|
Die bundesdeutsche Parteienlandschaft, in der in den
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eigentlich nur noch
die vier Bundestagsparteien
Christlich Demokratische Union
Deutschlands (CDU),
Christlich Soziale Union in
Bayern (CSU),
Freie Demokratische Partei (FDP)
und
Sozialdemokratische Partei
Deutschlands (SPD) von
Bedeutung waren,
erlebte von 1953 bis 1980 eine
Stabilitätsphase, die manchem im Nachhinein als
"Hyperstabilität" (Decker
2013c, S.27) erscheint.
Vor allem die beiden großen
Volksparteien
CDU und SPD konnten sich bei Wahlen auf ihre
Stammwähler verlassen, die im Allgemeinen "brav" zur Wahl gingen, um
ihre Partei zu unterstützen.
Die genannten Parteien, die zwischen 1961 und 1983 ein "Zweieinhalb-Parteiensystem"
(Rudzio 2011, S.120) aus CDU/CSU und SPD als großen Volksparteien und der
FDP etablierten, "interagierten im Wesentlichen untereinander und
bildeten mithin ein geschlossenes System." (ebd.,
S.121)
Dass dies so war, verdankten sie nichtzuletzt der
Tatsache, dass das
Parteiensystem
nur noch von der
sozio-ökonomischen Konfliktlinie und der
kulturellen Konfliktlinie zwischen traditionell religiösen und
individuell-säkularen Wertorientierungen (CDU/CSU versus
FDP und SPD) bestimmt wurde.
Beide Konfliktlinien waren so
wirkmächtig, dass sie im Wechselspiel zwischen Parteien und
ihren Wählern zu einer außerordentlich hohen, langfristig
beständigen Parteibindung der Wähler führten.
Doch mit Beginn
der achtziger Jahre änderten sich die Verhältnisse und das
Parteiensystem
trat in seine
Dekompositionsphase ein, was sich
neben der Abnahme der
Wahlbeteiligung auch an der Entwicklung der Wählerbindung
nachvollziehen lässt:
-
1972 fühlten sich
noch 55% der Wählerinnen und Wähler in Westdeutschland an eine
Partei gebunden. 2009 waren dies nur noch 32%.
-
Der Anteil der Wähler mit
schwacher oder fehlender Parteiidentifikation stieg im gleichen
Zeitraum von 40% auf 64%. (Ergebnisse der Forschungsgruppe Wahlen,
zit. n. Schmidt 2016, Kap.II,4)
Heute schafft die Positionierung der Parteien entlang
wichtiger Konfliktdimensionen also offensichtlich kaum mehr
Wählerbindung.
Dies war z. B. während der
Weimarer
Republik (1918/19-33) und während der ersten Jahre der
Bundesrepublik Deutschland nach dem 2. Weltkrieg deutlich anders. (→Konfliktlinien der deutschen
Parteiengeschichte
1949 - bis heute) Die Wähler von heute treffen ihre Wahl
häufig viel kurzfristiger,
orientieren sich erst im Wahlkampf und darüber, was
in den
traditionellen Massenmedien (z. B. bei den publikumswirksam
Fernsehduellen
der Spitzenkandidaten ) oder in sozialen Netzwerken
transportiert wird. Trotz alledem: Noch immer ist der Anteil der
Wählerinnen und Wähler, die sich sehr stark oder stark mit einer
bestimmten Partei identifizieren, mit über 30 Prozent im
europäischen Vergleich ziemlich hoch. (vgl.Schmidt 2016,
Kap.II,4)
Die Parteien können nicht mehr auf die Loyalität "ihrer" Wähler
vertrauen
Im Hinblick auf die abnehmende Wählerbindung an bestimmte Parteien
zieht der Politikwissenschaftlers Manfred
Schmidt (2016,
Kap.II,4) das folgende Fazit: "Von einer generellen Loslösung der Wähler von den Parteien kann also
keine Rede sein. [...] Insgesamt ist aber der Wählerstimmenmarkt
unübersichtlicher geworden. Die Wählerschaft ist weniger vorhersehbar
geworden, und die Wechselwählerschaft hat zugenommen." Die Parteien verlieren im Zuge dieses von der Wissenschaft
dealignment
genannten Prozesses also nicht nur ihre "natürliche" Klientel,
sondern können auch nicht mehr sicher auf die Loyalität "ihrer" Wähler
vertrauen. ((Decker 2011,
S.45) Dazu kommt noch, dass dadurch die Ungewissheit und der Stress für die
politischen Parteien zugenommen habe, weil "jede Partei (..) nun mehr
für die Mobilisierung der Wählerstimmen aufwenden (muss), ohne genau zu
wissen, wie sie zum erstrebten Ziel gelangen soll." (Schmidt
2016, Kap.II,4)
Die Entkoppelung von sozio-ökonomischer Lage und
Werteorientierung
Die von
»Seymour Martin Lipset
(1922-2006) und »Stein Rokkan
(1921-1979) in ihrer »Cleavage-Theorie
festgestellten Konfliktlinien
zwischen Kapital und Arbeit, Kirche vs. Staat, Stadt vs. Land und
Zentrum vs. Peripherie haben sich mittlerweile in ihrer
Bedeutung verändert und wurden z. T. von anderen Konfliktlinien
überformt.
Eine Konflikt wird erst wird erst durch seinen Bezug auf übergeordnete
gesellschaftliche Werte, der ihn quasi politisiert, zu einem Cleavage.
Und: Nur - so die traditionelle Cleavage-Theorie - wenn es in bestimmten
Sozialmilieus verankert ist, kann es seine parteibildende Kraft
entfalten.
Dieser Zusammenhang gilt in jedem Fall für die traditionellen von Lipset
und Rokkan (1967) dargestellten vier
Hauptcleavages, die im 19.
Jahrhundert "vor dem Hintergrund der durch die Industrielle
Revolution und die Nationalstaatsbildung bewirkten Umbrüche und
Verwerfungen" (Niedermayer
2007b, S.32) entstanden sind.
Allerdings ist dieser klare
Bezug von sozialer Position und Wertorientierung, wie sie die
traditionellen Cleavages auszeichnete, inzwischen entkoppelt
worden, "sodass von der sozialökonomischen Lage einer Person nur
noch bedingt auf ihre Wertvorstellungen geschlossen werden
kann." (Decker
2013c, S.26)
Dies liegt zum einen daran, dass die Gebundenheit
traditioneller Wertorientierungen an soziale Klassen, Schichten
oder Mileus generell abnimmt. Zum anderen sind auch neue Konfliktlinien
(z.B. Materialismus vs. Postmaterialismus) entstanden, "bei
denen die Trägergruppen von vornherein nicht über ihre Position
in der Sozialstruktur, sondern über konfligierende
Wertorientierungen identifiziert werden." (ebd.)
Dies wirft für die Cleavage-Theorie auch die Frage auf, "ob
man eine enge, auf die eindeutige sozialstrukturelle Verankerung
abstellende, oder eine breitete, auch diese Wertekonflikte
einbeziehende Cleavage-Definition vertritt." (ebd.)
Denn das hat, betont Niedermayer weiter, weitreichende
Konsequenzen dafür, wie man die Frage, welche Konstellation von
Konfliktlinien eine Gesellschaft kennzeichnet, beantwortet.
So geht es seiner
Ansicht nach bei den traditionellen Spaltungslinien darum, "ob
man einen von den traditionellen Spaltungslinien weitgehend
losgelösten Kirche-Staat-Konflikt in Form eines Wertekonflikts
zwischen Gruppen mit religiösen und solchen mit säkularen
Wertorientierungen noch als Cleavage ansieht und vor allem ob
man die Verselbständigung und Veränderung des ideologischen
Überbaus des traditionellen Klassen-Cleavage in Form des
Sozialstaatskonflikts um die Rolle des Staates in der Ökonomie,
der heute als Wertekonflikt zwischen marktliberalen und an
sozialer Gerechtigkeit orientierten Konzeptionen ausgetragen
wird, in das Cleavage-Konzept einbezieht." (ebd.)
Die weite Definition: Was ist ein Cleavage?
Niedermayer
(2007b, S.35) definiert
ein Cleavage auf der Grundlage solcher Überlegungen wie
folgt:
"Unter einem gesellschaftlichen Cleavage verstehen wir daher im
Folgenden eine tief greifende, über eine längere Zeit stabile,
konflikthafte und im Rahmen des intermediären Systems
organisatorisch verfestigte Spaltungslinie zwischen
Bevölkerungsgruppen, die über ihre sozialstrukturelle
Positionierung und die hieraus abgeleiteten materiellen
Interessen und Wertvorstellungen bzw. primär über ihre
unterschiedlichen Wertvorstellungen definiert sind."
Im Allgemeinen ist es so, dass Konfliktlinien, die einmal besonders
bedeutsam waren, nur selten durch neue Konfliktlinien ersetzt werden. So
betont Köllner
(2008, S.13), dass "die Bedeutung von
Konfliktlinien einfach allgemein zurück(geht)."
Das liegt vor allem, es heute in der Bundesrepublik kaum noch
sozialstrukturell verankerte Konflikte gibt, die sich so
politisieren lassen, dass sie den Charakter von Spaltungslinien
im Sinne der traditionellen Cleavage-Theorie annehmen.
So hat sich der früher so maßgebende sozio-ökonomische Konflikt in
ganz unterschiedliche Interessenlagen verflüchtigt, "bei denen die
Interessen der verschiedenen Gruppen - Leistungsempfänger und
Steuerzahler, Beschäftigte in sicheren und prekären
Arbeitsverhältnissen, Gewerkschaftsmitglieder und - nichtmitglieder etc.
- immer weniger Übereinstimmungspunkte aufweisen." (Decker
2013c, S.26, vgl. Decker 2011,
S.47)
Aber nicht nur ökonomisch gehen die Interessen solcher Gruppen
auseinander, sondern auch ihre Wertorientierungen und
Lebensstile liegen oft deutlich auseinander.
Es spricht daher einiges dafür, die geänderten Bedingungen der nachindustriellen Zeit, "in der sich
die Interessenlagen und Wertvorstellungen [...] von den harten Merkmalen
der Sozialstruktur ablösen", zu beachten. Dann wird nämlich
schnell klar, dass die Konfliktlinien, an denen sich die
Parteien aufstellen, neu und anders betrachtet werden müssen (vgl.
ebd.) Größeres
Gewicht müssen daher die von den Parteien "vertretenen
ideologisch-programmatischen Grundpositionen" (ebd.)
bekommen.
Nach
Decker (2013c, S.25f.) sind für den Bedeutungsverlust der
traditionellen Konfliktlinien und die abnehmende Parteibindung
der Wähler vor allem drei Entwicklungen verantwortlich, "die
eng miteinander zusammenhängen und sich zum Teil überschneiden."
Sie können unter dem Begriff "Pluralisierung"
(ebd.,
S.26)zusammengefasst werden.
Tertiarisierung
und Ausbau des Wohlfahrtsstaates
Die ständige Weiterentwicklung der Gesellschaft
(gesellschaftlicher Wandel, →Strukturwandel)
stößt auch immer wieder neue soziale
Entwicklungsprozesse an. Dazu gehören der fortschreitende
ökonomische Wandel mit seinen Veränderungen der
Arbeitswelt ebenso wie verschiedene Aspekte des sozialen Wandels
(z. B. Versingelung oder die zunehmende »Urbanisierung).
Im Zuge dieser Entwicklungen verblassen alte
industriegesellschaftlichen Klassenstrukturen mehr und mehr.
Zugleich hat der Staat als »Sozialstaat
in viele Lebensbereiche regulierend eingegriffen und
Aufgaben wie Erziehung und Bildung übernommen und bewahrt oder
mildert individuelle Lebenskrisen durch Krankheit, Alter oder
Arbeitslosigkeit. Dies alles führt, zusammen mit einer Reihe
anderer Aspekte wie z. B. der wachsenden »sozialen
und »räumlichen
Mobilität dazu, dass sich ehemals vergleichsweise stabile
Gruppenbindungen und Sozialmilieus auflösen, deren
Schutzfunktion entbehrlich geworden ist. (vgl.
Decker
2013c, S.25)
Individualisierung und Wertewandel
Mit der Umwandlung der Industrie- in die
Dienstleistungsgesellschaft gehen neue Formen der Arbeit, von
Arbeitsverhältnissen und Erwerbsformen einher, die einem
beträchtlichen Teil der Gesellschaft größere Spielräume gibt, am
Konsum teilzuhaben. Auf der anderen Seite steht wachsende Zahl
anonymer »Modernisierungsverlierer
in »prekären
Lebensverhältnissen, die keine Möglichkeit haben, über den
Konsum Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft zu finden.
Dazu macht die →Individualisierung
des Lebens zunehmend
einem Individualismus Platz, der die Bedeutung gemeinsamer
Interessen mit anderen zurückdrängt (Stichworte:
Bastelbiografie,
Notwendigkeit des eigenen Lebens). Dementsprechend werden "auch die
kulturellen Orientierungen und Lebensstilmerkmale vielfältiger [...]
Konsumgewohnheiten, Erwerbsformen und das Partnerschaftsverhalten
differenzieren sich aus und prägen das Identitätsgefühl stärker als
die 'objektive' Schichtzugehörigkeit." (Decker 2011,
S.39) Dieser Wertewandel wird auch sichtbar am Bedeutungsverlust
religiöser Werte, die in einer mehr und mehr säkularisierten
Gesellschaft nur noch wenigen Orientierung geben. Und
schließlich stellen heute viele Menschen das Streben nach
materiellem Wohlstand nicht mehr an die erste Stelle.
Bildungsexpansion und Medienangebot
Auch allgemein verbesserte Bildungs- und
Ausbildungsmöglichkeiten tragen dazu bei, dass die
traditionellen Konfliktlinien heutzutage an Gewicht verlieren.
Dabei kann aber nicht darüber hinweggesehen werden, dass
Bildungserfolg auch in der Bundesrepublik Deutschland in ganz
erheblichem Maße von der sozio-ökonomischen Herkunft abhängt.
Dessen ungeachtet mit mehr Bildung erhöhen sich auch die
Chancen, die Informationskompetenzen zu erwerben, die die
individualisierte Informationsbeschaffung in der heutigen
Mediengesellschaft verlangt. Mit der Zunahme von Bildung und der
Möglichkeit, sich z. B. über das Internet mit allen denkbaren
Informationen selbst zu versorgen, steigen in der Regel auch die
Partizipationsbedürfnisse. Wer die Informationen verstehen kann
und sich zu informieren weiß, wird tendenziell auch nach
politischer Teilhabe streben. Das wiederum kann die Parteien
einem "erhöhten Rechtfertigungsdruck" (Decker
2013c, S.26) aussetzen und dazu beitragen "dass kurzfristige
Faktoren wie Kandidaten- und Themenorientierung für die
Wahlentscheidung an Bedeutung gewinnen. " (ebd.)
Dass Parteien nicht zuletzt auch als Antwort auf diese
Entwicklungen, ihre Aufmerksamkeit im Ringen um die Wählergunst
immer weniger auf die zusehends an Bedeutung verlierenden
Konfliktlinien richten, ist verständlich und zwingt sie geradezu
als "professionalisierte
Medienparteien" (Köllner
2008, S.13) publikumswirksame und medientaugliche Mittel
einsetzen, um Mehrheiten zu erringen..
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.08.2016
|
|