Wer wissen will,
wie es um unsere Kinder in der tollen, neuen Medienwelt bestellt
ist, muss nur einmal auf einen Elternabend, in welcher Schulart auch
immer gehen. Überall ratlose Gesichter, wenn sich eine Mutter
getraut, zu erzählen, dass ihre gerade mal 12-jährige Tochter
nachmittags die meiste Zeit vor dem Computer, natürlich bei Facebook
oder Instagram, verbringt. Und wenn eine andere, durch dieses
offenherzige Beispiel ermutigt, berichten, dass ihr älterer Sohn mit
seinen 17 Jahren nächtelang nicht mehr vom Bildschirm weicht, weil
ihn seine Gilde bei WOW ständig im Kampf gegen die anderen braucht,
dann verstehen zwar die meisten der Anwesenden kaum mehr als
Bahnhof, wie man so sagt, aber ahnen doch, dass da vielleicht noch
eine Lawine auf sie zukommt.
Was sich heute in
vielen Elternhäusern abspielt, ist, um es gleich zu sagen, ein
Zustand der Medienverwahrlosung. Nicht dass dort irgendetwas
vergammelt und schlecht riecht, im Gegenteil. Der nagelneue,
wandfüllende Flachbildschirm im Wohnzimmer ist mit einer
Heimkinoanlage vom Feinsten verbunden, die auch noch zwei Stockwerke
darüber, wenn einem danach ist, den Fußboden vibrieren und das
Spiegelei in der Pfanne hüpfen lässt. "Doing family" nennen das
Familiensoziologen, wenn sich Vater, Mutter und Sprösslinge manchmal
noch zu einem gemeinsamen Fernsehabend im ZDF, dem Seniorensender
mit einem Durchschnittsalter der Zuschauer von deutlich über 60,
verabreden können. Doch Medien, die irgendwelche "Sinnprovinzen"
(Friedrich Krotz) für die ganze Familie im Stile der guten
alten Fernseh- oder Musiktruhe im Wohnzimmer gestalten, sind
mittlerweile längst schon vergessen.
Nach Angaben der
renommierten
»KIM-Studie (2022) über Mediennutzung und Medienverhalten der
6-13-jährigen Kindern besitzen 44 Prozent von ihnen ein eigenes
Handy, wobei dies natürlich mit zunehmendem Alter anwächst. Ab dem
Alter von zehn bis elf Jahren verfügt mehr als die Hälfte der Kinder
über ein eigenes Smartphone (6-7 Jahre: 9 %, 8-9 Jahre: 27 %, 10-11
Jahre: 58 %, 12-13 Jahre: 81 %). Und sie nu
Wem das noch kein Stirnrunzeln ins Gesicht schreibt, der braucht nur die
Tür zu einem typischen Kinderzimmer zu öffnen. Das Kinderzimmer von
heute ist, selbst wenn das mit dem Aufräumen wohl eine Sache für die
Ewigkeit darstellt, längst kein Raum mehr mit altem, abgelegten Muff und
Tand, den andere Kindergenerationen schon längst auf- und abgespielt
haben. Das moderne Kinderzimmer strotzt von Elektronik. In gut einem
Drittel steht ein CD-Player und ein Fernsehgerät. In 28 Prozent der
Zimmer gibt es eine Spielekonsole. Jedes fünfte Kind kann im eigenen
Zimmer das Internet nutzen (22 %), 15 Prozent haben einen
Kindercomputer, 14 Prozent ein Radiogerät, 13 Prozent einen
Kassettenrekorderund zwölf Prozent einen Laptop. Ein Tablet besitzt
mittlerweile jedes zehnte Kind und acht Prozent der Kinder können im
Kinderzimmer einen Streamingdienst wie Netflix oder Disney nutzen.
Was Kinderherzen
höherschlagen lässt, treibt indessen nicht selten den Blutdruck der
Eltern immer wieder in die Höhe, weil sie mit den Geistern, die sie
selbst ins Kinderzimmer gerufen haben, nicht mehr fertig werden. Die
elektronische Vollausstattung der Kinderzimmer bis zur
Medienverwahrlosung ist nämlich ihr Werk und geschieht dabei nicht
selten besseren Wissens. Schon längst ist nämlich durch alle Medien
gegangen, was in verschiedenen Studien immer wieder belegt worden
ist, dass Kinder, die auf einem solchen Medienarsenal in ihrem
Zimmer sitzen und dazu noch eigenständig, ohne wirksame elterliche
Kontrolle nutzen können, auch im Vergleich zu anderen schlechtere
Noten aus der Schule nach Hause bringen. Trotz dieser Fakten geben
Eltern immer wieder vor, sie wüssten, was ihre Kinder z. B. im
Internet treiben und würden auch die zeitliche Nutzung eingrenzen.
Die Fakten zeichnen indessen ein weitaus traurigeres Bild.
Von den Kindern der
Altersgruppe 6 bis 13 Jahren ist nämlich zu hören, dass 58 Prozent
von von ihnen alleine im Internet surfen, ihr Handy oder Smartphone
alleine nutzen und jeweils über die Hälfte von ihnen spielt alleine
am Tablet und sieht ohne die Eltern fern. (»KIM-Studie
2022).
Sicher
gibt es viele Eltern, denen das nicht geheuer ist, doch sehen sie sich
mit dem Problem alleingelassen und vielfach einfach überfordert. Das hat
natürlich auch damit zu tun, wie das heutige "doing family" in der
herkömmlichen "Verhandlungsfamilie" gelebt wird, wo schon die Kleinsten
bis hin zur Urlaubsplanung im übernächsten Jahr mitreden dürfen. Und
unter Bedingungen, die beiden Elternteilen heute die Erwerbsarbeit
geradezu aufzwingt, ist das Zuviel an Medien, das eine positive
Entwicklung der Kinder beeinträchtigt, oft den Regularien eines
Familienalltags unterworfen, die mehr oder weniger brüchig dafür sorgen,
dass der Gefühlshaushalt aller einigermaßen stimmt.
Dass es in den
unterschiedlichen Familien- und Medienwelten der verschiedenen
sozialen Schichten schon einmal so ist, dass Kinder mangels anderer
Angebote und Möglichkeiten vor den Fernseher oder den PC gesetzt
werden, ist zwar verständlich, aber entbindet die Eltern nicht von
ihrer Verantwortung. Und selbst wenn das aus Sicht der
Gewaltwirkungsforschung vielleicht ein wenig zu einfach klingt: Die
Eltern sind immer noch überwiegend der Ansicht, dass von den Kindern
konsumierte Gewaltinhalte in Fernsehen und Internet sich auf die
Gewaltbereitschaft ihrer Kinder direkt auswirken. (»KIM-Studie
2010)
Umso
unverständlicher, wie lax sie mit dem Medienkonsum ihrer Kinder zu
Hause umgehen. Da ruft man lieber nach dem Staat, als selbst
hinzusehen, da geht man lieber auf Elternabende und zankt mit den
Lehrkräften über den Schwierigkeitsgrad eines Vokabeltests, welchen
die ganze Klasse versemmelt hat, weil die Jungs und Mädchen die
Nachmittage lieber in der Facebook-Gruppe der Klasse verbringen als
Stoff zu pauken. Dass dabei auch, zum Leidwesen der Lehrkräfte
gemeinsam Hausaufgaben gemacht werden, stört bestimmte Eltern nicht.
Sie glauben nämlich allen Ernstes, ihre Kindern nutzten das Internet
vorwiegend zum Lernen. Doch das entpuppt sich eben beim
Vokabellernen eben schnell als Augenwischerei.
Für die Medienverwahrlosung im Zustand der Vollausstattung sind viele
Faktoren verantwortlich, das braucht eigentlich nicht wieder eigens
betont zu werden. Aber wenn Kinder heutzutage immer noch angeben, dass
sie am liebsten ihre Freunde treffen (62%) und zwei von fünf an zweiter
Stelle gerne draußen spielen wollen (»KIM-Studie
2022)., tragen die Eltern, neben dem Staat, der für geeignete
Spielplätze sorgen muss, die Verantwortung dafür, wenn sie es ihren
Kindern mit jedem neuen Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk immer
schwerer machen, das zu leben, was die Kinder - Gottseidank - heute
eigentlich (noch) wollen.
Auch wenn das bei einem Smartphone mit Internet-Flatrate, das so manch
ein Knirps schon mit sich rumträgt, um den anderen zu zeigen, wie toll
der Facebook-Account ist, dem ihm sein Vater eingerichtet hat, nur noch
an der Ladestation des Gerätes realisiert werden kann: Es ist höchste
Zeit, den Kindern wieder den Stecker zu ziehen - und vielleicht, vor
allem im Interesse eines allen förderlichen "doing family" - auch,
zumindest für eine Zeit, den Eltern auch.
Sonja Munka (Pseudonym),
www.teachsam.de, 19.09.08 neu bearbeitet am:30.12.2023
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.12.2023