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Wer verstehen will,
kommt nicht herum, gesellschaftliche Konflikte zu
betrachten, die auf das Parteiensystem einwirken. Dabei geht es
um Konflikte in der deutschen Gesellschaft, die ganze Bevölkerungsgruppen sozial
(sozialökonomisch und sozialkulturell) und ideologisch
voneinander trennen.
In diesem Zusammenhang gibt es die Annahme, dass eine vergleichsweise geringe Anzahl
von sozialen Spannungen und Konflikten bestimmter Qualität hinter den meisten tagesaktuellen
politischen und gesellschaftlichen Problemen und Spannungen stehen.
Solche Konflikte werden dann als Haupt- oder Grundkonflikte bezeichnet. Sie
bestimmen nicht nur das politische Klima eines Landes, sondern
prägen,
wenn es ein
allgemeines Wahlrecht gibt, auch das
Parteiensystem etlicher demokratisch verfasster Staates.
Die Hauptkonflikte der Gesellschaften in den westeuropäischen
Ländern haben die beiden Norweger »Seymour Martin Lipset
(1922-2006) und »Stein Rokkan
(1921-1979) analysiert und im Jahr 1967 die sogenannte Cleavage-Theorie
vorgestellt. Die Theorie erklärt die Entstehung zahlreicher Parteiensysteme
in Europa und das über lange Jahre äußerst stabile Wählerverhalten in den westeuropäischen
Demokratien.
Die beiden Forscher stellten heraus, dass es eine
Wechselbeziehung zwischen den Konfliktlinien und der Existenz,
Entwicklung und Struktur des Parteiensystems gibt.
Zugleich zeigten sie mit ihrem Konflikt- und
Spannungslinien-Ansatz auf, dass die Entstehung von Parteien historisch auf
Modernisierungsprozesse der europäischen Entwicklung zurückgeht, die
zum Teil bis ins 16.Jahrhundert reichen. Ihr historisch-soziologischer Ansatz führt die Entstehung und die jeweils spezifische Formierung und
Konfiguration von Parteiensystemen in Westeuropa auf das Vorhandensein
bestimmter gesellschaftlicher Grundkonflikte (Cleavages) zurück.
Was ist ein Cleavage?
Die Hauptspannungslinien, die
Lipset und Rokkan (1967) in ihrer historisch-soziologischen Analyse
identifzierten, waren vor allem, auch wenn sie stets mit entsprechenden
Wertorientierungen verbunden waren, vor allem an soziostrukturellen
Merkmalen der Gesellschaft orientiert.
In der gegenwärtigen Diskussion geht es um eine engere oder weitere Cleavage-Definition,
die unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart noch Bestand haben
soll. Niedermayer
(2007b, S.35) entscheidet sich für die weitere Fassung. Sie gibt eine zu starre
Orientierung an der sozio-ökonomischen Verankerung eines Cleavage, wie
es für die Industriegesellschaft typisch war, zumindest teilweise
auf. Stattdessen zieht sie eine Konfliktlinienkonzeption vor, die ihren Blick vor
allem auf die Wertekonflikte richtet, von denen angenommen wird, dass
sie in post-industriellen
Gesellschaften soziale Trennlinien schaffen.
Damit verändert sich auch
die Perspektive. Denn nach der engen Cleavage-Definition
basieren die Konfliktinien "auf sozialstrukturell verankerten
Gegensätzen [...], die durch ideologische Aufladung mit entsprechenden
Wertekonflikten verbunden werden, während bei den neuen Spaltungslinien
konfligierende Wertorientierungen den Ausgangspunkt des Konflikts
bilden." (ebd.,
Anm. 7)
Die weitere Cleavage-Definition
lautet: "Unter einem gesellschaftlichen Cleavage verstehen wir daher im
Folgenden eine tief greifende, über eine längere Zeit stabile,
konflikthafte und im Rahmen des intermediären Systems organisatorisch
verfestigte Spaltungslinie zwischen Bevölkerungsgruppen, die über ihre
sozialstrukturelle Positionierung und die hieraus abgeleiteten
materiellen Interessen und Wertvorstellungen bzw. primär über ihre
unterschiedlichen Wertvorstellungen definiert sind." ´(Niedermayer, 2007b, S.35)
Die Vorzüge der Cleavage-Theorie
Was die Cleavage-Theorie besonders gut zeigen kann, ist, dass die
historische Herausbildung von
Parteien "nicht auf unterschiedliche Ideen, welche ohne Zeit und Raum
von den Anhängern der verschiedenen Parteien aufgenommen wurden",
sondern "auf die gesellschaftliche Entwicklung mit ihren Revolutionen,
Konflikten und Spaltungen" zurückgeführt werden kann. (Ladner
2004, S.21)
Allerdings laufen soziologische Ansätze dieser Art grundsätzlich Gefahr,
die Entstehung und Entwicklung von Partei nur von den sozialen
Veränderungen der jeweiligen Wählerschaft abzuleiten und eine quasi
automatische Übersetzung von Cleavages in das Parteiensystem
nahezulegen. (vgl.
ebd., S.35)
Bei
jedem der von
Lipset und Rokkan (1967) festgestellten Hauptkonflikte bildet sich quasi ein Graben als soziale
Trennlinie zwischen den jeweiligen
Konfliktparteien, der, weil er →bestimmte
Bedingungen erfüllt, zu einer
Konfliktlinie (Cleavage) wird mit Auswirkungen auf die
Entstehung von Parteien und Parteiensystemen.
Selbst wenn ein Konflikt schon lange Zeit vorhanden ist, führen
die Konfliktlinien erst in der entstehenden Massendemokratie mit
der vom allgemeinen Wahlrecht geförderten Politisierung der
Gesellschaft zur Gründung von politischen Parteien, die sich der
Interessen der im Konflikt miteinander stehenden
Bevölkerungsgruppen annehmen. Auf diese Weise entsteht "eine
Wechselbeziehung zwischen den Angehörigen der durch gemeinsame
soziale und Lebensstilmerkmale charakterisierten Milieugruppen
und den sie vertretenden Parteien." (Decker 2011,
S.49
Nicht alle sozialen Spannungen, die es in einer Gesellschaft
gibt, sind auch gesellschaftliche Konfliktlinien (cleavages).
Manche, wie z.B. der Generationenkonflikt oder der
Genderkonflikt) erfüllen derzeit die Bedingungen, die dafür
gelten, nicht oder nur zu einem gewissen Teil.
Das muss aber
nicht heißen, dass sich im Zuge der Globalisierung (Kosmopolitismus-Nationalismus-Cleavage)
und des anhaltenden
Strukturwandels, insbesondere wegen des
demographischen Wandels, nicht ganz neue Konfliktlinien auftun
werden.
Auch wenn die
Bedeutung der (traditionellen) Konfliktlinien infolge des
fortlaufenden Strukturwandels für die Parteibindung der
Wählerinnen und Wähler grundsätzlich abnimmt, gibt es u. a. auch
in der Bundesrepublik Deutschland bis heute ein Parteiensystem,
das "der durch den sozio-ökonomischen und
sozio-kulturellen Wandel komplexer gewordenen Cleavage-Struktur
entsprechen" kann (Ladner 2004,
S.40) (vgl.. Dementsprechend ist es ohne seine prägenden Konfliktlinien kaum zu
verstehen. (vgl.
Schmidt 2016,
III, 2)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.08.2016
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