläne. Es ist schon eine
Zerstreuung für ihn, wenn er sich mit Laubsägearbeiten beschäftigt. Da hat
er zum Beispiel im Laufe von zwei, drei Abenden einen kleinen Rahmen
geschnitzt; Sie werden staunen, wie hübsch er ist; er hängt drin im Zimmer;
Sie werden ihn gleich sehen, bis Gregor aufmacht. Ich bin übrigens
glücklich, dass Sie da sind, Herr Prokurist; wir allein hätten Gregor nicht
dazu gebracht, die Tür zu öffnen; er ist so hartnäckig; und bestimmt ist ihm
nicht wohl, trotzdem er es am Morgen geleugnet hat.« »Ich komme gleich«,
sagte Gregor langsam und bedächtig und rührte sich nicht, um kein Wort der
Gespräche zu verlieren. »Anders, gnädige Frau, kann ich es mir auch nicht
erklären«, sagte der Prokurist, »hoffentlich ist es nichts Ernstes. Wenn ich
auch andererseits sagen muss, dass wir Geschäftsleute - wie man will, leider
oder glücklicherweise - ein leichtes Unwohlsein sehr oft aus geschäftlichen
Rücksichten einfach überwinden müssen.« »Also kann der Herr Prokurist schon
zu dir hinein?« fragte der ungeduldige Vater und klopfte wiederum an die
Tür. »Nein«, sagte Gregor. Im Nebenzimmer links trat eine peinliche Stille
ein, im Nebenzimmer rechts begann die Schwester zu schluchzen.
Warum ging denn die Schwester
nicht zu den anderen? Sie war wohl erst jetzt aus dem Bett aufgestanden und
hatte noch gar nicht angefangen sich anzuziehen. Und warum weinte sie denn?
Weil er nicht aufstand und den Prokuristen nicht hereinließ, weil er in
Gefahr war, den Posten zu verlieren, und weil dann der Chef die Eltern mit
den alten Forderungen wieder verfolgen würde? Das waren doch vorläufig wohl
unnötige Sorgen. Noch war Gregor hier und dachte nicht im geringsten daran,
seine Familie zu verlassen. Augenblicklich lag er wohl da auf dem Teppich,
und niemand, der seinen Zustand gekannt hätte, hätte im Ernst von ihm
verlangt, dass er den Prokuristen hereinlasse. Aber wegen dieser kleinen
Unhöflichkeit, für die sich ja später leicht eine passende Ausrede finden
würde, konnte Gregor doch nicht gut sofort weggeschickt werden. Und Gregor
schien es, dass es viel vernünftiger wäre, ihn jetzt in Ruhe zu lassen,
statt ihn mit Weinen und Zureden zu stören. Aber es war eben die
Ungewissheit, welche die anderen bedrängte und ihr Benehmen entschuldigte.
»Herr Samsa«, rief nun der
Prokurist mit erhobener Stimme, »was ist denn los? Sie verbarrikadieren sich
da in Ihrem Zimmer, antworten bloß mit Ja und Nein, machen Ihren Eltern
schwere, unnötige Sorgen und versäumen - dies nur nebenbei erwähnt - Ihre
geschäftlichen Pflichten in einer eigentlich unerhörten Weise. Ich spreche
hier im Namen Ihrer Eltern und Ihres Chefs und bitte Sie ganz ernsthaft um
eine augenblickliche, deutliche Erklärung. Ich staune, ich staune. Ich
glaubte Sie als einen ruhigen, vernünftigen Menschen zu kennen, und nun
scheinen Sie plötzlich anfangen zu wollen, mit sonderbaren Launen zu
paradieren. Der Chef deutete mir zwar heute früh eine mögliche Erklärung für
Ihre Versäumnis an - sie betraf das Ihnen seit kurzem anvertraute Inkasso -,
aber ich legte wahrhaftig fast mein Ehrenwort dafür ein, dass diese
Erklärung nicht zutreffen könne. Nun aber sehe ich hier Ihren
unbegreiflichen Starrsinn und verliere ganz und gar jede Lust, mich auch nur
im geringsten für Sie einzusetzen. Und Ihre Stellung ist durchaus nicht die
festeste. Ich hatte ursprünglich die Absicht, Ihnen das alles unter vier
Augen zu sagen, aber da Sie mich hier nutzlos meine Zeit versäumen lassen,
weiß ich nicht, warum es nicht auch Ihre Herren Eltern erfahren sollen. Ihre
Leistungen in der letzten Zeit waren also sehr unbefriedigend; es ist zwar
nicht die Jahreszeit, um besondere Geschäfte zu machen, das erkennen wir an;
aber eine Jahreszeit, um keine Geschäfte zu machen, gibt es überhaupt nicht,
Herr Samsa, darf es nicht geben.« »Aber Herr Prokurist«, rief Gregor außer
sich und vergaß in der Aufregung alles andere, »ich mache ja sofort,
augenblicklich auf. Ein leichtes Unwohlsein, ein Schwindelanfall, haben mich
verhindert aufzustehen. Ich liege noch jetzt im Bett. Jetzt bin ich aber
schon wieder ganz frisch. Eben steige ich aus dem Bett. Nur einen kleinen
Augenblick Geduld! Es geht noch nicht so gut, wie ich dachte. Es ist mir
aber schon wohl. Wie das nur einen Menschen so überfallen kann! Noch gestern
Abend war mir ganz gut, meine Eltern wissen es ja, oder besser, schon
gestern abends hatte ich eine kleine Vorahnung. Man hätte es mir ansehen
müssen. Warum habe ich es nur im Geschäft nicht gemeldet! Aber man denkt
eben immer, dass man die Krankheit ohne Zuhausebleiben überstehen wird. Herr
Prokurist! Schonen Sie meine Eltern! Für alle die Vorwürfe, die Sie mir
jetzt machen, ist ja kein Grund; man hat mir ja davon auch kein Wort gesagt.
Sie haben vielleicht die letzten Aufträge, die ich geschickt habe, nicht
gelesen. Übrigens, noch mit dem Achtuhrzug fahre ich auf die Reise, die paar
Stunden Ruhe haben mich gekräftigt. Halten Sie sich nur nicht auf, Herr
Prokurist; ich bin gleich selbst im Geschäft, und haben Sie die Güte, das zu
sagen und mich dem Herrn Chef zu empfehlen!«
Und während Gregor dies alles
hastig ausstieß und kaum wusste, was er sprach, hatte er sich leicht, wohl
infolge der im Bett bereits erlangten Übung, dem Kasten genähert und
versuchte nun, an ihm sich aufzurichten. Er wollte tatsächlich die Tür
aufmachen, tatsächlich sich sehen lassen und mit dem Prokuristen sprechen;
er war begierig zu erfahren, was die anderen, die jetzt so nach ihm
verlangten, bei seinem Anblick sagen würden. Würden sie erschrecken, dann
hatte Gregor keine Verantwortung mehr und konnte ruhig sein. Würden sie aber
alles ruhig hinnehmen, dann hatte auch er keinen Grund sich aufzuregen, und
konnte, wenn er sich beeilte, um acht Uhr tatsächlich auf dem Bahnhof sein.
Zuerst glitt er nun einige Male von dem glatten Kasten ab, aber endlich gab
er sich einen letzten Schwung und stand aufrecht da; auf die Schmerzen im
Unterleib achtete er gar nicht mehr, so sehr sie auch brannten. Nun ließ er
sich gegen die Rückenlehne eines nahen Stuhles fallen, an deren Rändern er
sich mit seinen Beinchen festhielt. Damit hatte er aber auch die Herrschaft
über sich erlangt und verstummte, denn nun konnte er den Prokuristen
anhören.
»Haben Sie auch nur ein Wort
verstanden?« fragte der Prokurist die Eltern, »er macht sich doch wohl nicht
einen Narren aus uns?« »Um Gottes willen«, rief die Mutter schon unter
Weinen, »er ist vielleicht schwerkrank, und wir quälen ihn. Grete! Grete!«
schrie sie dann. »Mutter?« rief die Schwester von der anderen Seite. Sie
verständigten sich durch Gregors Zimmer. »Du musst augenblicklich zum Arzt.
Gregor ist krank. Rasch um den Arzt. Hast du Gregor jetzt reden hören?« »Das
war eine Tierstimme«, sagte der Prokurist, auffallend leise gegenüber dem
Schreien der Mutter. »Anna! Anna!« rief der Vater durch das Vorzimmer in die
Küche und klatschte in die Hände, »sofort einen Schlosser holen!« Und schon
liefen die zwei Mädchen mit rauschenden Röcken durch das Vorzimmer - wie
hatte sich die Schwester denn so schnell angezogen? - und rissen die
Wohnungstüre auf. Man hörte gar nicht die Türe zuschlagen; sie hatten sie
wohl offen gelassen, wie es in Wohnungen zu sein pflegt, in denen ein großes
Unglück geschehen ist.
Gregor war aber viel ruhiger
geworden. Man verstand zwar also seine Worte nicht mehr, trotzdem sie ihm
genug klar, klarer als früher, vorgekommen waren, vielleicht infolge der
Gewöhnung des Ohres. Aber immerhin glaubte man nun schon daran, dass es mit
ihm nicht ganz in Ordnung war, und war bereit, ihm zu helfen. Die Zuversicht
und Sicherheit, mit welchen die ersten Anordnungen getroffen worden waren,
taten ihm wohl. Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis
und erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich
genau zu scheiden, großartige und überraschende Leistungen. Um für die sich
nähernden entscheidenden Besprechungen eine möglichst klare Stimme zu
bekommen, hustete er ein wenig ab, allerdings bemüht, dies ganz gedämpft zu
tun, da möglicherweise auch schon dieses Geräusch anders als menschlicher
Husten klang, was er selbst zu entscheiden sich nicht mehr getraute. Im
Nebenzimmer war es inzwischen ganz still geworden. Vielleicht saßen die
Eltern mit dem Prokuristen beim Tisch und tuschelten, vielleicht lehnten
alle an der Türe und horchten.
Gregor schob sich langsam mit
dem Sessel zur Tür hin, ließ ihn dort los, warf sich gegen die Tür, hielt
sich an ihr aufrecht - die Ballen seiner Beinchen hatten ein wenig Klebstoff
- und ruhte sich dort einen Augenblick lang von der Anstrengung aus. Dann
aber machte er sich daran, mit dem Mund den Schlüssel im schloss umzudrehen.
Es schien leider, dass er keine eigentlichen Zähne hatte, - womit sollte er
gleich den Schlüssel fassen? - aber dafür waren die Kiefer freilich sehr
stark; mit ihrer Hilfe brachte er auch wirklich den Schlüssel in Bewegung
und achtete nicht darauf, dass er sich zweifellos irgendeinen Schaden
zufügte, denn eine braune Flüssigkeit kam ihm aus dem Mund, floss über den
Schlüssel und tropfte auf den Boden. »Hören Sie nur«, sagte der Prokurist im
Nebenzimmer, »er dreht den Schlüssel um.« Das war für Gregor eine große
Aufmunterung; aber alle hätten ihm zurufen sollen, auch der Vater und die
Mutter: "Frisch, Gregor", hätten sie rufen sollen, "immer nur heran, fest an
das schloss heran!" Und in der Vorstellung, dass alle seine Bemühungen mit
Spannung verfolgten, verbiss er sich mit allem, was er an Kraft aufbringen
konnte, besinnungslos in den Schlüssel. Je nach dem Fortschreiten der
Drehung des Schlüssels umtanzte er das schloss; hielt sich jetzt nur noch
mit dem Munde aufrecht, und je nach Bedarf hing er sich an den Schlüssel
oder drückte ihn dann wieder nieder mit der ganzen Last seines Körpers. Der
hellere Klang des endlich zurückschnappenden Schlosses erweckte Gregor
förmlich. Aufatmend sagte er sich: "Ich habe also den Schlosser nicht
gebraucht", und legte den Kopf auf die Klinke, um die Türe gänzlich zu
öffnen.
Da er die Türe auf diese Weise
öffnen musste, war sie eigentlich schon recht weit geöffnet, und er selbst
noch nicht zu sehen. Er musste sich erst langsam um den einen Türflügel
herumdrehen, und zwar sehr vorsichtig, wenn er nicht gerade vor dem Eintritt
ins Zimmer plump auf den Rücken fallen wollte. Er war noch mit jener
schwierigen Bewegung beschäftigt und hatte nicht Zeit, auf anderes zu
achten, da hörte er schon den Prokuristen ein lautes »Oh!« ausstoßen - es
klang, wie wenn der Wind saust - und nun sah er ihn auch, wie er, der der
Nächste an der Türe war, die Hand gegen den offenen Mund drückte und langsam
zurückwich, als vertreibe ihn eine unsichtbare, gleichmäßig fortwirkende
Kraft. Die Mutter - sie stand hier trotz der Anwesenheit des Prokuristen mit
von der Nacht her noch aufgelösten, hoch sich sträubenden Haaren - sah
zuerst mit gefalteten Händen den Vater an, ging dann zwei Schritte zu Gregor
hin und fiel inmitten ihrer rings um sie herum sich ausbreitenden Röcke
nieder, das Gesicht ganz unauffindbar zu ihrer Brust gesenkt. Der Vater
ballte mit feindseligem Ausdruck die Faust, als wolle er Gregor in sein
Zimmer zurückstoßen, sah sich dann unsicher im Wohnzimmer um, beschattete
dann mit den Händen die Augen und weinte, dass sich seine mächtige Brust
schüttelte.
Gregor trat nun gar nicht in
das Zimmer, sondern lehnte sich von innen an den festgeriegelten Türflügel,
so dass sein Leib nur zur Hälfte und darüber der seitlich geneigte Kopf zu
sehen war, mit dem er zu den anderen hinüberlugte. Es war inzwischen viel
heller geworden; klar stand auf der anderen Straßenseite ein Ausschnitt des
gegenüberliegenden, endlosen, grauschwarzen Hauses - es war ein Krankenhaus
- mit seinen hart die Front durchbrechenden regelmäßigen Fenstern; der Regen
fiel noch nieder, aber nur mit großen, einzeln sichtbaren und förmlich auch
einzelnweise auf die Erde hinuntergeworfenen Tropfen. Das Frühstücksgeschirr
stand in überreicher Zahl auf dem Tisch, denn für den Vater war das
Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages, die er bei der Lektüre
verschiedener Zeitungen stundenlang hinzog. Gerade an der gegenüberliegenden
Wand hing eine Photographie Gregors aus seiner Militärzeit, die ihn als
Leutnant darstellte, wie er, die Hand am Degen, sorglos lächelnd, Respekt
für seine Haltung und Uniform verlangte. Die Tür zum Vorzimmer war geöffnet,
und man sah, da auch die Wohnungstür offen war, auf den Vorplatz der Wohnung
hinaus und auf den Beginn der abwärts führenden Treppe.
»Nun«, sagte Gregor und war
sich dessen wohl bewusst, dass er der einzige war, der die Ruhe bewahrt
hatte, »ich werde mich gleich anziehen, die Kollektion zusammenpacken und
wegfahren. Wollt ihr, wollt ihr mich wegfahren lassen? Nun, Herr Prokurist,
Sie sehen, ich bin nicht starrköpfig und ich arbeite gern; das Reisen ist
beschwerlich, aber ich könnte ohne das Reisen nicht leben. Wohin gehen Sie
denn, Herr Prokurist? Ins Geschäft? Ja? Werden Sie alles wahrheitsgetreu
berichten? Man kann im Augenblick unfähig sein zu arbeiten, aber dann ist
gerade der richtige Zeitpunkt, sich an die früheren Leistungen zu erinnern
und zu bedenken, dass man später, nach Beseitigung des Hindernisses, gewiss
desto fleißiger und gesammelter arbeiten wird. Ich bin ja dem Herrn Chef so
sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ich die
Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme, ich werde
mich aber auch wieder herausarbeiten. Machen Sie es mir aber nicht
schwieriger, als es schon ist. Halten Sie im Geschäft meine Partei! Man
liebt den Reisenden nicht, ich weiß. Man denkt, er verdient ein Heidengeld
und führt dabei ein schönes Leben. Man hat eben keine besondere
Veranlassung, dieses Vorurteil besser zu durchdenken. Sie aber, Herr
Prokurist, Sie haben einen besseren Überblick über die Verhältnisse als das
sonstige Personal, ja sogar, ganz im Vertrauen gesagt, einen besseren
Überblick als der Herr Chef selbst, der in seiner Eigenschaft als
Unternehmer sich in seinem Urteil leicht zuungunsten eines Angestellten
beirren lässt. Sie wissen auch sehr wohl, dass der Reisende, der fast das
ganze Jahr außerhalb des Geschäftes ist, so leicht ein Opfer von
Klatschereien, Zufälligkeiten und grundlosen Beschwerden werden kann, gegen
die sich zu wehren ihm ganz unmöglich ist, da er von ihnen meistens gar
nichts erfährt und nur dann, wenn er erschöpft eine Reise beendet hat, zu
Hause die schlimmen, auf ihre Ursachen hin nicht mehr zu durchschauenden
Folgen am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Herr Prokurist, gehen Sie nicht
weg, ohne mir ein Wort gesagt zu haben, das mir zeigt, dass Sie mir
wenigstens zu einem kleinen Teil recht geben!«
Aber der Prokurist hatte sich
schon bei den ersten Worten Gregors abgewendet, und nur über die zuckende
Schulter hinweg sah er mit aufgeworfenen Lippen nach Gregor zurück. Und
während Gregors Rede stand er keinen Augenblick still, sondern verzog sich,
ohne Gregor aus den Augen zu lassen, gegen die Tür, aber ganz allmählich,
als bestehe ein geheimes Verbot, das Zimmer zu verlassen. Schon war er im
Vorzimmer, und nach der plötzlichen Bewegung, mit der er zum letzten Mal den
Fuß aus dem Wohnzimmer zog, hätte man glauben können, er habe sich soeben
die Sohle verbrannt. Im Vorzimmer aber streckte er die rechte Hand weit von
sich zur Treppe hin, als warte dort auf ihn eine geradezu überirdische
Erlösung.
Gregor sah ein, dass er den
Prokuristen in dieser Stimmung auf keinen Fall weggehen lassen dürfe, wenn
dadurch seine Stellung im Geschäft nicht aufs äußerste gefährdet werden
sollte. Die Eltern verstanden das alles nicht so gut; sie hatten sich in den
langen Jahren die Überzeugung gebildet, dass Gregor in diesem Geschäft für
sein Leben versorgt war, und hatten außerdem jetzt mit den augenblicklichen
Sorgen so viel zu tun, dass ihnen jede Voraussicht abhanden gekommen war.
Aber Gregor hatte diese Voraussicht. Der Prokurist musste gehalten,
beruhigt, überzeugt und schließlich gewonnen werden; die Zukunft Gregors und
seiner Familie hing doch davon ab! Wäre doch die Schwester hier gewesen! Sie
war klug; sie hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem Rücken lag.
Und gewiss hätte der Prokurist, dieser Damenfreund, sich von ihr lenken
lassen; sie hätte die Wohnungstür zugemacht und ihm im Vorzimmer den
Schrecken ausgeredet. Aber die Schwester war eben nicht da, Gregor selbst
musste handeln. Und ohne daran zu denken, dass er seine gegenwärtigen
Fähigkeiten, sich zu bewegen, noch gar nicht kannte, ohne auch daran zu
denken, dass seine Rede möglicher- ja wahrscheinlicherweise wieder nicht
verstanden worden war, verließ er den Türflügel; schob sich durch die
Öffnung; wollte zum Prokuristen hingehen, der sich schon am Geländer des
Vorplatzes lächerlicherweise mit beiden Händen festhielt; fiel aber sofort,
nach einem Halt suchend, mit einem kleinen Schrei auf seine vielen Beinchen
nieder. Kaum war das geschehen, fühlte er zum ersten Mal an diesem Morgen
ein körperliches Wohlbehagen; die Beinchen hatten festen Boden unter sich;
sie gehorchten vollkommen, wie er zu seiner Freude merkte; strebten sogar
danach, ihn fortzutragen, wohin er wollte; und schon glaubte er, die
endgültige Besserung alles Leidens stehe unmittelbar bevor. Aber im gleichen
Augenblick, als er da schaukelnd vor verhaltener Bewegung, gar nicht weit
von seiner Mutter entfernt, ihr gerade gegenüber auf dem Boden lag, sprang
diese, die doch so ganz in sich versunken schien, mit einem Male in die
Höhe, die Arme weit ausgestreckt, die Finger gespreizt, rief: »Hilfe, um
Gottes willen, Hilfe!«, hielt den Kopf geneigt, als wolle sie Gregor besser
sehen, lief aber, im Widerspruch dazu, sinnlos zurück; hatte vergessen, dass
hinter ihr der gedeckte Tisch stand; setzte sich, als sie bei ihm angekommen
war, wie in Zerstreutheit, eilig auf ihn; und schien gar nicht zu merken,
dass neben ihr aus der umgeworfenen großen Kanne der Kaffee in vollem Strome
auf den Teppich sich ergoss.
»Mutter, Mutter«, sagte Gregor
leise und sah zu ihr hinauf. Der Prokurist war ihm für einen Augenblick ganz
aus dem Sinn gekommen; dagegen konnte er sich nicht versagen, im Anblick des
fließenden Kaffees mehrmals mit den Kiefern ins Leere zu schnappen. Darüber
schrie die Mutter neuerdings auf, flüchtete vom Tisch und fiel dem ihr
entgegeneilenden Vater in die Arme. Aber Gregor hatte jetzt keine Zeit für
seine Eltern; der Prokurist war schon auf der Treppe; das Kinn auf dem
Geländer, sah er noch zum letzten Male zurück. Gregor nahm einen Anlauf, um
ihn möglichst sicher einzuholen; der Prokurist musste etwas ahnen, denn er
machte einen Sprung über mehrere Stufen und verschwand; »Hu!« aber schrie er
noch, es klang durchs ganze Treppenhaus. Leider schien nun auch diese Flucht
des Prokuristen den Vater, der bisher verhältnismäßig gefasst gewesen war,
völlig zu verwirren, denn statt selbst dem Prokuristen nachzulaufen oder
wenigstens Gregor in der Verfolgung nicht zu hindern, packte er mit der
Rechten den Stock des Prokuristen, den dieser mit Hut und Überzieher auf
einem Sessel zurück gelassen hatte, holte mit der Linken eine große Zeitung
vom Tisch und machte sich unter Füßestampfen daran, Gregor durch Schwenken
des Stockes und der Zeitung in sein Zimmer zurückzutreiben. Kein Bitten
Gregors half, kein Bitten wurde auch verstanden, er mochte den Kopf noch so
demütig drehen, der Vater stampfte nur stärker mit den Füßen. Drüben hatte
die Mutter trotz des kühlen Wetters ein Fenster aufgerissen, und
hinausgelehnt drückte sie ihr Gesicht weit außerhalb des Fensters in ihre
Hände. Zwischen Gasse und Treppenhaus entstand eine starke Zugluft, die
Fenstervorhänge flogen auf, die Zeitungen auf dem Tische rauschten, einzelne
Blätter wehten über den Boden hin. Unerbittlich drängte der Vater und stieß
Zischlaute aus, wie ein Wilder. Nun hatte aber Gregor noch gar keine Übung
im Rückwärtsgehen, es ging wirklich sehr langsam. Wenn sich Gregor nur hätte
umdrehen dürfen, er wäre gleich in seinem Zimmer gewesen, aber er fürchtete
sich, den Vater durch die zeitraubende Umdrehung ungeduldig zu machen, und
jeden Augenblick drohte ihm doch von dem Stock in des Vaters Hand der
tödliche Schlag auf den Rücken oder auf den Kopf. Endlich aber blieb Gregor
doch nichts anderes übrig, denn er merkte mit Entsetzen, dass er im
Rückwärtsgehen nicht einmal die Richtung einzuhalten verstand; und so begann
er, unter unaufhörlichen ängstlichen Seitenblicken nach dem Vater, sich nach
Möglichkeit rasch, in Wirklichkeit aber doch nur sehr langsam umzudrehen.
Vielleicht merkte der Vater seinen guten Willen, denn er störte ihn hierbei
nicht, sondern dirigierte sogar hie und da die Drehbewegung von der Ferne
mit der Spitze seines Stockes. Wenn nur nicht dieses unerträgliche Zischen
des Vaters gewesen wäre! Gregor verlor darüber ganz den Kopf. Er war schon
fast ganz umgedreht, als er sich, immer auf dieses Zischen horchend, sogar
irrte und sich wieder ein Stück zurückdrehte. Als er aber endlich glücklich
mit dem Kopf vor der Türöffnung war, zeigte es sich, dass sein Körper zu
breit war, um ohne weiteres durchzukommen. Dem Vater fiel es natürlich in
seiner gegenwärtigen Verfassung auch nicht entfernt ein, etwa den anderen
Türflügel zu öffnen, um für Gregor einen genügenden Durchgang zu schaffen.
Seine fixe Idee war bloß, dass Gregor so rasch als möglich in sein Zimmer
müsse. Niemals hätte er auch die umständlichen Vorbereitungen gestattet, die
Gregor brauchte, um sich aufzurichten und vielleicht auf diese Weise durch
die Tür zu kommen. Vielmehr trieb er, als gäbe es kein Hindernis, Gregor
jetzt unter besonderem Lärm vorwärts; es klang schon hinter Gregor gar nicht
mehr wie die Stimme bloß eines einzigen Vaters; nun gab es wirklich keinen
Spaß mehr, und Gregor drängte sich - geschehe was wolle - in die Tür. Die
eine Seite seines Körpers hob sich, er lag schief in der Türöffnung, seine
eine Flanke war ganz wundgerieben, an der weißen Tür blieben hässliche
Flecken, bald steckte er fest und hätte sich allein nicht mehr rühren
können, die Beinchen auf der einen Seite hingen zitternd oben in der Luft,
die auf der anderen waren schmerzhaft zu Boden gedrückt - da gab ihm der
Vater von hinten einen jetzt wahrhaftig erlösenden starken Stoß, und er
flog, heftig blutend, weit in sein Zimmer hinein. Die Tür wurde noch mit dem
Stock zugeschlagen, dann war es endlich still.
Erst in der Abenddämmerung
erwachte Gregor aus seinem schweren ohnmachtsähnlichen Schlaf. Er wäre
gewiss nicht viel später auch ohne Störung erwacht, denn er fühlte sich
genügend ausgeruht und ausgeschlafen, doch schien es ihm, als hätte ihn ein
flüchtiger Schritt und ein vorsichtiges Schließen der zum Vorzimmer
führenden Tür geweckt. Der Schein der elektrischen Straßenlampen lag bleich
hier und da auf der Zimmerdecke und auf den höheren Teilen der Möbel, aber
unten bei Gregor war es finster. Langsam schob er sich, noch ungeschickt mit
seinen Fühlern tastend, die er erst jetzt schätzen lernte, zur Türe hin, um
nachzusehen, was dort geschehen war. Seine linke Seite schien eine einzige
lange, unangenehm spannende Narbe, und er musste auf seinen zwei Beinreihen
regelrecht hinken. Ein Beinchen war übrigens im Laufe der vormittägigen
Vorfälle schwer verletzt worden - es war fast ein Wunder, dass nur eines
verletzt worden war - und schleppte leblos nach. Erst bei der Tür merkte er,
was ihn dorthin eigentlich gelockt hatte; es war der Geruch von etwas
Essbarem gewesen. Denn dort stand ein Napf mit süßer Milch gefüllt, in der
kleine Schnitten von Weißbrot schwammen. Fast hätte er vor Freude gelacht,
denn er hatte noch größeren Hunger als am Morgen, und gleich tauchte er
seinen Kopf fast bis über die Augen in die Milch hinein. Aber bald zog er
ihn enttäuscht wieder zurück; nicht nur, dass ihm das Essen wegen seiner
heiklen linken Seite Schwierigkeiten machte - und er konnte nur essen, wenn
der ganze Körper schnaufend mitarbeitete -, so schmeckte ihm überdies die
Milch, die sonst sein Lieblingsgetränk war, und die ihm gewiss die Schwester
deshalb hereingestellt hatte, gar nicht, ja er wandte sich fast mit
Widerwillen von dem Napf ab und kroch in die Zimmermitte zurück.
Im Wohnzimmer war, wie Gregor durch die Türspalte sah, das Gas angezündet,
aber während sonst zu dieser Tageszeit der Vater seine nachmittags
erscheinende Zeitung der Mutter und manchmal auch der Schwester mit
erhobener Stimme vorzulesen pflegte, hörte man jetzt keinen Laut. Nun,
vielleicht war dieses Vorlesen, von dem ihm die Schwester immer erzählte und
schrieb, in der letzten Zeit überhaupt aus der Übung gekommen. Aber auch
ringsherum war es so still, trotzdem doch gewiss die Wohnung nicht leer war.
"Was für ein stilles Leben die Familie doch führte", sagte sich Gregor und
fühlte, während er starr vor sich ins Dunkle sah, einen großen Stolz
darüber, dass er seinen Eltern und seiner Schwester ein solches Leben in
einer so schönen Wohnung hatte verschaffen können. Wie aber, wenn jetzt alle
Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen
sollten? Um sich nicht in solche Gedanken zu verlieren, setzte sich Gregor
lieber in Bewegung und kroch im Zimmer auf und ab.
Einmal während des langen
Abends wurde die eine Seitentür und einmal die andere bis zu einer kleinen
Spalte geöffnet und rasch wieder geschlossen; jemand hatte wohl das
Bedürfnis hereinzukommen, aber auch wieder zu viele Bedenken. Gregor machte
nun unmittelbar bei der Wohnzimmertür halt, entschlossen, den zögernden
Besucher doch irgendwie hereinzubringen oder doch wenigstens zu erfahren,
wer es sei; aber nun wurde die Tür nicht mehr geöffnet und Gregor wartete
vergebens. Früh, als die Türen versperrt waren, hatten alle zu ihm
hereinkommen wollen, jetzt, da er die eine Tür geöffnet hatte und die
anderen offenbar während des Tages geöffnet worden waren, kam keiner mehr,
und die Schlüssel steckten nun auch von außen. Spät erst in der Nacht wurde
das Licht im Wohnzimmer ausgelöscht, und nun war leicht festzustellen, dass
die Eltern und die Schwester so lange wachgeblieben waren, denn wie man
genau hören konnte, entfernten sich jetzt alle drei auf den Fußspitzen. Nun
kam gewiss bis zum Morgen niemand mehr zu Gregor herein; er hatte also eine
lange Zeit, um ungestört zu überlegen, wie er sein Leben jetzt neu ordnen
sollte. Aber das hohe freie Zimmer, in dem er gezwungen war, flach auf dem
Boden zu liegen, ängstigte ihn, ohne dass er die Ursache herausfinden
konnte, denn es war ja sein seit fünf Jahren von ihm bewohntes Zimmer - und
mit einer halb unbewussten Wendung und nicht ohne eine leichte Scham eilte
er unter das Kanapee, wo er sich, trotzdem sein Rücken ein wenig gedrückt
wurde und trotzdem er den Kopf nicht mehr erheben konnte, gleich sehr
behaglich fühlte und nur bedauerte, dass sein Körper zu breit war, um
vollständig unter dem Kanapee untergebracht zu werden.
Dort blieb er die ganze Nacht,
die er zum Teil im Halbschlaf, aus dem ihn der Hunger immer wieder
aufschreckte, verbrachte, zum Teil aber in Sorgen und undeutlichen
Hoffnungen, die aber alle zu dem Schlusse führten, dass er sich vorläufig
ruhig verhalten und durch Geduld und größte Rücksichtnahme der Familie die
Unannehmlichkeiten erträglich machen müsse, die er ihr in seinem
gegenwärtigen Zustand nun einmal zu verursachen gezwungen war.
Schon am frühen Morgen, es war
fast noch Nacht, hatte Gregor Gelegenheit, die Kraft seiner eben gefassten
Entschlüsse zu prüfen, denn vom Vorzimmer her öffnete die Schwester, fast
völlig angezogen, die Tür und sah mit Spannung herein. Sie fand ihn nicht
gleich, aber als sie ihn unter dem Kanapee bemerkte - Gott, er musste doch
irgendwo sein, er hatte doch nicht wegfliegen können -, erschrak sie so
sehr, dass sie, ohne sich beherrschen zu können, die Tür von außen wieder
zuschlug. Aber als bereue sie ihr Benehmen, öffnete sie die Tür sofort
wieder und trat, als sei sie bei einem Schwerkranken oder gar bei einem
Fremden, auf den Fußspitzen herein. Gregor hatte den Kopf bis knapp zum
Rande des Kanapees vorgeschoben und beobachtete sie. Ob sie wohl bemerken
würde, dass er die Milch stehengelassen hatte, und zwar keineswegs aus
Mangel an Hunger, und ob sie eine andere Speise hereinbringen würde, die ihm
besser entsprach? Täte sie es nicht von selbst, er wollte lieber verhungern,
als sie darauf aufmerksam machen, trotzdem es ihn eigentlich ungeheuer
drängte, unterm Kanapee vorzuschießen, sich der Schwester zu Füßen zu werfen
und sie um irgend etwas Gutes zum Essen zu bitten. Aber die Schwester
bemerkte sofort mit Verwunderung den noch vollen Napf, aus dem nur ein wenig
Milch ringsherum verschüttet war, sie hob ihn gleich auf, zwar nicht mit den
bloßen Händen, sondern mit einem Fetzen, und trug ihn hinaus. Gregor war
äußerst neugierig, was sie zum Ersatze bringen würde, und er machte sich die
verschiedensten Gedanken darüber. Niemals aber hätte er erraten können, was
die Schwester in ihrer Güte wirklich tat. Sie brachte ihm, um seinen
Geschmack zu prüfen, eine ganze Auswahl, alles auf einer alten Zeitung
ausgebreitet. Da war altes halbverfaultes Gemüse; Knochen vom Nachtmahl her,
die von festgewordener weißer Soße umgeben waren; ein paar Rosinen und
Mandeln; ein Käse, den Gregor vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte;
ein trockenes Brot, ein mit Butter beschmiertes Brot und ein mit Butter
beschmiertes und gesalzenes Brot. Außerdem stellte sie zu dem allen noch den
wahrscheinlich ein für allemal für Gregor bestimmten Napf, in den sie Wasser
gegossen hatte. Und aus Zartgefühl, da sie wusste, dass Gregor vor ihr nicht
essen würde, entfernte sie sich eiligst und drehte sogar den Schlüssel um,
damit nur Gregor merken könne, dass er es sich so behaglich machen dürfe,
wie er wolle. Gregors Beinchen schwirrten, als es jetzt zum Essen ging.
Seine Wunden mussten übrigens auch schon vollständig geheilt sein, er fühlte
keine Behinderung mehr, er staunte darüber und dachte daran, wie er vor mehr
als einem Monat sich mit dem Messer ganz wenig in den Finger geschnitten,
und wie ihm diese Wunde noch vorgestern genug weh getan hatte. "Sollte ich
jetzt weniger Feingefühl haben?" dachte er und saugte schon gierig an dem
Käse, zu dem es ihn vor allen anderen Speisen sofort und nachdrücklich
gezogen hatte. Rasch hintereinander und mit vor Befriedigung tränenden Augen
verzehrte er den Käse, das Gemüse und die Soße; die frischen Speisen dagegen
schmeckten ihm nicht, er konnte nicht einmal ihren Geruch vertragen und
schleppte sogar die Sachen, die er essen wollte, ein Stückchen weiter weg.
Er war schon längst mit allem fertig und lag nur noch faul auf der gleichen
Stelle, als die Schwester zum Zeichen, dass er sich zurückziehen solle,
langsam den Schlüssel umdrehte. Das schreckte ihn sofort auf, trotzdem er
schon fast schlummerte, und er eilte wieder unter das Kanapee. Aber es
kostete ihn große Selbstüberwindung, auch nur die kurze Zeit, während
welcher die Schwester im Zimmer war, unter dem Kanapee zu bleiben, denn von
dem reichlichen Essen hatte sich sein Leib ein wenig gerundet und er konnte
dort in der Enge kaum atmen. Unter kleinen Erstickungsanfällen sah er mit
etwas hervorgequollenen Augen zu, wie die nichts ahnende Schwester mit einem
Besen nicht nur die Überbleibsel zusammenkehrte, sondern selbst die von
Gregor gar nicht berührten Speisen, als seien also auch diese nicht mehr zu
gebrauchen, und wie sie alles hastig in einen Kübel schüttete, den sie mit
einem Holzdeckel schloss, worauf sie alles hinaustrug. Kaum hatte sie sich
umgedreht, zog sich schon Gregor unter dem Kanapee hervor und streckte und
blähte sich.
Auf diese Weise bekam nun
Gregor täglich sein Essen, einmal am Morgen, wenn die Eltern und das
Dienstmädchen noch schliefen, das zweite Mal nach dem allgemeinen
Mittagessen, denn dann schliefen die Eltern gleichfalls noch ein Weilchen,
und das Dienstmädchen wurde von der Schwester mit irgendeiner Besorgung
weggeschickt. Gewiss wollten auch sie nicht, dass Gregor verhungere, aber
vielleicht hätten sie es nicht ertragen können, von seinem Essen mehr als
durch Hörensagen zu erfahren, vielleicht wollte die Schwester ihnen auch
eine möglicherweise nur kleine Trauer ersparen, denn tatsächlich litten sie
ja gerade genug.
Mit welchen Ausreden man an
jenem ersten Vormittag den Arzt und den Schlosser wieder aus der Wohnung
geschafft hatte, konnte Gregor gar nicht erfahren, denn da er nicht
verstanden wurde, dachte niemand daran, auch die Schwester nicht, dass er
die anderen verstehen könne, und so musste er sich, wenn die Schwester in
seinem Zimmer war, damit begnügen, nur hier und da ihre Seufzer und Anrufe
der Heiligen zu hören. Erst später, als sie sich ein wenig an alles gewöhnt
hatte - von vollständiger Gewöhnung konnte natürlich niemals die Rede sein
-, erhaschte Gregor manchmal eine Bemerkung, die freundlich gemeint war oder
so gedeutet werden konnte. »Heute hat es ihm aber geschmeckt«, sagte sie,
wenn Gregor unter dem Essen tüchtig aufgeräumt hatte, während sie im
gegenteiligen Fall, der sich allmählich immer häufiger wiederholte, fast
traurig zu sagen pflegte: »Nun ist wieder alles stehen geblieben.« Während
aber Gregor unmittelbar keine Neuigkeit erfahren konnte, erhorchte er
manches aus den Nebenzimmern, und wo er nur einmal Stimmen hörte, lief er
gleich zu der betreffenden Tür und drückte sich mit ganzem Leib an sie.
Besonders in der ersten Zeit gab es kein Gespräch, das nicht irgendwie, wenn
auch nur im geheimen, von ihm handelte. Zwei Tage lang waren bei allen
Mahlzeiten Beratungen darüber zu hören, wie man sich jetzt verhalten solle;
aber auch zwischen den Mahlzeiten sprach man über das gleiche Thema, denn
immer waren zumindest zwei Familienmitglieder zu Hause, da wohl niemand
allein zu Hause bleiben wollte und man die Wohnung doch auf keinen Fall
gänzlich verlassen konnte. Auch hatte das Dienstmädchen gleich am ersten Tag
- es war nicht ganz klar, was und wie viel sie von dem Vorgefallenen wusste
- kniefällig die Mutter gebeten, sie sofort zu entlassen, und als sie sich
eine Viertelstunde danach verabschiedete, dankte sie für die Entlassung
unter Tränen, wie für die größte Wohltat, die man ihr erwiesen hatte, und
gab, ohne dass man es von ihr verlangte, einen fürchterlichen Schwur ab,
niemandem auch nur das Geringste zu verraten.
Nun musste die Schwester im
Verein mit der Mutter auch kochen; allerdings machte das nicht viel Mühe,
denn man aß fast nichts. Immer wieder hörte Gregor, wie der eine den anderen
vergebens zum Essen aufforderte und keine andere Antwort bekam, als: »Danke,
ich habe genug« oder etwas Ähnliches. Getrunken wurde vielleicht auch
nichts. Öfters fragte die Schwester den Vater, ob er Bier haben wolle, und
herzlich erbot sie sich, es selbst zu holen, und als der Vater schwieg,
sagte sie, um ihm jedes Bedenken zu nehmen, sie könne auch die Hausmeisterin
darum schicken, aber dann sagte der Vater schließlich ein großes »Nein«, und
es wurde nicht mehr davon gesprochen.
Schon im Laufe des ersten Tages
legte der Vater die ganzen Vermögensverhältnisse und Aussichten sowohl der
Mutter, als auch der Schwester dar. Hie und da stand er vom Tische auf und
holte aus seiner kleinen Wertheimkassa, die er aus dem vor fünf Jahren
erfolgten Zusammenbruch seines Geschäftes gerettet hatte, irgendeinen Beleg
oder irgendein Vormerkbuch. Man hörte, wie er das komplizierte schloss
aufsperrte und nach Entnahme des Gesuchten wieder verschloss. Diese
Erklärungen des Vaters waren zum Teil das erste Erfreuliche, was Gregor seit
seiner Gefangenschaft zu hören bekam. Er war der Meinung gewesen, dass dem
Vater von jenem Geschäft her nicht das Geringste übrig geblieben war,
zumindest hatte ihm der Vater nichts Gegenteiliges gesagt, und Gregor
allerdings hatte ihn auch nicht darum gefragt. Gregors Sorge war damals nur
gewesen, alles daranzusetzen, um die Familie das geschäftliche Unglück, das
alle in eine vollständige Hoffnungslosigkeit gebracht hatte, möglichst rasch
vergessen zu lassen. Und so hatte er damals mit ganz besonderem Feuer zu
arbeiten angefangen und war fast über Nacht aus einem kleinen Kommis ein
Reisender geworden, der natürlich ganz andere Möglichkeiten des
Geldverdienens hatte, und dessen Arbeitserfolge sich sofort in Form der
Provision zu Bargeld verwandelten, das der erstaunten und beglückten Familie
zu Hause auf den Tisch gelegt werden konnte. Es waren schöne Zeiten gewesen,
und niemals nachher hatten sie sich, wenigstens in diesem Glanze,
wiederholt, trotzdem Gregor später so viel Geld verdiente, dass er den
Aufwand der ganzen Familie zu tragen imstande war und auch trug. Man hatte
sich eben daran gewöhnt, sowohl die Familie als auch Gregor, man nahm das
Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte
sich nicht mehr ergeben. Nur die Schwester war Gregor doch noch nahe
geblieben, und es war sein geheimer Plan, sie, die zum Unterschied von
Gregor Musik sehr liebte und rührend Violine zu spielen verstand, nächstes
Jahr, ohne Rücksicht auf die großen Kosten, die das verursachen musste, und
die man schon auf andere Weise hereinbringen würde, auf das Konservatorium
zu schicken. Öfters während der kurzen Aufenthalte Gregors in der Stadt
wurde in den Gesprächen mit der Schwester das Konservatorium erwähnt, aber
immer nur als schöner Traum, an dessen Verwirklichung nicht zu denken war,
und die Eltern hörten nicht einmal diese unschuldigen Erwähnungen gern; aber
Gregor dachte sehr bestimmt daran und beabsichtigte, es am Weihnachtsabend
feierlich zu erklären. Solche in seinem gegenwärtigen Zustand ganz nutzlose
Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er dort aufrecht an der Türe
klebte und horchte. Manchmal konnte er vor allgemeiner Müdigkeit gar nicht
mehr zuhören und ließ den Kopf nachlässig gegen die Tür schlagen, hielt ihn
aber sofort wieder fest, denn selbst das kleine Geräusch, das er damit
verursacht hatte, war nebenan gehört worden und hatte alle verstummen
lassen. »Was er nur wieder treibt«, sagte der Vater nach einer Weile,
offenbar zur Türe hingewendet, und dann erst wurde das unterbrochene
Gespräch allmählich wieder aufgenommen.
Gregor erfuhr nun zur Genüge -
denn der Vater pflegte sich in seinen Erklärungen öfters zu wiederholen,
teils, weil er selbst sich mit diesen Dingen schon lange nicht beschäftigt
hatte, teils auch, weil die Mutter nicht alles gleich beim ersten Mal
verstand - , dass trotz allen Unglücks ein allerdings ganz kleines Vermögen
aus der alten Zeit noch vorhanden war, das die nicht angerührten Zinsen in
der Zwischenzeit ein wenig hatten anwachsen lassen. Außerdem aber war das
Geld, das Gregor allmonatlich nach Hause gebracht hatte - er selbst hatte
nur ein paar Gulden für sich behalten -, nicht vollständig aufgebraucht
worden und hatte sich zu einem kleinen Kapital angesammelt. Gregor, hinter
seiner Türe, nickte eifrig, erfreut über diese unerwartete Vorsicht und
Sparsamkeit. Eigentlich hätte er ja mit diesen überschüssigen Geldern die
Schuld des Vaters gegenüber dem Chef weiter abgetragen haben können, und
jener Tag, an dem er diesen Posten hätte loswerden können, wäre weit näher
gewesen, aber jetzt war es zweifellos besser so, wie es der Vater
eingerichtet hatte.
Nun genügte dieses Geld aber
ganz und gar nicht, um die Familie etwa von den Zinsen leben zu lassen; es
genügte vielleicht, um die Familie ein, höchstens zwei Jahre zu erhalten,
mehr war es nicht. Es war also bloß eine Summe, die man eigentlich nicht
angreifen durfte, und die für den Notfall zurückgelegt werden musste; das
Geld zum Leben aber musste man verdienen. Nun war aber der Vater ein zwar
gesunder, aber alter Mann, der schon fünf Jahre nichts gearbeitet hatte und
sich jedenfalls nicht viel zutrauen durfte; er hatte in diesen fünf Jahren,
welche die ersten Ferien seines mühevollen und doch erfolglosen Lebens
waren, viel Fett angesetzt und war dadurch recht schwerfällig geworden. Und
die alte Mutter sollte nun vielleicht Geld verdienen, die an Asthma litt,
der eine Wanderung durch die Wohnung schon Anstrengung verursachte, und die
jeden zweiten Tag in Atembeschwerden auf dem Sofa beim offenen Fenster
verbrachte? Und die Schwester sollte Geld verdienen, die noch ein Kind war
mit ihren siebzehn Jahren, und der ihre bisherige Lebensweise so sehr zu
gönnen war, die daraus bestanden hatte, sich nett zu kleiden, lange zu
schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen, an ein paar bescheidenen
Vergnügungen sich zu beteiligen und vor allem Violine zu spielen? Wenn die
Rede auf diese Notwendigkeit des Geldverdienens kam, ließ zuerst immer
Gregor die Türe los und warf sich auf das neben der Tür befindliche kühle
Ledersofa, denn ihm war ganz heiß vor Beschämung und Trauer.
Oft lag er dort die ganzen
langen Nächte über, schlief keinen Augenblick und scharrte nur stundenlang
auf dem Leder. Oder er scheute nicht die Mühe, einen Sessel zum Fenster zu
schieben, dann die Fensterbrüstung hinaufzukriechen und, in den Sessel
gestemmt, sich ans Fenster zu lehnen, offenbar nur in irgendeiner Erinnerung
an das Befreiende, das früher für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu
schauen. Denn tatsächlich sah er von Tag zu Tag die auch nur ein wenig
entfernten Dinge immer undeutlicher; das gegenüberliegende Krankenhaus,
dessen nur allzu häufigen Anblick er früher verflucht hatte, bekam er
überhaupt nicht mehr zu Gesicht, und wenn er nicht genau gewusst hätte, dass
er in der stillen, aber völlig städtischen Charlottenstraße wohnte, hätte er
glauben können, von seinem Fenster aus in eine Einöde zu schauen, in welcher
der graue Himmel und die graue Erde ununterscheidbar sich vereinigten. Nur
zweimal hatte die aufmerksame Schwester sehen müssen, dass der Sessel beim
Fenster stand, als sie schon jedes Mal, nachdem sie das Zimmer aufgeräumt
hatte, den Sessel wieder genau zum Fenster hinschob, ja sogar von nun ab den
inneren Fensterflügel offen ließ.
Hätte Gregor nur mit der
Schwester sprechen und ihr für alles danken können, was sie für ihn machen
musste, er hätte ihre Dienste leichter ertragen; so aber litt er darunter.
Die Schwester suchte freilich die Peinlichkeit des Ganzen möglichst zu
verwischen, und je längere Zeit verging, desto besser gelang es ihr
natürlich auch, aber auch Gregor durchschaute mit der Zeit alles viel
genauer. Schon ihr Eintritt war für ihn schrecklich. Kaum war sie
eingetreten, lief sie, ohne sich Zeit zu nehmen, die Türe zu schließen, so
sehr sie sonst darauf achtete, jedem den Anblick von Gregors Zimmer zu
ersparen, geradewegs zum Fenster und riss es, als ersticke sie fast, mit
hastigen Händen auf, blieb auch, selbst wenn es noch so kalt war, ein
Weilchen beim Fenster und atmete tief. Mit diesem Laufen und Lärmen
erschreckte sie Gregor täglich zweimal; die ganze Zeit über zitterte er
unter dem Kanapee und wusste doch sehr gut, dass sie ihn gewiss gerne damit
verschont hätte, wenn es ihr nur möglich gewesen wäre, sich in einem Zimmer,
in dem sich Gregor befand, bei geschlossenem Fenster aufzuhalten.
Einmal, es war wohl schon ein
Monat seit Gregors Verwandlung vergangen, und es war doch schon für die
Schwester kein besonderer Grund mehr, über Gregors Aussehen in Erstaunen zu
geraten, kam sie ein wenig früher als sonst und traf Gregor noch an, wie er,
unbeweglich und so recht zum Erschrecken aufgestellt, aus dem Fenster
schaute. Es wäre für Gregor nicht unerwartet gewesen, wenn sie nicht
eingetreten wäre, da er sie durch seine Stellung verhinderte, sofort das
Fenster zu öffnen, aber sie trat nicht nur nicht ein, sie fuhr sogar zurück
und schloss die Tür; ein Fremder hätte geradezu denken können, Gregor habe
ihr aufgelauert und habe sie beißen wollen. Gregor versteckte sich natürlich
sofort unter dem Kanapee, aber er musste bis zum Mittag warten, ehe die
Schwester wiederkam, und sie schien viel unruhiger als sonst. Er erkannte
daraus, dass ihr sein Anblick noch immer unerträglich war und ihr auch
weiterhin unerträglich bleiben müsse, und dass sie sich wohl sehr überwinden
musste, vor dem Anblick auch nur der kleinen Partie seines Körpers nicht
davonzulaufen, mit der er unter dem Kanapee hervorragte. Um ihr auch diesen
Anblick zu ersparen, trug er eines Tages auf seinem Rücken - er brauchte zu
dieser Arbeit vier Stunden - das Leintuch auf das Kanapee und ordnete es in
einer solchen Weise an, dass er nun gänzlich verdeckt war, und dass die
Schwester, selbst wenn sie sich bückte, ihn nicht sehen konnte. Wäre dieses
Leintuch ihrer Meinung nach nicht nötig gewesen, dann hätte sie es ja
entfernen können, denn dass es nicht zum Vergnügen Gregors gehören konnte,
sich so ganz und gar abzusperren, war doch klar genug, aber sie ließ das
Leintuch, so wie es war, und Gregor glaubte sogar einen dankbaren Blick
erhascht zu haben, als er einmal mit dem Kopf vorsichtig das Leintuch ein
wenig lüftete, um nachzusehen, wie die Schwester die neue Einrichtung
aufnahm.
In den ersten vierzehn Tagen
konnten es die Eltern nicht über sich bringen, zu ihm hereinzukommen, und er
hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit der Schwester völlig anerkannten,
während sie sich bisher häufig über die Schwester geärgert hatten, weil sie
ihnen als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war. Nun aber warteten oft
beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die Schwester
dort aufräumte, und kaum war sie herausgekommen, musste sie ganz genau
erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen hatte, wie er
sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine Besserung zu
bemerken war. Die Mutter übrigens wollte verhältnismäßig bald Gregor
besuchen, aber der Vater und die Schwester hielten sie zuerst mit
Vernunftgründen zurück, denen Gregor sehr aufmerksam zuhörte, und die er
vollständig billigte. Später aber musste man sie mit Gewalt zurückhalten,
und wenn sie dann rief: »Lasst mich doch zu Gregor, er ist ja mein
unglücklicher Sohn! Begreift ihr es denn nicht, dass ich zu ihm muss?«, dann
dachte Gregor, dass es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter hereinkäme,
nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche; sie verstand
doch alles viel besser als die Schwester, die trotz all ihrem Mute doch nur
ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht nur aus kindlichem Leichtsinn
eine so schwere Aufgabe übernommen hatte.
Der Wunsch Gregors, die Mutter
zu sehen, ging bald in Erfüllung. Während des Tages wollte Gregor schon aus
Rücksicht auf seine Eltern sich nicht beim Fenster zeigen, kriechen konnte
er aber auf den paar Quadratmetern des Fußbodens auch nicht viel, das ruhige
Liegen ertrug er schon während der Nacht schwer, das Essen machte ihm bald
nicht mehr das geringste Vergnügen, und so nahm er zur Zerstreuung die
Gewohnheit an, kreuz und quer über Wände und Plafond zu kriechen. Besonders
oben auf der Decke hing er gern; es war ganz anders, als das Liegen auf dem
Fußboden; man atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper;
und in der fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich Gregor dort oben
befand, konnte es geschehen, dass er zu seiner eigenen Überraschung sich
losließ und auf den Boden klatschte. Aber nun hatte er natürlich seinen
Körper ganz anders in der Gewalt als früher und beschädigte sich selbst bei
einem so großen Falle nicht. Die Schwester nun bemerkte sofort die neue
Unterhaltung, die Gregor für sich gefunden hatte - er hinterließ ja auch
beim Kriechen hie und da Spuren seines Klebstoffes -, und da setzte sie es
sich in den Kopf, Gregor das Kriechen in größtem Ausmaße zu ermöglichen und
die Möbel, die es verhinderten, also vor allem den Kasten und den
Schreibtisch, wegzuschaffen. Nun war sie aber nicht imstande, dies allein zu
tun; den Vater wagte sie nicht um Hilfe zu bitten; das Dienstmädchen hätte
ihr ganz gewiss nicht geholfen, denn dieses etwa sechzehnjährige Mädchen
harrte zwar tapfer seit Entlassung der früheren Köchin aus, hatte aber um
die Vergünstigung gebeten, die Küche unaufhörlich versperrt halten zu dürfen
und nur auf besonderen Anruf öffnen zu müssen; so blieb der Schwester also
nichts übrig, als einmal in Abwesenheit des Vaters die Mutter zu holen. Mit
Ausrufen erregter Freude kam die Mutter auch heran, verstummte aber an der
Tür vor Gregors Zimmer. Zuerst sah natürlich die Schwester nach, ob alles im
Zimmer in Ordnung war; dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor hatte
in größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten gezogen, das
Ganze sah wirklich nur wie ein zufällig über das Kanapee geworfenes Leintuch
aus. Gregor unterließ auch diesmal, unter dem Leintuch zu spionieren; er
verzichtete darauf, die Mutter schon diesmal zu sehen, und war nur froh,
dass sie nun doch gekommen war. »Komm nur, man sieht ihn nicht«, sagte die
Schwester, und offenbar führte sie die Mutter an der Hand. Gregor hörte nun,
wie die zwei schwachen Frauen den immerhin schweren alten Kasten von seinem
Platz rückten, und wie die Schwester immerfort den größten Teil der Arbeit
für sich beanspruchte, ohne auf die Warnungen der Mutter zu hören, welche
fürchtete, dass sie sich überanstrengen werde. Es dauerte sehr lange. Wohl
nach schon viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter, man solle den Kasten
doch lieber hier lassen, denn erstens sei er zu schwer, sie würden vor
Ankunft des Vaters nicht fertig werden und mit dem Kasten in der Mitte des
Zimmers Gregor jeden Weg verrammeln, zweitens aber sei es doch gar nicht
sicher, dass Gregor mit der Entfernung der Möbel ein Gefallen geschehe. Ihr
scheine das Gegenteil der Fall zu sein; ihr bedrücke der Anblick der leeren
Wand geradezu das Herz; und warum solle nicht auch Gregor diese Empfindung
haben, da er doch an die Zimmermöbel längst gewöhnt sei und sich deshalb im
leeren Zimmer verlassen fühlen werde. »Und ist es dann nicht so«, schloss
die Mutter ganz leise, wie sie überhaupt fast flüsterte, als wolle sie
vermeiden, dass Gregor, dessen genauen Aufenthalt sie ja nicht kannte, auch
nur den Klang der Stimme höre, denn dass er die Worte nicht verstand, davon
war sie überzeugt, »und ist es nicht so, als ob wir durch die Entfernung der
Möbel zeigten, dass wir jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und ihn
rücksichtslos sich selbst überlassen? Ich glaube, es wäre das beste, wir
suchen das Zimmer genau in dem Zustand zu erhalten, in dem es früher war,
damit Gregor, wenn er wieder zu uns zurückkommt, alles unverändert findet
und um so leichter die Zwischenzeit vergessen kann.«
Beim Anhören dieser Worte der
Mutter erkannte Gregor, dass der Mangel jeder unmittelbaren menschlichen
Ansprache, verbunden mit dem einförmigen Leben inmitten der Familie, im
Laufe dieser zwei Monate seinen Verstand hatte verwirren müssen, denn anders
konnte er es sich nicht erklären, dass er ernsthaft darnach hatte verlangen
können, dass sein Zimmer ausgeleert würde. Hatte er wirklich Lust, das
warme, mit ererbten Möbeln gemütlich ausgestattete Zimmer in eine Höhle
verwandeln zu lassen, in der er dann freilich nach allen Richtungen
ungestört würde kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem schnellen,
gänzlichen Vergessen seiner menschlichen Vergangenheit? War er doch jetzt
schon nahe daran, zu vergessen, und nur die seit langem nicht gehörte Stimme
der Mutter hatte ihn aufgerüttelt. Nichts sollte entfernt werden; alles
musste bleiben; die guten Einwirkungen der Möbel auf seinen Zustand konnte
er nicht entbehren; und wenn die Möbel ihn hinderten, das sinnlose
Herumkriechen zu betreiben, so war es kein Schaden, sondern ein großer
Vorteil. Aber die Schwester war leider anderer Meinung; sie hatte sich,
allerdings nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Besprechung der
Angelegenheiten Gregors als besonders Sachverständige gegenüber den Eltern
aufzutreten, und so war auch jetzt der Rat der Mutter für die Schwester
Grund genug, auf der Entfernung nicht nur des Kastens und des
Schreibtisches, an die sie zuerst allein gedacht hatte, sondern auf der
Entfernung sämtlicher Möbel, mit Ausnahme des unentbehrlichen Kanapees, zu
bestehen. Es war natürlich nicht nur kindlicher Trotz und das in der letzten
Zeit so unerwartet und schwer erworbene Selbstvertrauen, das sie zu dieser
Forderung bestimmte; sie hatte doch auch tatsächlich beobachtet, dass Gregor
viel Raum zum Kriechen brauchte, dagegen die Möbel, soweit man sehen konnte,
nicht im geringsten benützte. Vielleicht aber spielte auch der
schwärmerische Sinn der Mädchen ihres Alters mit, der bei jeder Gelegenheit
seine Befriedigung sucht, und durch den Grete jetzt sich dazu verlocken
ließ, die Lage Gregors noch schreckenerregender machen zu wollen, um dann
noch mehr als bis jetzt für ihn leisten zu können. Denn in einen Raum, in
dem Gregor ganz allein die leeren Wände beherrschte, würde wohl kein Mensch
außer Grete jemals einzutreten sich getrauen.
Und so ließ sie sich von ihrem
Entschlusse durch die Mutter nicht abbringen, die auch in diesem Zimmer vor
lauter Unruhe unsicher schien, bald verstummte und der Schwester nach
Kräften beim Hinausschaffen des Kastens half. Nun, den Kasten konnte Gregor
im Notfall noch entbehren, aber schon der Schreibtisch musste bleiben. Und
kaum hatten die Frauen mit dem Kasten, an den sie sich ächzend drückten, das
Zimmer verlassen, als Gregor den Kopf unter dem Kanapee hervorstieß, um zu
sehen, wie er vorsichtig und möglichst rücksichtsvoll eingreifen könnte.
Aber zum Unglück war es gerade die Mutter, welche zuerst zurückkehrte,
während Grete im Nebenzimmer den Kasten umfangen hielt und ihn allein hin
und her schwang, ohne ihn natürlich von der Stelle zu bringen. Die Mutter
aber war Gregors Anblick nicht gewöhnt, er hätte sie krank machen können,
und so eilte Gregor erschrocken im Rückwärtslauf bis an das andere Ende des
Kanapees, konnte es aber nicht mehr verhindern, dass das Leintuch vorne ein
wenig sich bewegte. Das genügte, um die Mutter aufmerksam zu machen. Sie
stockte, stand einen Augenblick still und ging dann zu Grete zurück.
Trotzdem sich Gregor immer
wieder sagte, dass ja nichts Außergewöhnliches geschehe, sondern nur ein
paar Möbel umgestellt würden, wirkte doch, wie er sich bald eingestehen
musste, dieses Hin- und Hergehen der Frauen, ihre kleinen Zurufe, das
Kratzen der Möbel auf dem Boden, wie ein großer, von allen Seiten genährter
Trubel auf ihn, und er musste sich, so fest er Kopf und Beine an sich zog
und den Leib bis an den Boden drückte, unweigerlich sagen, dass er das Ganze
nicht lange aushalten werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm
alles, was ihm lieb war; den Kasten, in dem die Laubsäge und andere
Werkzeuge lagen, hatten sie schon hinausgetragen; lockerten jetzt den schon
im Boden fest eingegrabenen Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker,
als Bürgerschüler, ja sogar schon als Volksschüler seine Aufgaben
geschrieben hatte, - da hatte er wirklich keine Zeit mehr, die guten
Absichten zu prüfen, welche die zwei Frauen hatten, deren Existenz er
übrigens fast vergessen hatte, denn vor Erschöpfung arbeiteten sie schon
stumm, und man hörte nur das schwere Tappen ihrer Füße.
Und so brach er denn hervor -
die Frauen stützten sich gerade im Nebenzimmer an den Schreibtisch, um ein
wenig zu verschnaufen -, wechselte viermal die Richtung des Laufes, er
wusste wirklich nicht, was er zuerst retten sollte, da sah er an der im
übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk
gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und presste sich an das Glas,
das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat. Dieses Bild wenigstens,
das Gregor jetzt ganz verdeckte, würde nun gewiss niemand wegnehmen. Er
verdrehte den Kopf nach der Tür des Wohnzimmers, um die Frauen bei ihrer
Rückkehr zu beobachten.
Sie hatten sich nicht viel Ruhe
gegönnt und kamen schon wieder; Grete hatte den Arm um die Mutter gelegt und
trug sie fast. »Also was nehmen wir jetzt?« sagte Grete und sah sich um. Da
kreuzten sich ihre Blicke mit denen Gregors an der Wand. Wohl nur infolge
der Gegenwart der Mutter behielt sie ihre Fassung, beugte ihr Gesicht zur
Mutter, um diese vom Herumschauen abzuhalten, und sagte, allerdings zitternd
und unüberlegt: »Komm, wollen wir nicht lieber auf einen Augenblick noch ins
Wohnzimmer zurückgehen?« Die Absicht Gretes war für Gregor klar, sie wollte
die Mutter in Sicherheit bringen und dann ihn von der Wand hinunterjagen.
Nun, sie konnte es ja immerhin versuchen! Er saß auf seinem Bild und gab es
nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht springen.
Aber Gretes Worte hatten die
Mutter erst recht beunruhigt, sie trat zur Seite, erblickte den riesigen
braunen Fleck auf der geblümten Tapete, rief, ehe ihr eigentlich zum
Bewusstsein kam, dass das Gregor war, was sie sah, mit schreiender, rauer
Stimme: »Ach Gott, ach Gott!« und fiel mit ausgebreiteten Armen, als gebe
sie alles auf, über das Kanapee hin und rührte sich nicht. »Du, Gregor!«
rief die Schwester mit erhobener Faust und eindringlichen Blicken. Es waren
seit der Verwandlung die ersten Worte, die sie unmittelbar an ihn gerichtet
hatte. Sie lief ins Nebenzimmer, um irgendeine Essenz zu holen, mit der sie
die Mutter aus ihrer Ohnmacht wecken könnte; Gregor wollte auch helfen - zur
Rettung des Bildes war noch Zeit -; er klebte aber fest an dem Glas und
musste sich mit Gewalt losreißen; er lief dann auch ins Nebenzimmer, als
könne er der Schwester irgendeinen Rat geben, wie in früherer Zeit; musste
dann aber untätig hinter ihr stehen; während sie in verschiedenen Fläschchen
kramte, erschreckte sie noch, als sie sich umdrehte; eine Flasche fiel auf
den Boden und zerbrach; ein Splitter verletzte Gregor im Gesicht, irgendeine
ätzende Medizin umfloss ihn; Grete nahm nun, ohne sich länger aufzuhalten,
soviel Fläschchen, als sie nur halten konnte, und rannte mit ihnen zur
Mutter hinein; die Tür schlug sie mit dem Fuße zu. Gregor war nun von der
Mutter abgeschlossen, die durch seine Schuld vielleicht dem Tode nahe war;
die Tür durfte er nicht öffnen, wollte er die Schwester, die bei der Mutter
bleiben musste, nicht verjagen; er hatte jetzt nichts zu tun, als zu warten;
und von Selbstvorwürfen und Besorgnis bedrängt, begann er zu kriechen,
überkroch alles, Wände, Möbel und Zimmerdecke und fiel endlich in seiner
Verzweiflung, als sich das ganze Zimmer schon um ihn zu drehen anfing,
mitten auf den großen Tisch.
Es verging eine kleine Weile,
Gregor lag matt da, ringsherum war es still, vielleicht war das ein gutes
Zeichen. Da läutete es. Das Mädchen war natürlich in ihrer Küche eingesperrt
und Grete musste daher öffnen gehen. Der Vater war gekommen. »Was ist
geschehen?« waren seine ersten Worte; Gretes Aussehen hatte ihm wohl alles
verraten. Grete antwortete mit dumpfer Stimme, offenbar drückte sie ihr
Gesicht an das Vaters Brust: »Die Mutter war ohnmächtig, aber es geht ihr
schon besser. Gregor ist ausgebrochen.« »Ich habe es ja erwartet«, sagte der
Vater, »ich habe es euch ja immer gesagt, aber ihr Frauen wollt nicht
hören.« Gregor war es klar, dass der Vater Gretes allzu kurze Mitteilung
schlecht gedeutet hatte und annahm, dass Gregor sich irgendeine Gewalttat
habe zuschulden kommen lassen. Deshalb musste Gregor den Vater jetzt zu
besänftigen suchen, denn ihn aufzuklären hatte er weder Zeit noch
Möglichkeit. Und so flüchtete er sich zur Tür seines Zimmers und drückte
sich an sie, damit der Vater beim Eintritt vom Vorzimmer her gleich sehen
könne, dass Gregor die beste Absicht habe, sofort in sein Zimmer
zurückzukehren, und dass es nicht nötig sei, ihn zurückzutreiben, sondern
dass man nur die Tür zu öffnen brauche, und gleich werde er verschwinden.
Aber der Vater war nicht in der Stimmung, solche Feinheiten zu bemerken;
»Ah!« rief er gleich beim Eintritt in einem Tone, als sei er gleichzeitig
wütend und froh. Gregor zog den Kopf von der Tür zurück und hob ihn gegen
den Vater. So hatte er sich den Vater wirklich nicht vorgestellt, wie er
jetzt dastand; allerdings hatte er in der letzten Zeit über dem neuartigen
Herumkriechen versäumt, sich so wie früher um die Vorgänge in der übrigen
Wohnung zu kümmern, und hätte eigentlich darauf gefasst sein müssen,
veränderte Verhältnisse anzutreffen. Trotzdem, trotzdem, war das noch der
Vater? Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher Gregor
zu einer Geschäftsreise ausgerückt war; der ihn an Abenden der Heimkehr im
Schlafrock im Lehnstuhl empfangen hatte; gar nicht recht imstande war,
aufzustehen, sondern zum Zeichen der Freude nur die Arme gehoben hatte, und
der bei den seltenen gemeinsamen Spaziergängen an ein paar Sonntagen im Jahr
und an den höchsten Feiertagen zwischen Gregor und der Mutter, die schon an
und für sich langsam gingen, immer noch ein wenig langsamer, in seinen alten
Mantel eingepackt, mit stets vorsichtig aufgesetztem Krückstock sich
vorwärts arbeitete und, wenn er etwas sagen wollte, fast immer stillstand
und seine Begleitung um sich versammelte? Nun aber war er recht gut
aufgerichtet; in eine straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen gekleidet, wie
sie Diener der Bankinstitute tragen; über dem hohen steifen Kragen des
Rockes entwickelte sich sein starkes Doppelkinn; unter den buschigen
Augenbrauen drang der Blick der schwarzen Augen frisch und aufmerksam
hervor; das sonst zerzauste weiße Haar war zu einer peinlich genauen,
leuchtenden Scheitelfrisur niedergekämmt. Er warf seine Mütze, auf der ein
Goldmonogramm, wahrscheinlich das einer Bank, angebracht war, über das ganze
Zimmer im Bogen auf das Kanapee hin und ging, die Enden seines langen
Uniformrockes zurückgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen, mit
verbissenem Gesicht auf Gregor zu. Er wusste wohl selbst nicht, was er
vorhatte; immerhin hob er die Füße ungewöhnlich hoch, und Gregor staunte
über die Riesengröße seiner Stiefelsohlen. Doch hielt er sich dabei nicht
auf, er wusste ja noch vom ersten Tage seines neuen Lebens her, dass der
Vater ihm gegenüber nur die größte Strenge für angebracht ansah. Und so lief
er vor dem Vater her, stockte, wenn der Vater stehen blieb, und eilte schon
wieder vorwärts, wenn sich der Vater nur rührte. So machten sie mehrmals die
Runde um das Zimmer, ohne dass sich etwas Entscheidendes ereignete, ja ohne
dass das Ganze infolge seines langsamen Tempos den Anschein einer Verfolgung
gehabt hätte. Deshalb blieb auch Gregor vorläufig auf dem Fußboden, zumal er
fürchtete, der Vater könnte eine Flucht auf die Wände oder den Plafond für
besondere Bosheit halten. Allerdings musste sich Gregor sagen, dass er sogar
dieses Laufen nicht lange aushalten würde; denn während der Vater einen
Schritt machte, musste er eine Unzahl von Bewegungen ausführen. Atemnot
begann sich schon bemerkbar zu machen, wie er ja auch in seiner früheren
Zeit keine ganz vertrauenswürdige Lunge besessen hatte. Als er nun so
dahintorkelte, um alle Kräfte für den Lauf zu sammeln, kaum die Augen offen
hielt; in seiner Stumpfheit an eine andere Rettung als durch Laufen gar
nicht dachte; und fast schon vergessen hatte, dass ihm die Wände
freistanden, die hier allerdings mit sorgfältig geschnitzten Möbeln voll
Zacken und Spitzen verstellt waren - da flog knapp neben ihm, leicht
geschleudert, irgend etwas nieder und rollte vor ihm her. Es war ein Apfel;
gleich flog ihm ein zweiter nach; Gregor blieb vor Schrecken stehen; ein
Weiterlaufen war nutzlos, denn der Vater hatte sich entschlossen, ihn zu
bombardieren. Aus der Obstschale auf der Kredenz hatte er sich die Taschen
gefüllt und warf nun, ohne vorläufig scharf zu zielen, Apfel für Apfel.
Diese kleinen roten Äpfel rollten wie elektrisiert auf dem Boden herum und
stießen aneinander. Ein schwach geworfener Apfel streifte Gregors Rücken,
glitt aber unschädlich ab. Ein ihm sofort nachfliegender drang dagegen
förmlich in Gregors Rücken ein; Gregor wollte sich weiterschleppen, als
könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel vergehen;
doch fühlte er sich wie festgenagelt und streckte sich in vollständiger
Verwirrung aller Sinne. Nur mit dem letzten Blick sah er noch, wie die Tür
seines Zimmers aufgerissen wurde, und vor der schreienden Schwester die
Mutter hervoreilte, im Hemd, denn die Schwester hatte sie entkleidet, um ihr
in der Ohnmacht Atemfreiheit zu verschaffen, wie dann die Mutter auf den
Vater zulief und ihr auf dem Weg die aufgebundenen Röcke einer nach dem
anderen zu Boden glitten, und wie sie stolpernd über die Röcke auf den Vater
eindrang und ihn umarmend, in gänzlicher Vereinigung mit ihm - nun versagte
aber Gregors Sehkraft schon - die Hände an des Vaters Hinterkopf um Schonung
von Gregors Leben bat.
Die schwere Verwundung Gregors,
an der er über einen Monat litt - der Apfel blieb, da ihn niemand zu
entfernen wagte, als sichtbares Andenken im Fleische sitzen -, schien selbst
den Vater daran erinnert zu haben, dass Gregor trotz seiner gegenwärtigen
traurigen und ekelhaften Gestalt ein Familienmitglied war, das man nicht wie
einen Feind behandeln durfte, sondern demgegenüber es das Gebot der
Familienpflicht war, den Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden,
nichts als zu dulden.
Und wenn nun auch Gregor durch seine Wunde an Beweglichkeit wahrscheinlich
für immer verloren hatte und vorläufig zur Durchquerung seines Zimmers wie
ein alter Invalide lange, lange Minuten brauchte - an das Kriechen in der
Höhe war nicht zu denken -, so bekam er für diese Verschlimmerung seines
Zustandes einen seiner Meinung nach vollständig genügenden Ersatz dadurch,
dass immer gegen Abend die Wohnzimmertür, die er schon ein bis zwei Stunden
vorher scharf zu beobachten pflegte, geöffnet wurde, so dass er, im Dunkel
seines Zimmers liegend, vom Wohnzimmer aus unsichtbar, die ganze Familie
beim beleuchteten Tische sehen und ihre Reden, gewissermaßen mit allgemeiner
Erlaubnis, also ganz anders als früher, anhören durfte.
Freilich waren es nicht mehr
die lebhaften Unterhaltungen der früheren Zeiten, an die Gregor in den
kleinen Hotelzimmern stets mit einigem Verlangen gedacht hatte, wenn er sich
müde in das feuchte Bettzeug hatte werfen müssen. Es ging jetzt meist nur
sehr still zu. Der Vater schlief bald nach dem Nachtessen in seinem Sessel
ein; die Mutter und Schwester ermahnten einander zur Stille; die Mutter
nähte, weit unter das Licht vorgebeugt, feine Wäsche für ein Modengeschäft;
die Schwester, die eine Stellung als Verkäuferin angenommen hatte, lernte am
Abend Stenographie und Französisch, um vielleicht später einmal einen
besseren Posten zu erreichen. Manchmal wachte der Vater auf, und als wisse
er gar nicht, dass er geschlafen habe, sagte er zur Mutter: »Wie lange du
heute schon wieder nähst!« und schlief sofort wieder ein, während Mutter und
Schwester einander müde zulächelten.
Mit einer Art Eigensinn
weigerte sich der Vater, auch zu Hause seine Dieneruniform abzulegen; und
während der Schlafrock nutzlos am Kleiderhaken hing, schlummerte der Vater
vollständig angezogen auf seinem Platz, als sei er immer zu seinem Dienste
bereit und warte auch hier auf die Stimme des Vorgesetzten. Infolgedessen
verlor die gleich anfangs nicht neue Uniform trotz aller Sorgfalt von Mutter
und Schwester an Reinlichkeit, und Gregor sah oft ganze Abende lang auf
dieses über und über fleckige, mit seinen stets geputzten Goldknöpfen
leuchtende Kleid, in dem der alte Mann höchst unbequem und doch ruhig
schlief.
Sobald die Uhr zehn schlug,
suchte die Mutter durch leise Zusprache den Vater zu wecken und dann zu
überreden, ins Bett zu gehen, denn hier war es doch kein richtiger Schlaf,
und diesen hatte der Vater, der um sechs Uhr seinen Dienst antreten musste,
äußerst nötig. Aber in dem Eigensinn, der ihn, seitdem er Diener war,
ergriffen hatte, bestand er immer darauf, noch länger bei Tisch zu bleiben,
trotzdem er regelmäßig einschlief, und war dann überdies nur mit der größten
Mühe zu bewegen, den Sessel mit dem Bett zu vertauschen. Da mochten Mutter
und Schwester mit kleinen Ermahnungen noch so sehr auf ihn eindringen,
viertelstundenlang schüttelte er langsam den Kopf, hielt die Augen
geschlossen und stand nicht auf. Die Mutter zupfte ihn am Ärmel, sagte ihm
Schmeichelworte ins Ohr, die Schwester verließ ihre Aufgabe, um der Mutter
zu helfen, aber beim Vater verfing das nicht. Er versank nur noch tiefer in
seinen Sessel. Erst als ihn die Frauen unter den Achseln fassten, schlug er
die Augen auf, sah abwechselnd die Mutter und die Schwester an und pflegte
zu sagen: »Das ist ein Leben. Das ist die Ruhe meiner alten Tage.« Und auf
die beiden Frauen gestützt, erhob er sich, umständlich, als sei er für sich
selbst die größte Last, ließ sich von den Frauen bis zur Türe führen, winkte
ihnen dort ab und ging nun selbständig weiter, während die Mutter ihr
Nähzeug, die Schwester ihre Feder eiligst hinwarfen, um hinter dem Vater zu
laufen und ihm weiter behilflich zu sein.
Wer hatte in dieser
abgearbeiteten und übermüdeten Familie Zeit, sich um Gregor mehr zu kümmern,
als unbedingt nötig war? Der Haushalt wurde immer mehr eingeschränkt; das
Dienstmädchen wurde nun doch entlassen; eine riesige knochige Bedienerin mit
weißem, den Kopf umflatterndem Haar kam des Morgens und des Abends, um die
schwerste Arbeit zu leisten; alles andere besorgte die Mutter neben ihrer
vielen Näharbeit. Es geschah sogar, dass verschiedene Familienschmuckstücke,
welche früher die Mutter und die Schwester überglücklich bei Unterhaltungen
und Feierlichkeiten getragen hatten, verkauft wurden, wie Gregor am Abend
aus der allgemeinen Besprechung der erzielten Preise erfuhr. Die größte
Klage war aber stets, dass man diese für die gegenwärtigen Verhältnisse
allzu große Wohnung nicht verlassen konnte, da es nicht auszudenken war, wie
man Gregor übersiedeln sollte. Aber Gregor sah wohl ein, dass es nicht nur
die Rücksicht auf ihn war, welche eine Übersiedlung verhinderte, denn ihn
hätte man doch in einer passenden Kiste mit ein paar Luftlöchern leicht
transportieren können; was die Familie hauptsächlich vom Wohnungswechsel
abhielt, war vielmehr die völlige Hoffnungslosigkeit und der Gedanke daran,
dass sie mit einem Unglück geschlagen war, wie niemand sonst im ganzen
Verwandten- und Bekanntenkreis. Was die Welt von armen Leuten verlangt,
erfüllten sie bis zum äußersten, der Vater holte den kleinen Bankbeamten das
Frühstück, die Mutter opferte sich für die Wäsche fremder Leute, die
Schwester lief nach dem Befehl der Kunden hinter dem Pulte hin und her, aber
weiter reichten die Kräfte der Familie schon nicht. Und die Wunde im Rücken
fing Gregor wie neu zu schmerzen an, wenn Mutter und Schwester, nachdem sie
den Vater zu Bett gebracht hatten, nun zurückkehrten, die Arbeit
liegenließen, nahe zusammenrückten, schon Wange an Wange saßen; wenn jetzt
die Mutter, auf Gregors Zimmer zeigend, sagte: »Mach' dort die Tür zu,
Grete«, und wenn nun Gregor wieder im Dunkel war, während nebenan die Frauen
ihre Tränen vermischten oder gar tränenlos den Tisch anstarrten.
Die Nächte und Tage verbrachte
Gregor fast ganz ohne Schlaf. Manchmal dachte er daran, beim nächsten Öffnen
der Tür die Angelegenheiten der Familie ganz so wie früher wieder in die
Hand zu nehmen; in seinen Gedanken erschienen wieder nach langer Zeit der
Chef und der Prokurist, die Kommis und die Lehrjungen, der so
begriffsstützige Hausknecht, zwei, drei Freunde aus anderen Geschäften, ein
Stubenmädchen aus einem Hotel in der Provinz, eine liebe, flüchtige
Erinnerung, eine Kassiererin aus einem Hutgeschäft, um die er sich
ernsthaft, aber zu langsam beworben hatte - sie alle erschienen untermischt
mit Fremden oder schon Vergessenen, aber statt ihm und seiner Familie zu
helfen, waren sie sämtlich unzugänglich, und er war froh, wenn sie
verschwanden. Dann aber war er wieder gar nicht in der Laune, sich um seine
Familie zu sorgen, bloß Wut über die schlechte Wartung erfüllte ihn, und
trotzdem er sich nichts vorstellen konnte, worauf er Appetit gehabt hätte,
machte er doch Pläne, wie er in die Speisekammer gelangen könnte, um dort zu
nehmen, was ihm, auch wenn er keinen Hunger hatte, immerhin gebührte. Ohne
jetzt mehr nachzudenken, womit man Gregor einen besonderen Gefallen machen
könnte, schob die Schwester eiligst, ehe sie morgens und mittags ins
Geschäft lief, mit dem Fuß irgendeine beliebige Speise in Gregors Zimmer
hinein, um sie am Abend, gleichgültig dagegen, ob die Speise vielleicht nur
verkostet oder - der häufigste Fall - gänzlich unberührt war, mit einem
Schwenken des Besens hinauszukehren. Das Aufräumen des Zimmers, das sie nun
immer abends besorgte, konnte gar nicht mehr schneller getan sein.
Schmutzstreifen zogen sich die Wände entlang, hie und da lagen Knäuel von
Staub und Unrat. In der ersten Zeit stellte sich Gregor bei der Ankunft der
Schwester in derartige besonders bezeichnende Winkel, um ihr durch diese
Stellung gewissermaßen einen Vorwurf zu machen. Aber er hätte wohl
wochenlang dort bleiben können, ohne dass sich die Schwester gebessert
hätte; sie sah ja den Schmutz genau so wie er, aber sie hatte sich eben
entschlossen, ihn zu lassen. Dabei wachte sie mit einer an ihr ganz neuen
Empfindlichkeit, die überhaupt die ganze Familie ergriffen hatte, darüber,
dass das Aufräumen von Gregors Zimmer ihr vorbehalten blieb. Einmal hatte
die Mutter Gregors Zimmer einer großen Reinigung unterzogen, die ihr nur
nach Verbrauch einiger Kübel Wasser gelungen war - die viele Feuchtigkeit
kränkte allerdings Gregor auch und er lag breit, verbittert und unbeweglich
auf dem Kanapee -, aber die Strafe blieb für die Mutter nicht aus. Denn kaum
hatte am Abend die Schwester die Veränderung in Gregors Zimmer bemerkt, als
sie, aufs höchste beleidigt, ins Wohnzimmer lief und, trotz der beschwörend
erhobenen Hände der Mutter, in einen Weinkrampf ausbrach, dem die Eltern -
der Vater war natürlich aus seinem Sessel aufgeschreckt worden - zuerst
erstaunt und hilflos zusahen; bis auch sie sich zu rühren anfingen; der
Vater rechts der Mutter Vorwürfe machte, dass sie Gregors Zimmer nicht der
Schwester zur Reinigung überließ; links dagegen die Schwester anschrie, sie
werde niemals mehr Gregors Zimmer reinigen dürfen; während die Mutter den
Vater, der sich vor Erregung nicht mehr kannte, ins Schlafzimmer zu
schleppen suchte; die Schwester, von Schluchzen geschüttelt, mit ihren
kleinen Fäusten den Tisch bearbeitete; und Gregor laut vor Wut darüber
zischte, dass es keinem einfiel, die Tür zu schließen und ihm diesen Anblick
und Lärm zu ersparen.
Aber selbst wenn die Schwester,
erschöpft von ihrer Berufsarbeit, dessen überdrüssig geworden war, für
Gregor, wie früher, zu sorgen, so hätte noch keineswegs die Mutter für sie
eintreten müssen und Gregor hätte doch nicht vernachlässigt werden brauchen.
Denn nun war die Bedienerin da. Diese alte Witwe, die in ihrem langen Leben
mit Hilfe ihres starken Knochenbaues das Ärgste überstanden haben mochte,
hatte keinen eigentlichen Abscheu vor Gregor. Ohne irgendwie neugierig zu
sein, hatte sie zufällig einmal die Tür von Gregors Zimmer aufgemacht und
war im Anblick Gregors, der, gänzlich überrascht, trotzdem ihn niemand
jagte, hin und her zu laufen begann, die Hände im Schoß gefaltet staunend
stehen geblieben. Seitdem versäumte sie nicht, stets flüchtig morgens und
abends die Tür ein wenig zu öffnen und zu Gregor hineinzuschauen. Anfangs
rief sie ihn auch zu sich herbei, mit Worten, die sie wahrscheinlich für
freundlich hielt, wie »Komm mal herüber, alter Mistkäfer!« oder »Seht mal
den alten Mistkäfer!« Auf solche Ansprachen antwortete Gregor mit nichts,
sondern blieb unbeweglich auf seinem Platz, als sei die Tür gar nicht
geöffnet worden. Hätte man doch dieser Bedienerin, statt sie nach ihrer
Laune ihn nutzlos stören zu lassen, lieber den Befehl gegeben, sein Zimmer
täglich zu reinigen! Einmal am frühen Morgen - ein heftiger Regen,
vielleicht schon ein Zeichen des kommenden Frühjahrs, schlug an die Scheiben
- war Gregor, als die Bedienerin mit ihren Redensarten wieder begann,
derartig verbittert, dass er, wie zum Angriff, allerdings langsam und
hinfällig, sich gegen sie wendete. Die Bedienerin aber, statt sich zu
fürchten, hob bloß einen in der Nähe der Tür befindlichen Stuhl hoch empor,
und wie sie mit groß geöffnetem Munde dastand, war ihre Absicht klar, den
Mund erst zu schließen, wenn der Sessel in ihrer Hand auf Gregors Rücken
niederschlagen würde. »Also weiter geht es nicht?« fragte sie, als Gregor
sich wieder umdrehte, und stellte den Sessel ruhig in die Ecke zurück.
Gregor aß nun fast gar nichts
mehr. Nur wenn er zufällig an der vorbereiteten Speise vorüberkam, nahm er
zum Spiel einen Bissen in den Mund, hielt ihn dort stundenlang und spie ihn
dann meist wieder aus. Zuerst dachte er, es sei die Trauer über den Zustand
seines Zimmers, die ihn vom Essen abhalte, aber gerade mit den Veränderungen
des Zimmers söhnte er sich sehr bald aus. Man hatte sich angewöhnt, Dinge,
die man anderswo nicht unterbringen konnte, in dieses Zimmer
hineinzustellen, und solcher Dinge gab es nun viele, da man ein Zimmer der
Wohnung an drei Zimmerherren vermietet hatte. Diese ernsten Herren - alle
drei hatten Vollbärte, wie Gregor einmal durch eine Türspalte feststellte -
waren peinlich auf Ordnung, nicht nur in ihrem Zimmer, sondern, da sie sich
nun einmal hier eingemietet hatten, in der ganzen Wirtschaft, also
insbesondere in der Küche, bedacht. Unnützen oder gar schmutzigen Kram
ertrugen sie nicht. Überdies hatten sie zum größten Teil ihre eigenen
Einrichtungsstücke mitgebracht. Aus diesem Grunde waren viele Dinge
überflüssig geworden, die zwar nicht verkäuflich waren, die man aber auch
nicht wegwerfen wollte. Alle diese wanderten in Gregors Zimmer. Ebenso auch
die Aschenkiste und die Abfallkiste aus der Küche. Was nur im Augenblick
unbrauchbar war, schleuderte die Bedienerin, die es immer sehr eilig hatte,
einfach in Gregors Zimmer; Gregor sah glücklicherweise meist nur den
betreffenden Gegenstand und die Hand, die ihn hielt. Die Bedienerin hatte
vielleicht die Absicht, bei Zeit und Gelegenheit die Dinge wieder zu holen
oder alle insgesamt mit einemmal hinauszuwerfen, tatsächlich aber blieben
sie dort liegen, wohin sie durch den ersten Wurf gekommen waren, wenn nicht
Gregor sich durch das Rumpelzeug wand und es in Bewegung brachte, zuerst
gezwungen, weil kein sonstiger Platz zum Kriechen frei war, später aber mit
wachsendem Vergnügen, obwohl er nach solchen Wanderungen, zum Sterben müde
und traurig, wieder stundenlang sich nicht rührte.
Da die Zimmerherren manchmal
auch ihr Abendessen zu Hause im gemeinsamen Wohnzimmer einnahmen, blieb die
Wohnzimmertür an manchen Abenden geschlossen, aber Gregor verzichtete ganz
leicht auf das Öffnen der Tür, hatte er doch schon manche Abende, an denen
sie geöffnet war, nicht ausgenützt, sondern war, ohne dass es die Familie
merkte, im dunkelsten Winkel seines Zimmers gelegen. Einmal aber hatte die
Bedienerin die Tür zum Wohnzimmer ein wenig offen gelassen; und sie blieb so
offen, auch als die Zimmerherren am Abend eintraten und Licht gemacht wurde.
Sie setzten sich oben an den Tisch, wo in früheren Zeiten der Vater, die
Mutter und Gregor gegessen hatten, entfalteten die Servietten und nahmen
Messer und Gabel in die Hand. Sofort erschien in der Tür die Mutter mit
einer Schüssel Fleisch und knapp hinter ihr die Schwester mit einer Schüssel
hochgeschichteter Kartoffeln. Das Essen dampfte mit starkem Rauch. Die
Zimmerherren beugten sich über die vor sie hingestellten Schüsseln, als
wollten sie sie vor dem Essen prüfen, und tatsächlich zerschnitt der,
welcher in der Mitte saß und den anderen zwei als Autorität zu gelten
schien, ein Stück Fleisch noch auf der Schüssel, offenbar um festzustellen,
ob es mürbe genug sei und ob es nicht etwa in die Küche zurückgeschickt
werden solle. Er war befriedigt, und Mutter und Schwester, die gespannt
zugesehen hatten, begannen aufatmend zu lächeln.
Die Familie selbst aß in der
Küche. Trotzdem kam der Vater, ehe er in die Küche ging, in dieses Zimmer
herein und machte mit einer einzigen Verbeugung, die Kappe in der Hand,
einen Rundgang um den Tisch. Die Zimmerherren erhoben sich sämtlich und
murmelten etwas in ihre Bärte. Als sie dann allein waren, aßen sie fast
unter vollkommenem Stillschweigen. Sonderbar schien es Gregor, dass man aus
allen mannigfachen Geräuschen des Essens immer wieder ihre kauenden Zähne
heraushörte, als ob damit Gregor gezeigt werden sollte, dass man Zähne
brauche, um zu essen, und dass man auch mit den schönsten zahnlosen Kiefern
nichts ausrichten könne. "Ich habe ja Appetit", sagte sich Gregor
sorgenvoll, "aber nicht auf diese Dinge. Wie sich diese Zimmerherren nähren,
und ich komme um!"
Gerade an diesem Abend - Gregor
erinnerte sich nicht, während der ganzen Zeit die Violine gehört zu haben -
ertönte sie von der Küche her. Die Zimmerherren hatten schon ihr Nachtmahl
beendet, der mittlere hatte eine Zeitung hervorgezogen, den zwei anderen je
ein Blatt gegeben, und nun lasen sie zurückgelehnt und rauchten. Als die
Violine zu spielen begann, wurden sie aufmerksam, erhoben sich und gingen
auf den Fußspitzen zur Vorzimmertür, in der sie aneinandergedrängt stehen
blieben. Man musste sie von der Küche aus gehört haben, denn der Vater rief:
»Ist den Herren das Spiel vielleicht unangenehm? Es kann sofort eingestellt
werden.« »Im Gegenteil«, sagte der mittlere der Herren, »möchte das Fräulein
nicht zu uns hereinkommen und hier im Zimmer spielen, wo es doch viel
bequemer und gemütlicher ist?« »O bitte«, rief der Vater, als sei er der
Violinspieler. Die Herren traten ins Zimmer zurück und warteten. Bald kam
der Vater mit dem Notenpult, die Mutter mit den Noten und die Schwester mit
der Violine. Die Schwester bereitete alles ruhig zum Spiele vor; die Eltern,
die niemals früher Zimmer vermietet hatten und deshalb die Höflichkeit gegen
die Zimmerherren übertrieben, wagten gar nicht, sich auf ihre eigenen Sessel
zu setzen; der Vater lehnte an der Tür, die rechte Hand zwischen zwei Knöpfe
des geschlossenen Livreerockes gesteckt; die Mutter aber erhielt von einem
Herrn einen Sessel angeboten und saß, da sie den Sessel dort ließ, wohin ihn
der Herr zufällig gestellt hatte, abseits in einem Winkel.
Die Schwester begann zu
spielen; Vater und Mutter verfolgten, jeder von seiner Seite, aufmerksam die
Bewegungen ihrer Hände. Gregor hatte, von dem Spiele angezogen, sich ein
wenig weiter vorgewagt und war schon mit dem Kopf im Wohnzimmer. Er wunderte
sich kaum darüber, dass er in letzter Zeit so wenig Rücksicht auf die andern
nahm; früher war diese Rücksichtnahme sein Stolz gewesen. Und dabei hätte er
gerade jetzt mehr Grund gehabt, sich zu verstecken, denn infolge des
Staubes, der in seinem Zimmer überall lag und bei der kleinsten Bewegung
umherflog, war auch er ganz staubbedeckt; Fäden, Haare, Speiseüberreste
schleppte er auf seinem Rücken und an den Seiten mit sich herum; seine
Gleichgültigkeit gegen alles war viel zu groß, als dass er sich, wie früher
mehrmals während des Tages, auf den Rücken gelegt und am Teppich gescheuert
hätte. Und trotz dieses Zustandes hatte er keine Scheu, ein Stück auf dem
makellosen Fußboden des Wohnzimmers vorzurücken.
Allerdings achtete auch niemand
auf ihn. Die Familie war gänzlich vom Violinspiel in Anspruch genommen; die
Zimmerherren dagegen, die zunächst, die Hände in den Hosentaschen, viel zu
nahe hinter dem Notenpult der Schwester sich aufgestellt hatten, so dass sie
alle in die Noten hätten sehen können, was sicher die Schwester stören
musste, zogen sich bald unter halblauten Gesprächen mit gesenkten Köpfen zum
Fenster zurück, wo sie, vom Vater besorgt beobachtet, auch blieben. Es hatte
nun wirklich den überdeutlichen Anschein, als wären sie in ihrer Annahme,
ein schönes oder unterhaltendes Violinspiel zu hören, enttäuscht, hätten die
ganze Vorführung satt und ließen sich nur aus Höflichkeit noch in ihrer Ruhe
stören. Besonders die Art, wie sie alle aus Nase und Mund den Rauch ihrer
Zigarren in die Höhe bliesen, ließ auf große Nervosität schließen. Und doch
spielte die Schwester so schön. Ihr Gesicht war zur Seite geneigt, prüfend
und traurig folgten ihre Blicke den Notenzeilen. Gregor kroch noch ein Stück
vorwärts und hielt den Kopf eng an den Boden, um möglicherweise ihren
Blicken begegnen zu können. War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff? Ihm
war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung. Er war
entschlossen, bis zur Schwester vorzudringen, sie am Rock zu zupfen und ihr
dadurch anzudeuten, sie möge doch mit ihrer Violine in sein Zimmer kommen,
denn niemand lohnte hier das Spiel so, wie er es lohnen wollte. Er wollte
sie nicht mehr aus seinem Zimmer lassen, wenigstens nicht, solange er lebte;
seine Schreckgestalt sollte ihm zum ersten Mal nützlich werden; an allen
Türen seines Zimmers wollte er gleichzeitig sein und den Angreifern
entgegenfauchen; die Schwester aber sollte nicht gezwungen, sondern
freiwillig bei ihm bleiben; sie sollte neben ihm auf dem Kanapee sitzen, das
Ohr zu ihm herunterneigen, und er wollte ihr dann anvertrauen, dass er die
feste Absicht gehabt habe, sie auf das Konservatorium zu schicken, und dass
er dies, wenn nicht das Unglück dazwischen gekommen wäre, vergangene
Weihnachten - Weihnachten war doch wohl schon vorüber? - allen gesagt hätte,
ohne sich um irgendwelche Widerreden zu kümmern. Nach dieser Erklärung würde
die Schwester in Tränen der Rührung ausbrechen, und Gregor würde sich bis zu
ihrer Achsel erheben und ihren Hals küssen, den sie, seitdem sie ins
Geschäft ging, frei ohne Band oder Kragen trug.
»Herr Samsa!« rief der mittlere
Herr dem Vater zu und zeigte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit dem
Zeigefinger auf den langsam sich vorwärtsbewegenden Gregor. Die Violine
verstummte, der mittlere Zimmerherr lächelte erst einmal kopfschüttelnd
seinen Freunden zu und sah dann wieder auf Gregor hin. Der Vater schien es
für nötiger zu halten, statt Gregor zu vertreiben, vorerst die Zimmerherren
zu beruhigen, trotzdem diese gar nicht aufgeregt waren und Gregor sie mehr
als das Violinspiel zu unterhalten schien. Er eilte zu ihnen und suchte sie
mit ausgebreiteten Armen in ihr Zimmer zu drängen und gleichzeitig mit
seinem Körper ihnen den Ausblick auf Gregor zu nehmen. Sie wurden nun
tatsächlich ein wenig böse, man wusste nicht mehr, ob über das Benehmen des
Vaters oder über die ihnen jetzt aufgehende Erkenntnis, ohne es zu wissen,
einen solchen Zimmernachbar wie Gregor besessen zu haben. Sie verlangten vom
Vater Erklärungen, hoben ihrerseits die Arme, zupften unruhig an ihren
Bärten und wichen nur langsam gegen ihr Zimmer zurück. Inzwischen hatte die
Schwester die Verlorenheit, in die sie nach dem plötzlich abgebrochenen
Spiel verfallen war, überwunden, hatte sich, nachdem sie eine Zeitlang in
den lässig hängenden Händen Violine und Bogen gehalten und weiter, als
spiele sie noch, in die Noten gesehen hatte, mit einem Male aufgerafft,
hatte das Instrument auf den Schoß der Mutter gelegt, die in Atembeschwerden
mit heftig arbeitenden Lungen noch auf ihrem Sessel saß, und war in das
Nebenzimmer gelaufen, dem sich die Zimmerherren unter dem Drängen des Vaters
schon schneller näherten. Man sah, wie unter den geübten Händen der
Schwester die Decken und Polster in den Betten in die Höhe flogen und sich
ordneten. Noch ehe die Herren das Zimmer erreicht hatten, war sie mit dem
Aufbetten fertig und schlüpfte heraus. Der Vater schien wieder von seinem
Eigensinn derartig ergriffen, dass er jeden Respekt vergaß, den er seinen
Mietern immerhin schuldete. Er drängte nur und drängte, bis schon in der Tür
des Zimmers der mittlere der Herren donnernd mit dem Fuß aufstampfte und
dadurch den Vater zum Stehen brachte. »Ich erkläre hiermit«, sagte er, hob
die Hand und suchte mit den Blicken auch die Mutter und die Schwester, »dass
ich mit Rücksicht auf die in dieser Wohnung und Familie herrschenden
widerlichen Verhältnisse« - hierbei spie er kurz entschlossen auf den Boden
- »mein Zimmer augenblicklich kündige. Ich werde natürlich auch für die
Tage, die ich hier gewohnt habe, nicht das geringste bezahlen, dagegen werde
ich es mir noch überlegen, ob ich nicht mit irgendwelchen - glauben Sie mir
- sehr leicht zu begründenden Forderungen gegen Sie auftreten werde.« Er
schwieg und sah gerade vor sich hin, als erwarte er etwas. Tatsächlich
fielen sofort seine zwei Freunde mit den Worten ein: »Auch wir kündigen
augenblicklich.« Darauf fasste er die Türklinke und schloss mit einem Krach
die Tür.
Das Vater wankte mit tastenden
Händen zu seinem Sessel und ließ sich in ihn fallen; es sah aus, als strecke
er sich zu seinem gewöhnlichen Abendschläfchen, aber das starke Nicken
seines wie haltlosen Kopfes zeigte, dass er ganz und gar nicht schlief.
Gregor war die ganze Zeit still auf dem Platz gelegen, auf dem ihn die
Zimmerherren ertappt hatten. Die Enttäuschung über das Misslingen seines
Planes, vielleicht aber auch die durch das viele Hungern verursachte
Schwäche machten es ihm unmöglich, sich zu bewegen. Er fürchtete mit einer
gewissen Bestimmtheit schon für den nächsten Augenblick einen allgemeinen
über ihn sich entladenden Zusammensturz und wartete. Nicht einmal die
Violine schreckte ihn auf, die, unter den zitternden Fingern der Mutter
hervor, ihr vom Schoße fiel und einen hallenden Ton von sich gab. »Liebe
Eltern«, sagte die Schwester und schlug zur Einleitung mit der Hand auf den
Tisch, »so geht es nicht weiter. Wenn ihr das vielleicht nicht einsehet, ich
sehe es ein. Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders
aussprechen, und sage daher bloß: wir müssen versuchen, es loszuwerden. Wir
haben das Menschenmögliche versucht, es zu pflegen und zu dulden, ich
glaube, es kann uns niemand den geringsten Vorwurf machen.«
»Sie hat tausendmal recht«,
sagte der Vater für sich. Die Mutter, die noch immer nicht genug Atem finden
konnte, fing in die vorgehaltene Hand mit einem irrsinnigen Ausdruck der
Augen dumpf zu husten an.
Die Schwester eilte zur Mutter
und hielt ihr die Stirn. Der Vater schien durch die Worte der Schwester auf
bestimmtere Gedanken gebracht zu sein, hatte sich aufrecht gesetzt, spielte
mit seiner Dienermütze zwischen den Tellern, die noch vom Nachtmahl der
Zimmerherren her auf dem Tische lagen, und sah bisweilen auf den stillen
Gregor hin. »Wir müssen es loszuwerden versuchen«, sagte die Schwester nun
ausschließlich zum Vater, denn die Mutter hörte in ihrem Husten nichts, »es
bringt euch noch beide um, ich sehe es kommen. Wenn man schon so schwer
arbeiten muss, wie wir alle, kann man nicht noch zu Hause diese ewige
Quälerei ertragen. Ich kann es auch nicht mehr.« Und sie brach so heftig in
Weinen aus, dass ihre Tränen auf das Gesicht der Mutter niederflossen, von
dem sie sie mit mechanischen Handbewegungen wischte. »Kind«, sagte der Vater
mitleidig und mit auffallendem Verständnis, »was sollen wir aber tun?«
Die Schwester zuckte nur die
Achseln zum Zeichen der Ratlosigkeit, die sie nun während des Weinens im
Gegensatz zu ihrer früheren Sicherheit ergriffen hatte. »Wenn er uns
verstünde«, sagte der Vater halb fragend; die Schwester schüttelte aus dem
Weinen heraus heftig die Hand zum Zeichen, dass daran nicht zu denken sei.
»Wenn er uns verstünde«, wiederholte der Vater und nahm durch Schließen der
Augen die Überzeugung der Schwester von der Unmöglichkeit dessen in sich
auf, »dann wäre vielleicht ein Übereinkommen mit ihm möglich. Aber so -«
»Weg muss es«, rief die Schwester, »das ist das einzige Mittel, Vater. Du
musst bloß den Gedanken loszuwerden suchen, dass es Gregor ist. dass wir es
solange geglaubt haben, ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es
denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein
Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und
wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten
weiter leben und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses
Tier, vertreibt die Zimmerherren, will offenbar die ganze Wohnung einnehmen
und uns auf der Gasse übernachten lassen. Sieh nur, Vater«, schrie sie
plötzlich auf, »er fängt schon wieder an!« Und in einem für Gregor gänzlich
unverständlichen Schrecken verließ die Schwester sogar die Mutter, stieß
sich förmlich von ihrem Sessel ab, als wollte sie lieber die Mutter opfern,
als in Gregors Nähe bleiben, und eilte hinter den Vater, der, lediglich
durch ihr Benehmen erregt, auch aufstand und die Arme wie zum Schutze der
Schwester vor ihr halb erhob. Aber Gregor fiel es doch gar nicht ein, irgend
jemandem und gar seiner Schwester Angst machen zu wollen. Er hatte bloß
angefangen, sich umzudrehen, um in sein Zimmer zurückzuwandern, und das nahm
sich allerdings auffallend aus, da er infolge seines leidenden Zustandes bei
den schwierigen Umdrehungen mit seinem Kopfe nachhelfen musste, den er
hierbei viele Male hob und gegen den Boden schlug. Er hielt inne und sah
sich um. Seine gute Absicht schien erkannt worden zu sein; es war nur ein
augenblicklicher Schrecken gewesen. Nun sahen ihn alle schweigend und
traurig an. Die Mutter lag, die Beine ausgestreckt und aneinandergedrückt,
in ihrem Sessel, die Augen fielen ihr vor Ermattung fast zu; der Vater und
die Schwester saßen nebeneinander, die Schwester hatte ihre Hand um des
Vaters Hals gelegt.
"Nun darf ich mich schon
vielleicht umdrehen", dachte Gregor und begann seine Arbeit wieder. Er
konnte das Schnaufen der Anstrengung nicht unterdrücken und musste auch hie
und da ausruhen. Im übrigen drängte ihn auch niemand, es war alles ihm
selbst überlassen. Als er die Umdrehung vollendet hatte, fing er sofort an,
geradeaus zurückzuwandern. Er staunte über die große Entfernung, die ihn von
seinem Zimmer trennte, und begriff gar nicht, wie er bei seiner Schwäche vor
kurzer Zeit den gleichen Weg, fast ohne es zu merken, zurückgelegt hatte.
Immerfort nur auf rasches Kriechen bedacht, achtete er kaum darauf, dass
kein Wort, kein Ausruf seiner Familie ihn störte. Erst als er schon in der
Tür war, wendete er den Kopf, nicht vollständig, denn er fühlte den Hals
steif werden, immerhin sah er noch, dass sich hinter ihm nichts verändert
hatte, nur die Schwester war aufgestanden. Sein letzter Blick streifte die
Mutter, die nun völlig eingeschlafen war.
Kaum war er innerhalb seines
Zimmers, wurde die Tür eiligst zugedrückt, festgeriegelt und versperrt. Über
den plötzlichen Lärm hinter sich erschrak Gregor so, dass ihm die Beinchen
einknickten. Es war die Schwester, die sich so beeilt hatte. Aufrecht war
sie schon da gestanden und hatte gewartet, leichtfüßig war sie dann
vorwärtsgesprungen, Gregor hatte sie gar nicht kommen hören, und ein
»Endlich!« rief sie den Eltern zu, während sie den Schlüssel im schloss
umdrehte.
»Und jetzt?« fragte sich Gregor
und sah sich im Dunkeln um. Er machte bald die Entdeckung, dass er sich nun
überhaupt nicht mehr rühren konnte. Er wunderte sich darüber nicht, eher kam
es ihm unnatürlich vor, dass er sich bis jetzt tatsächlich mit diesen dünnen
Beinchen hatte fortbewegen können. Im übrigen fühlte er sich verhältnismäßig
behaglich. Er hatte zwar Schmerzen im ganzen Leib, aber ihm war, als würden
sie allmählich schwächer und schwächer und würden schließlich ganz vergehen.
Den verfaulten Apfel in seinem Rücken und die entzündete Umgebung, die ganz
von weichem Staub bedeckt waren, spürte er schon kaum. An seine Familie
dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, dass er
verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner
Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er,
bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang des allgemeinen
Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch. Dann sank sein Kopf
ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte sein
letzter Atem schwach hervor.
Als am frühen Morgen die
Bedienerin kam - vor lauter Kraft und Eile schlug sie, wie oft man sie auch
schon gebeten hatte, das zu vermeiden, alle Türen derartig zu, dass in der
ganzen Wohnung von ihrem Kommen an kein ruhiger Schlaf mehr möglich war -,
fand sie bei ihrem gewöhnlichen kurzen Besuch an Gregor zuerst nichts
Besonderes. Sie dachte, er liege absichtlich so unbeweglich da und spiele
den Beleidigten; sie traute ihm allen möglichen Verstand zu. Weil sie
zufällig den langen Besen in der Hand hielt, suchte sie mit ihm Gregor von
der Tür aus zu kitzeln. Als sich auch da kein Erfolg zeigte, wurde sie
ärgerlich und stieß ein wenig in Gregor hinein, und erst als sie ihn ohne
jeden Widerstand von seinem Platze geschoben hatte, wurde sie aufmerksam.
Als sie bald den wahren Sachverhalt erkannte, machte sie große Augen, pfiff
vor sich hin, hielt sich aber nicht lange auf, sondern riss die Tür des
Schlafzimmers auf und rief mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: »Sehen
Sie nur mal an, es ist krepiert; da liegt es, ganz und gar krepiert!«
Das Ehepaar Samsa saß im
Ehebett aufrecht da und hatte zu tun, den Schrecken über die Bedienerin zu
verwinden, ehe es dazu kam, ihre Meldung aufzufassen. Dann aber stiegen Herr
und Frau Samsa, jeder auf seiner Seite, eiligst aus dem Bett, Herr Samsa
warf die Decke über seine Schultern, Frau Samsa kam nur im Nachthemd hervor;
so traten sie in Gregors Zimmer. Inzwischen hatte sich auch die Tür des
Wohnzimmers geöffnet, in dem Grete seit dem Einzug der Zimmerherren schlief;
sie war völlig angezogen, als hätte sie gar nicht geschlafen, auch ihr
bleiches Gesicht schien das zu beweisen. »Tot?« sagte Frau Samsa und sah
fragend zur Bedienerin auf, trotzdem sie doch alles selbst prüfen und sogar
ohne Prüfung erkennen konnte. »Das will ich meinen«, sagte die Bedienerin
und stieß zum Beweis Gregors Leiche mit dem Besen noch ein großes Stück
seitwärts. Frau Samsa machte eine Bewegung, als wolle sie den Besen
zurückhalten, tat es aber nicht. »Nun«, sagte Herr Samsa, »jetzt können wir
Gott danken.« Er bekreuzte sich, und die drei Frauen folgten seinem
Beispiel. Grete, die kein Auge von der Leiche wendete, sagte: »Seht nur, wie
mager er war. Er hat ja auch schon so lange Zeit nichts gegessen. So wie die
Speisen hereinkamen, sind sie wieder hinausgekommen.« Tatsächlich war
Gregors Körper vollständig flach und trocken, man erkannte das eigentlich
erst jetzt, da er nicht mehr von den Beinchen gehoben war und auch sonst
nichts den Blick ablenkte.
»Komm, Grete, auf ein Weilchen
zu uns herein«, sagte Frau Samsa mit einem wehmütigen Lächeln, und Grete
ging, nicht ohne nach der Leiche zurückzusehen, hinter den Eltern in das
Schlafzimmer. Die Bedienerin schloss die Tür und öffnete gänzlich das
Fenster. Trotz des frühen Morgens war der frischen Luft schon etwas
Lauigkeit beigemischt. Es war eben schon Ende März.
Aus ihrem Zimmer traten die
drei Zimmerherren und sahen sich erstaunt nach ihrem Frühstück um; man hatte
sie vergessen. »Wo ist das Frühstück?« fragte der mittlere der Herren
mürrisch die Bedienerin. Diese aber legte den Finger an den Mund und winkte
dann hastig und schweigend den Herren zu, sie möchten in Gregors Zimmer
kommen. Sie kamen auch und standen dann, die Hände in den Taschen ihrer
etwas abgenützten Röckchen, in dem nun schon ganz hellen Zimmer um Gregors
Leiche herum. Da öffnete sich die Tür des Schlafzimmers, und Herr Samsa
erschien in seiner Livree, an einem Arm seine Frau, am anderen seine
Tochter. Alle waren ein wenig verweint; Grete drückte bisweilen ihr Gesicht
an den Arm des Vaters.
»Verlassen Sie sofort meine
Wohnung!« sagte Herr Samsa und zeigte auf die Tür, ohne die Frauen von sich
zu lassen. »Wie meinen Sie das?« sagte der mittlere der Herren etwas
bestürzt und lächelte süßlich. Die zwei anderen hielten die Hände auf dem
Rücken und rieben sie ununterbrochen aneinander, wie in freudiger Erwartung
eines großen Streites, der aber für sie günstig ausfallen musste. »Ich meine
es genau so, wie ich es sage«, antwortete Herr Samsa und ging in einer Linie
mit seinen zwei Begleiterinnen auf den Zimmerherrn zu. Dieser stand zuerst
still da und sah zu Boden, als ob sich die Dinge in seinem Kopf zu einer
neuen Ordnung zusammenstellten. »Dann gehen wir also«, sagte er dann und sah
zu Herrn Samsa auf, als verlange er in einer plötzlich ihn überkommenden
Demut sogar für diesen Entschluss eine neue Genehmigung. Herr Samsa nickte
ihm bloß mehrmals kurz mit großen Augen zu.
Daraufhin ging der Herr
tatsächlich sofort mit langen Schritten ins Vorzimmer; seine beiden Freunde
hatten schon ein Weilchen lang mit ganz ruhigen Händen aufgehorcht und
hüpften ihm jetzt geradezu nach, wie in Angst, Herr Samsa könnte vor ihnen
ins Vorzimmer eintreten und die Verbindung mit ihrem Führer stören. Im
Vorzimmer nahmen alle drei die Hüte vom Kleiderrechen, zogen ihre Stöcke aus
dem Stockbehälter, verbeugten sich stumm und verließen die Wohnung. In
einem, wie sich zeigte, gänzlich unbegründeten Misstrauen trat Herr Samsa
mit den zwei Frauen auf den Vorplatz hinaus; an das Geländer gelehnt, sahen
sie zu, wie die drei Herren zwar langsam, aber ständig die lange Treppe
hinunterstiegen, in jedem Stockwerk in einer bestimmten Biegung des
Treppenhauses verschwanden und nach ein paar Augenblicken wieder
hervorkamen; je tiefer sie gelangten, desto mehr verlor sich das Interesse
der Familie Samsa für sie, und als ihnen entgegen und dann hoch über sie
hinweg ein Fleischergeselle mit der Trage auf dem Kopf in stolzer Haltung
heraufstieg, verließ bald Herr Samsa mit den Frauen das Geländer, und alle
kehrten, wie erleichtert, in ihre Wohnung zurück.
Sie beschlossen, den heutigen
Tag zum Ausruhen und Spazierengehen zu verwenden; sie hatten diese
Arbeitsunterbrechung nicht nur verdient, sie brauchten sie sogar unbedingt.
Und so setzten sie sich zum Tisch und schrieben drei Entschuldigungsbriefe,
Herr Samsa an seine Direktion, Frau Samsa an ihren Auftraggeber und Grete an
ihren Prinzipal. Während des Schreibens kam die Bedienerin herein, um zu
sagen, dass sie fortgehe, denn ihre Morgenarbeit war beendet. Die drei
Schreibenden nickten zuerst bloß, ohne aufzuschauen, erst als die Bedienerin
sich immer noch nicht entfernen wollte, sah man ärgerlich auf. »Nun?« fragte
Herr Samsa. Die Bedienerin stand lächelnd in der Tür, als habe sie der
Familie ein großes Glück zu melden, werde es aber nur dann tun, wenn sie
gründlich ausgefragt werde. Die fast aufrechte kleine Straußfeder auf ihrem
Hut, über die sich Herr Samsa schon während ihrer ganzen Dienstzeit ärgerte,
schwankte leicht nach allen Richtungen. »Also was wollen Sie eigentlich?«
fragte Frau Samsa, vor welcher die Bedienerin noch am meisten Respekt hatte.
»Ja«, antwortete die Bedienerin und konnte vor freundlichem Lachen nicht
gleich weiterreden, »also darüber, wie das Zeug von nebenan weggeschafft
werden soll, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Es ist schon in Ordnung.«
Frau Samsa und Grete beugten sich zu ihren Briefen nieder, als wollten sie
weiterschreiben; Herr Samsa, welcher merkte, dass die Bedienerin nun alles
ausführlich zu beschreiben anfangen wollte, wehrte dies mit ausgestreckter
Hand entschieden ab. Da sie aber nicht erzählen durfte, erinnerte sie sich
an die große Eile, die sie hatte, rief offenbar beleidigt: »Adjes allseits«,
drehte sich wild um und verließ unter fürchterlichem Türezuschlagen die
Wohnung.
»Abends wird sie entlassen«,
sagte Herr Samsa, bekam aber weder von seiner Frau noch von seiner Tochter
eine Antwort, denn die Bedienerin schien ihre kaum gewonnene Ruhe wieder
gestört zu haben. Sie erhoben sich, gingen zum Fenster und blieben dort,
sich umschlungen haltend. Herr Samsa drehte sich in seinem Sessel nach ihnen
um und beobachtete sie still ein Weilchen. Dann rief er: »Also kommt doch
her. Lasst schon endlich die alten Sachen. Und nehmt auch ein wenig
Rücksicht auf mich.« Gleich folgten ihm die Frauen, eilten zu ihm,
liebkosten ihn und beendeten rasch ihre Briefe.
Dann verließen alle drei
gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon seit Monaten nicht getan hatten,
und fuhren mit der Elektrischen ins Freie vor die Stadt. Der Wagen, in dem
sie allein saßen, war ganz von warmer Sonne durchschienen. Sie besprachen,
bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und
es fand sich, dass diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht
waren, denn aller drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich
noch gar nicht ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später
viel versprechend. Die größte augenblickliche Besserung der Lage musste sich
natürlich leicht durch einen Wohnungswechsel ergeben; sie wollten nun eine
kleinere und billigere, aber besser gelegene und überhaupt praktischere
Wohnung nehmen, als es die jetzige, noch von Gregor ausgesuchte war. Während
sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer
immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der
letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu
einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast
unbewusst durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, dass es nun
Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen
wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele
ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.
(Franz Kafka, Sämtliche
Erzählungen,. hg. v. Paul
Raabe, Fischer Taschenbuch 1078, Frankfurt/M. 1970, S.64-113)
Dieses Werk (Der Nachbar, von
Franz Kafka), das durch Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.10.2024