"Jugend ist eben eine Sturm-und-Drang-Periode im Leben", lautet wohl auch
heute noch die gängige Formel, auf die viele Menschen inhaltlich, oder
zumindest dem Sinn nach, zurückgreifen, wenn sie ihre Vorstellungen
darüber äußern, was wohl das Wesentliche in dieser Lebensphase
darstellt.
Mehr als selbstironisch ist auch die immer wieder kolportierte,
den Jugendlichen quasi selbst in den Mund gelegte Aussage: "Jugend, das
ist die Zeit, wenn die Eltern schwierig werden."
Jugend als Zeit des Aufbegehrens?
Jugend als eine Zeit
des Aufbegehrens und (gemeinsamen) Leidens von Heranwachsenden und
Eltern scheint, wie Helmut
Fend (2003, S.26)
sagt,
denn auch die Kernvorstellung unseres Kulturwissens über die Jugendzeit
zu sein, die "nach der friedlichen und freundlichen Kindheit eine
Periode der großen Probleme, des Streits mit den Eltern, des Rückgangs
der Lernbereitschaft, der Pöbelhaftigkeit und Ruppigkeit" einläutet.
In der Jugendphase "(stellen) die Heranwachsenden selbst die am tiefsten
verwurzelten Überzeugungen in Frage, werfen, liebgewonnene Ideen über
Bord und werden scharfe Kritiker sowohl ihrer selbst als auch der
Gesellschaft." (Bourne/Ekstrand
2005, S.343).
Und, folgt man den Auffassungen von »Erik
H. Eriksons (1902-1994), dann gewinnen Heranwachsende "eine
Identität, die fest genug ist, den vielfachen Zwängen und Forderungen
einer komplexen, modernen Gesellschaft standzuhalten", erst nach Ablauf
"einer langen Zeit der qualvollen Selbstprüfung, die manchmal begleitet
ist von wildem Hin- und Herschwanken zwischen Zynismus und Schwärmerei,
zwischen Hedonismus und Askese". (ebd.)
Problemlose Adoleszenz?
Auch wenn dies gängige Vorstellungen über die Jugendzeit darstellen,
gibt es aber auch Erfahrungen einer "problemlosen Adoleszenz",
die "als kaum merklicher Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter
beschrieben" wird und "von einem freundschaftlichen Verhältnis zu den
Eltern und älteren Geschwistern" gekennzeichnet ist.
(Fend 2003, S.26)
Und,
selbst wenn man da im einzelnen gewiss noch differenzieren muss, scheint
genau dies aus verschiedenen Gründen im Trend zu liegen. Mehr als 90%
der Jugendlichen von heute (2010)
erklären,
dass sie "ein gutes Verhältnis zu ihren eigenen Eltern (haben), 35%
kommen bestens miteinander aus, und weitere 56% kommen klar, auch wenn
es gelegentlich Meinungsverschiedenheiten gibt." (16.Shell
Jugendstudie 2010, Zusammenfassung, S.17f.)
Und unter Einbeziehung
der Entwicklung im letzten Jahrzehnt betonen
Leven/Quenzel/Hurrelmann (2010, S.66), "wie sehr sich ein
entspanntes Verhältnis zu den eigenen Eltern als Normalfall für die
Jugendlichen etabliert hat." Seit dem Jahr 2002 hätten nämlich
weniger als ein Zehntel der Jugendlichen noch ein konfliktreiches
Verhältnis zu den eigenen Eltern zu Protokoll gegeben.
Und
auch die 18. Shell-Jugendstudie (2019) mit dem Untertitel »Eine
Generation meldet sich zu Wort« hat diese Entwicklung weiter bestätigt.
So kann es nicht mehr sehr verwundern, die Jugendlichen 2019 ihr
Verhältnis zu den Eltern mit über 90 Prozent für bestens oder gut
einschätzen, wobei die Zunahme des Wertes für ein optimales Verhältnis
zu den Eltern in den Jahren von 2002 bis 2019 allerdings auffällt. (Zusammenfassung,
S.20)
Interessanterweise schließen sich, wie die Studie von 2019 weiter festhält, dabei
Familie und Gemeinschaft auf der einen und ein eher hedonistisches Streben
nach Vergnügen und Genuss auf der anderen Seite nicht aus, "sondern bedingen
sich sogar. Das Leben in vollen Zügen genießen zu wollen, bedeutet für viele
junge Menschen deshalb auch, dass man grundsätzlich weder Beruf noch
Freizeit entgrenzt sehen möchte." (Zusammenfassung,
S.21)
Das Alltagsverständnis von Adoleszenz wandelt sich
Auf der Grundlage dieser Entwicklungen verändert sich auch das Alltagsverständnis von Adoleszenz.
Dies zieht allerdings auch nach sich, dass Heranwachsende und Erwachsene
neue Orientierungen suchen und finden müssen, wie sie mit dieser
Lebensphase umgehen können.
Kein Wunder, dass insbesondere Eltern und pädagogische Fachkräfte in den
Schulen und in außerschulischen Einrichtungen immer wieder nach
Vorstellungen suchen, die ihnen unter den sich fortlaufend verändernden
Bedingungen im Umgang mit Heranwachsenden dieses Alters Orientierung und
Sicherheit für ihr tägliches Handeln geben können.
Was dabei von den
meisten als für diese Lebenszeit normal angesehen wird, entspringt
freilich, da ist Helmut
Fend (2003, S.28)
weiterhin beizupflichten "teils Alltagserfahrungen, teils
psychoanalytischen Theorien der Adoleszenz."
Und in diesem Konglomerat
von Erfahrungen und Theorien spielen insbesondere die Medien als
Sozialisationsinstanzen und Informationsquellen eine ganz zentrale
Rolle.
Die Heranwachsenden selbst betrachten und erleben ihre Jugend natürlich
aus einer ganz anderen Perspektive: "»Warten« und »Langeweile« ist neben »Fun« und
»Abenteuer« ein für viele erlebtes wesentliches Charakteristikum
der Jugendzeit. Warten auf das Klingeln am Ende einer langweiligen
Deutschstunde, auf das Ende der Schulzeit überhaupt, darauf, dass
man bis 24.00 Uhr ausgehen oder den Führerschein machen darf, dass
man endlich eigenes Geld verdient, und, und, und. [...] Die
meisten Jugendlichen empfinden sich hin- und hergerissen zwischen
verschiedenen Gefühlen, Höhen und Tiefen, himmelhoch jauchzend und
zu Tode betrübt. Euphorie und Depression gehen Hand in Hand. Sie
können sich in keine Rolle richtig hineinfinden. Sie verweigern
sich den Angeboten und Forderungen der Erwachsenen und suchen doch
nach (erwachsenen) Vorbildern, Männer wie Frauen. In allen
Selbstbeschreibungen wird die Unsicherheit und die Suche nach dem
Selbst greifbar." (Charlton/Käppler/Wetzel
2003, S.162)
Jugendliche müssen Entwicklungsaufgaben bewältigen
Die
Entwicklungsaufgaben,
die im Jugendalter zu bewältigen sind (persönliche
Aufgaben,
Beziehungsaufgaben,
sozioinstitutionelle Aufgaben), stellen ein komplexes
Entwicklungsprogramm dar, das natürlich weit mehr als die Prozesse der
biologischen Reifung umfasst. Jugend ist, darin sieht Helmut
Fend (2003,
S.129) den eigentlichen Paradigmenwechsel in der Entwicklungspsychologie
des Jugendalters, ein soziales Konstrukt, das in Beziehung zu den
endogenen Vorgaben bei der biologisch bedingten Funktionsreifung zu
betrachten ist. (vgl.
ebd., S.101)
Wie der
Begriff der Pubertät kennzeichnet der
Begriff Adoleszenz
bestimmte Veränderungsprozesse, die sich mit unterschiedlichem
individuellen Entwicklungsverlauf im Zeitraum des zweiten
Lebensjahrzehnts abspielen.
Die Zeit der Jugend, mithin die Phase
der Adoleszenz, stellt eine
ausgesprochen dynamische Phase in der Entwicklung eines
Menschen dar, die sich auf physischem, kognitivem, emotionalem und
sozialem Gebiet abspielt. Die "Entdeckung der Kontexte von
Entwicklungsprozessen", so der Titel des 2. Teils der schon
zitierten "Entwicklungspsychologie des Jugendalters" von Helmut
Fend (2003,
S.131-203), ist einer der wesentlichen Schlüssel zum Verständnis des
Jugendalters, das aber auch die Einbeziehung des eigenen Zutuns der
Jugendlichen selbst mit einschließen muss. (vgl.
ebd.,3,
S.205-416)
Das macht die Psychodynamik des Jugendalters aus
Ingomar D. Mutz und Peter J. Scheer (1997) haben im Rahmen eines
Fortbildungsvortrages die wesentlichen Faktoren knapp
zusammengefasst, welche der in der Adoleszenz herrschenden
Psychodynamik ihren Stempel aufrücken.
Dabei haben sie sechs
Aspekte in ihre Betrachtung einbezogen, die sie z. T. auch im Blick auf
das pädagogische Handeln reflektieren:
Die Änderungen der Objektbeziehungen
"Um unabhängig und selbständig zu werden, muss sich der Jugendliche
von den Eltern als seinen wichtigsten Liebesobjekten lösen. Das führt
zum Beispiel zu demonstrativer Gleichgültigkeit, zur Herabsetzung der
Eltern als unnütz und/oder unfähig. Demonstrative Aufsässigkeit und
Rebellion gegen die bisherigen Normen kann vorkommen und ist als
"gesund" einzuschätzen." (Mutz/Scheer
(1997)
Dabei komme es immer wieder zur Rückfällen in Hilflosigkeit
und in die Abhängigkeit von
den Eltern und Erziehern, die, so betonen die Autoren, "mit Liebe und
Toleranz zu ertragen sind."
Zudem stellen sie den Ablöseprozess vom
Elternhaus unter die grundsätzliche Regel: "Je enger das Verhältnis zwischen Kind und Eltern war,
desto stürmischer der Trennungskampf." Dies ist freilich unter
Berücksichtigung der oben referierten Forschungsergebnisse zum
Verhältnis von Heranwachsenden und Eltern mit dem der Aussage
verliehenen Geltungsanspruch nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Jugend als Zeit der Gefühlslabilität und des Protestes
"Gefühlslabilität - hoch und tief: (ups and downs): Empfindlichkeit wird
von übertriebener Selbstkritik abgelöst, eine Neigung zu depressiver
Verstimmung kommt sehr oft vor (J. W. v. Goethe: 'Himmelhoch jauchzend - zu
Tode betrübt / Glücklich allein die Seele, die liebt' (Käthchen in Faust
I.)
Die Kinder werden oft bockiger, rücksichtsloser, grausamer,
zerstörerischer, schmutziger, unmoralischer, schon, um sich abzulösen, um
zu zeigen, dass sie 'anders' sind. Es kann helfen, darauf nicht
einzugehen, manchmal nützen auch Auseinandersetzungen darüber. Wenn man
aber auf sie aber eingeht, muss man wissen, dass man dadurch manchmal
das bekämpfte Verhalten bestärkt." (Mutz/Scheer
(1997)
Die Änderung des Körperbildes
"Die gesteigerte Selbstwahrnehmung bei Änderung des Körperbildes",
behaupten (Mutz/Scheer
(1997), beunruhige die Jugendlichen.
Dies wiederum führe zu verstärktem Schamgefühl und Zunahme des
Intimitätsbedürfnisses. "Der Körper wird als peinlich empfunden, der
Jugendliche fühlt sich unsicher, wie er auf die Umgebung wirkt, versteckt
den Körper unter weiter Kleidung (ev. auch skurrile Haartracht, um damit
fertig zu werden und/oder zu einer als 'Heimat' empfundenen Gruppe zu
gehören - Zauber der Montur in anderer Form)." Hinzu kämen Versuche
das eigene Körperbild zu verändern (Stichworte: Pubertätsmagersucht, Übergewicht,
Selbstverstümmelung). Im Pearcing sehen sie dabei Tendenzen zur
Selbstverstümmelung und Schmuck miteinander kombiniert.
Die Grundlagen für dieses Verhalten können nach Ansicht der Autoren "in einer Ambivalenz zwischen Ablehnung und Akzeptanz
der eigenen Körperlichkeit, der Rollenverständnisse und Lebensführung der
Eltern liegen und oft auch unbeholfene Versuche der Pflege der eigenen
Person darstellen.
Die Akzeptanz des eigenen Körpers erfolgt frühestens in der späten
Adoleszenz, bei vielen Menschen (bei Frauen öfter als bei Männern) sind
Diätfetischismen und Körperwahrnehmungsprobleme lebenslange Begleiter."
Die Änderung der sozialen Kontakte
Die Ablösung von der Herkunftsfamilie, die von den Jugendlichen im
Zusammenhang mit der
Entwicklungsaufgabe Ablösung und Bindung bewältigt werden muss, "geht",
so führen
Mutz/Scheer
(1997) fort, "mit Stimmungsschwankungen einher und
erfordert Ersatz durch Freundschaft mit (gleichgeschlechtlichen)
Gleichaltrigen, dann kommt es zur Zuwendung zu einer Gruppe von
Gleichaltrigen und Gleichgesinnten (peer - group, Cliquen), deren
Führerschaft man als unumstrittene Autorität anerkennt und/oder Hinwendung
zu Leitfiguren wie Filmschauspielern, Dichtern, Philosophen, Politiker,
Gurus oder Idole der Popkultur.
In der
späten Adoleszenz verliert die Gruppe an Attraktivität und es kommt
zur Aufnahme von Intimbeziehungen, die dann eine neue, wichtigere Stütze
geben."
Die Änderung der Ideale - Der Aufbau einer eigenen Identität
Dieser Aspekt der Psychodynamik in der Adoleszenz dreht sich um die "Zunahme der Urteilsfähigkeit bei gleichzeitigem Wachsen
der Phantasiewelt (Tagträume). Berufsvorstellungen", die, so
Mutz/Scheer
(1997), von den Jugendlichen "oft überaus
idealistisch gesehen" werde. "Elterliche Scheinheiligkeit wird durchschaut und
angeprangert.
Durch Omnipotenzgefühle (= Allmachtphantasien) und dem Wunsch nach Grenzerfahrungen ("Was kann ich alles") kommt es vermehrt zu Sport- und
Freizeitunfällen.
Die Entwicklung eigener moralischer Werte ist nun das Thema und
äußerst bedeutsam. Der Jugendliche will - im besten Falle - alles besser
machen. Seine Beziehung wird nicht durch Trennung, Untreue etc.
ruiniert; sein Berufsleben wird keine Vetternwirtschaft kennen und so
fort.
Erst langsam entwickele sich - auch in der Auseinandersetzung mit der
Realität - ein Verhältnis zur Realität, ein gewisser Realitätssinn,
der auch zu realistischeren
Berufsvorstellungen führe. Und genau dies habe dann häufig, wie die
Autoren betonen "oft viel zu früh (manche
Menschen werden schon als "Alte" geboren)" "Kompromissbereitschaft" und
die "Bereitschaft, Grenzen zu akzeptieren", zur Folge.
Die biologische Reifung und
die soziale Integration
Rollen- und Statuskonflikte im Jugendalter resultieren nach Ansicht
der Autoren häufig aus der größer werdenden "Diskrepanz zwischen physischer und
sozialer Reife", die vor allem der längeren Lernzeit bei gleichzeitiger
Akzeleration (Beschleunigung) der körperlichen Reifung geschuldet sei.
Dabei definieren sie die Begriffe Rolle und Status wie folgt:
-
"Rolle = Summe der Verhaltenserwartungen, die die Gesellschaft an
eine Person heranträgt (Pflichten). Rollenkonflikte entstehen, wenn vom
Jugendlichen bereits ein erwachsenengemäßes Verhalten erwartet wird, zu
dem er noch gar nicht fähig ist, oder wenn er noch als Kind behandelt
wird, obwohl er sich schon halb oder ganz erwachsen fühlt.
-
Als Status bezeichnet man die mit einer Position (als Sohn/Tochter,
Schüler, Lehrling, Kamerad) verbundenen Erwartungen des Betreffenden in
Bezug auf seine Selbständigkeit, sein Mitspracherecht, die gebührende
Anerkennung, die Verantwortung und Entscheidungsfreiheit etc..
Statuskonflikte entstehen, wenn der Jugendliche z.B. mehr Rechte
verlangt, solche Ansprüche nicht ihren Möglichkeiten entsprechen und
nicht mit den Erwartungen ihrer Umwelt übereinstimmen."
Worterklärungen:
Adoleszenz: Zeit der physischen und
psychischen Reifung eines Menschen; man unterscheidet drei Phasen: frühe
A. 10./11. - 14 Lebensjahr; mittlere A. 14 - 16./17. Lebensjahr;
späte A. 16./17. - 21.
Lebensjahr
→Entwicklungsaufgaben
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
27.08.2023
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