Der Schaffensprozess • Franz Kafkas beim
Schreiben hat unzählige Forscherinnen und Forscher beschäftigt und
ist inzwischen wissenschaftlich bis ins Detail analysiert. Dabei hat
man ihn psychoanalytisch genauso ausgeleuchtet, wie in mentaler und
sozialer Hinsicht. Dabei sind die Ansätze im Allgemeinen mit
Theorien der künstlerischen Produktivität verknüpft, die hier
wiederzugeben, nicht nur den Rahmen sprengen, sondern auch für den
Literaturunterricht gänzlich ungeeignet sein dürften.
Was aber hier von Interesse ist und der allgemeinen Erörterung der
Frage, welche Bedeutung das Schreiben für • Franz
Kafka gehabt hat, vorausgeschickt werden kann, ist eine kurze
Beschreibung von Kafkas Schreibpraxis, die Waldemar
Fromm (2010,
S.428f.) gibt. Für Kafkas Schreibpraxis sei vor allem die
Konzentration auf den Augenblick des Schaffens signifikant. Sein oft
stundenlanges Schreiben führe dabei "zu einer neuen Art des
Produzierens, bei der keine Kontrolle über das Ergebnis des
Schreibens angestrebt wird. Die Texte sind dem Augenblick der
Entstehung überantwortet, die Dynamik des Schreibvorgangs wirkt
verstärkt auf das Geschriebene ein:" Kafka habe seine Texte weder
geplant oder mit Gliederungen und/oder Materialsammlungen
vorbereitet. Stattdessen habe er mit dem Erzählen einer Geschichte
einfach angefangen, ihren weiteren Verlauf beim Schreiben selbst
organisiert, ohne dass ihm dabei Handlungsziele klar vor Augen
gestanden hätten. Korrekturen habe er sofort oder im Verlauf des
Schreibprozesses vorgenommen, seine Texte aber nicht noch einmal
überarbeitet.
Das Schreiben hatte
für Franz Kafka eine außerordentlich persönliche und beinahe
existenzielle Bedeutung. Es
diente ihm als Mittel zur Selbstreflexion und als Weg, mit seinen
inneren Konflikten und Ängsten umzugehen. In zahlreichen seiner
Werke thematisiert Kafka solche Konflikte und befasst sich mit den
Problemen von Isolation, Angst, Autorität, Freiheit sowie der Suche
nach Authentizität. Daher war das Schreiben auch eine wesentliche
Komponente seiner Identität und seines Selbstverständnisses.
Die komplexe Natur seiner Charaktere sowie die verschlungenen
Handlungsstränge seiner Erzählungen resultieren in einem Bild
tiefgreifender psychologischer Einblicke und philosophischer
Betrachtungen. Diese sind das Resultat seines kontinuierlichen
Bemühens, sich selbst und das menschliche Wesen im Allgemeinen zu
verstehen.
Im Literaturunterricht steht die Beschäftigung mit dem Schreiben
Franz Kafkas meistens im Kontext der Arbeit mit seinem
•
Brief an den
Vater. Darin hat Franz
Kafka selbst den starken Bezug seines Schreibens zu seiner eigenen
Person betont: "Mein
Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen
konnte."
»Walter H. Sokel (1917-2014), einer renommiertesten
Kafka-Forscher, sieht in den Ausführungen, die Kafka im
•
Brief an den
Vater macht, in gewisser Hinsicht seine eigene
"Poetik", ihr zwei widerstrebende Intentionen zugrunde lägen: "Einerseits, so behauptet er [Kafka, d. Verf.], handelt all‘
sein Schreiben von seinem Vater. Schreiben ist ein armseliger Ersatz für die
fehlende Anwesenheit des Vaters, für die Verbundenheit mit ihm, die der
Vater seinem Sohn immer versagt hat. Im Schreiben, so legt es Kafka dar,
stimmt er die Klage an, die ihm an des Vaters Brust zu äußern untersagt ist.
Das Schreiben wird zum Ersatz des Lebens. […]"
Da Kafka aber an einer anderen Stelle des Briefs, jedoch
das Gegenteil betone, indem er behaupte, dass sein Schreiben Flucht vor dem
Vater sei und ihm einen Raum schaffe, in dem er sich vor ihm geschützt und
vor ihm verborgen fühle, müsse man, so Sokel
(ebd.), in dieser Flucht "eben auch eine Art von Selbstbehauptung" sehen.
Dahinter stehe nämlich der Versuch, "das Selbst aus der Reichweite patriarchalischer Macht zu
retten. In dieser selbsterhaltenden Abwehr entdeckt das Selbst seine eigene
Macht, zwar völlig verschieden von der naturverliehenen Macht der
Vatergestalt, aber potenziell ihr überlegen wie das Geistige und Magische
der natürlichen Macht überlegen ist. In dieser Poetik der Flucht ist
Schreiben kein Trauern mehr um Fernbleiben und Verlust, sondern Basis
trotziger Selbsterhöhung und deren Bekräftigung."
Indessen dürfte es entschieden zu kurz greifen, würde man das
Schreiben Kafkas nur in der vom
•
Brief an den
Vater nahe gelegten Versuch sehen, sich schreibend von der
übermächtigen Vaterfigur und ihrer Auswirkungen auf die eigenen
Identität befreien zu wollen.
Allerdings ist angesichts der
existenziellen Bedeutung, die das Schreiben für Franz Kafka gehabt
hat, ist, nach Ansicht von
Engel (2010,
S.419), auch "eine biographische Deutung fast immer möglich - und (führt)
fast immer zu durchaus einleuchtenden und nachvollziehbaren
Ergebnissen. Allerdings hätten Kritiker auch immer wieder darauf
hingewiesen, dass dafür vor allem Selbstzeugnisse herangezogen
würden, die ja nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprächen. Das
gelte vor allem für "Kafkas überzogen negatives Vaterbild" (ebd.)
In ähnlicher Weise hat dies
»Marcel Reich-Ranicki
(1920-2013) (1982,
S.315ff.) ausgedrückt, der die "Angst vor dem Tod und also vor dem Leben"
als das zentrale Movens in Kafkas Leben allgemein und bei seinem
Schreiben ansieht. Seine Angst habe ihn letztlich zum Schreiben
gezwungen und sein Leben zur Qual gemacht und sein Werk sei damit
"Beschreibung eines Kampfes mit der Angst", " Angst vor der Demütigung
und Hilflosigkeit, vor Folter und Grausamkeit, vor dem Vater und vor der
Familie, vor der Schwäche und vor Impotenz, vor der Heimatlosigkeit und
der Vereinsamung, der Wurzellosigkeit und der Entfremdung, vor dem
jüdischen Schicksal".
Martin Walser (1927-2023) ha einmal über Kafkas Leben gesagt,
dass es sich in einer "von Prosaspiegeln umstellten
Einzelkämpferarena“ abgespielt habe (zit. n.
ebd.)
Wogegen er sich in dieser Arena gewehrt habe, habe er, so
Reich-Ranicki (1982, S.315ff.) weiter, genau gewusst, als er
selbst in einem Brief an seine Schwester »Ottla (1892-1943)
aus dem Jahr 1920 von einem "Feind im Kopf"
gesprochen habe. Diese Äußerung entspreche auch frühere Notiz in
Kafkas Tagebuch: "Die
ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Aber wie mich befreien und
sie befreien, ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen,
als in mir sie zurückhalten. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz
klar.“
Auch weitere
Tagebucheinträge Franz Kafkas zielen in die gleiche Richtung. So
notiert er 1911: "Ich habe [...] ein großes Verlangen, meinen ganzen
banalen Zustand ganz aus mir herauszuschreiben und ebenso wie er aus
der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hinein oder es so
niederzuschreiben, dass ich das Geschriebene vollständig in mich
einbeziehen könnte." (zit. n.
Fromm (2010,
S.431)
Für
Reich-Ranicki (1982, S.315ff.) steht jedenfalls fest, dass ihn
"seine Angst, dieser 'Feind im Kopf', dieser nicht zu besiegende
Gegner in der Einzelkämpferarena" zu schreiben gezwungen habe und
sein Leben, "obwohl das Schreiben das einzige war, was ihn beglücken
konnte, zu einer Qual" gemacht habe: "Kafkas Werk ist die
Beschreibung eines Kampfes mit der Angst. (…) Es ist die Angst
vor Demütigung und Hilflosigkeit, vor Folter und Grausamkeit, vor
dem Vater und der Familie, vor der Schwäche und der Impotenz, vor
der Heimatlosigkeit und der Vereinsamung, der Wurzellosigkeit und
der Entfremdung, vor dem jüdischen Schicksal. Es ist die Angst
Kafkas vor dem Tod und also vor dem Leben."
Als Strategie mit den Folgen seiner defekten Elten-Kindbeziehung
umzugehen und die damit verbundenen Identitätsprobleme zu
bewältigen, hat Peter
Beicken
(1986) das Schreiben als Möglichkeit zur Selbstbeobachtung und
Selbstanalyse sowie als Ausweg und Möglichkeit fiktiver
Normverletzung in seinem sonst von Anpassung geprägten Leben
gesehen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.09.2024