Szenische
Interpretation und produktive Textarbeit
Die
▪ szenische
Interpretation wird zwar häufig als ein Teilbereich der
▪ produktiven Textarbeit
verstanden oder einfach dem
▪ literarischen Rollenspiel
zugeordnet, hebt sich aber mit der Gesamtheit der von ihr
intendierten personalen und intrapersonalen Wirkungsabsichten deutlich von
beidem ab.
Dennoch sind einige ihrer
▪
szenischen Verfahren zur
Texterschließung und Textinterpretation in den handlungs- und
produktionsorientierten Literaturunterricht eingegangen und haben zu dessen
Bereicherung beigetragen. Und ebenso klar geht die eigentliche szenische
Interpretation auch über den Bereich einer ▪
schulischen Schreibform
hinaus.
Hier halten wir uns an eine Definition, wie sie
Schau (1996,
S.22) vorgelegt hat:
"Das Szenische Interpretieren stellt eine Form des
integrierten Lernens und Lehrens dar, mit dessen Hilfe Literatur genussvoll
angeeignet und kritisch verstanden werden kann." Dabei muss szenisches
Interpretieren, so Schau weiter, unter zwei Aspekten betrachtet werden. Zum
einen stelle es ein didaktisches Prinzip dar, das sich "am humanistischen
Bildungsideal von der umfassend gebildeten Persönlichkeit (orientiert), zu
deren Entfaltung die aktive Teilhabe an der Kultur/Literatur gehört" (ebd.,
S.23). Zum anderen liefere sie unter methodischem Aspekt betrachtet in einem
offenen Unterricht ein "Methoden-Ensemble" (ebd.),
das geradezu "chamäleonhaft offen" (ebd.,
S.25) ist und in dem "vielfältige Tätigkeiten der
- sprachlichen Kommunikation
- der Körpersprache
(Mimik/Gestik)
- der Motorik (Bewegung/Tanz)
- der sinnlichen Wahrnehmung mit
- kognitiv-analytischen
Operationen eine spannungsvolle Koalition eingehen."
Der Begriff der szenischen Interpretation
Der Begriff der szenischen Interpretation hat wohl
verschiedene Väter. Wer ihn zum ersten Mal verwendet hat, soll hier nicht
nachgezeichnet, noch bestimmt werden.
-
Wenn zutrifft, was
Schau (1996,
S.14) dazu ausführt, ist der Terminus erstmals 1980 von Reinhold
Klinge (1980)
verwendet worden, um eine Methode zu bezeichnen, mit der
"literarische Texte unter Zuhilfenahme der bekannten
'Theatermittel' spielerisch inszeniert werden können.
-
Ein systematisches Verfahren der
▪ szenischen
Interpretation wurde von Ingo Scheller Mitte der siebziger und Anfang der
achtziger Jahre entwickelt. Es ist entstanden in der Auseinandersetzung mit »Konstantin
Stanislawski
(19863-1938), »Lee
Strasberg (1901-1982), »Bertolt Brecht
(1898-1956),
Jacob Levy Moreno (1889-1974) und anderen theater- und
schreibpädagogischen Ansätzen. Von
Schau (1996,
S.15) wurde ihm, mehr sei an dieser Stelle nicht ausgeführt, 1996 noch
vorgehalten, dass Scheller, ähnlich wie
Klinge (1980),
das szenische Interpretieren auf eine Interpretationsmethode reduziere, "in
der der literarische Text zum Spielanlass verkommt." Unter heutiger Sicht,
die Methode wurde von Scheller konzeptionell weiterentwickelt, geht diese
Kritik allerdings fehl. (vgl.
Scheller
1999,
22008 etc.).
Ursprünglich ein Konzept für den handlungsbezogenen Zugang zu Dramen
Stellte die szenische Interpretation zunächst den handlungsbezogenen
Zugang zur Drameninterpretation in den Vordergrund, so rückte mehr und mehr
auch die Auseinandersetzung mit den Themen und mit den in den Texten
eingenommenen Haltungen und sozialen Dramen in den Mittelpunkt des
Interesses. (vgl.
Scheller
1999, S.330) Die szenische Interpretation, die auf der Annahme beruht, dass die bloße Lektüre
eines Dramentexts unvollständig bleibt, geht dabei vom
▪
Partiturcharakter des dramatischen Textes aus.
Als kollektives Interpretationsverfahren, bei dem sämtliche
Teilnehmer einen wichtigen Beitrag zur Deutung des Stücks leisten, stellt
die szenische Interpretation ein "Lern- und Interpretationsverfahren" dar, "das den spezifischen gestischen situations-,
gruppen- und körperbezogenen Denk-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsweisen der
Jugendlichen" entgegenkommt (Scheller
1999, S.320)
Vorstellungen, Projektionen und Bedeutungen bewusst machen
Im Kern bietet dieses Verfahren in der Auseinandersetzung mit einem
Text die Gelegenheit, Vorstellungen, Projektionen und Bedeutungen zu
vergegenständlichen und damit bewusst zu machen, so dass "auch vergessene oder abgewehrte,
asoziale Erlebnisse, Phantasien und Wünsche (wieder)entdeckt und überdacht werden"
können. (
Scheller
1999, S.320) Dabei sollen "auf höchst genussvolle Weise
Literaturerfahrungen möglich gemacht werden, in denen die sinnliche
Wahrnehmung und die Körpersprache eine zentrale Vermittlerrolle spielen." (Schau
1996, S.7)
Nicht die gelungene Inszenierung ist Ziel
Dabei zielt die szenische Interpretation nicht auf die Aufführung oder
gar eine gelungene Inszenierung, sondern will "durch die
Handlungen und Haltungen der TeilnehmerInnen, die sich dabei eigene Haltungen bewusst
machen können" zur Interpretation beitragen. Denn, so fährt Scheller fort,
im "szenischen Spiel können die TeilnehmerInnen
bei der Gestaltung der vom Text vorgegebenen Rollen und Szenen eigene Haltungen entdecken,
ausagieren, untersuchen und auch ein Stück weit verändern, ohne dass sie dafür direkt
verantwortlich gemacht werden können. In diesem text- und handlungsorientierten Blick auf
die szenische Darstellung unterscheidet sich die Interpretationsweise von anderen
literaturdidaktischen Ansätzen." (Scheller
1999, S.324)
Szenische Interpretation im Literaturunterricht muss nicht stets das
Gesamtkonzept im Auge haben
Wer szenisches Interpretieren "als eine
ganzheitliche oder integrierte Form der Literaturvermittlung" (Schau
1996, S.7) im Literaturunterricht einsetzen will, muss indessen
nicht unbedingt das Gesamtkonzept realisieren und damit anstreben,
szenisches Interpretieren "zu einer vollen Entfaltung" zu bringen (ebd.).
Man kann, und dies entspricht wohl auch am ehesten schulischer Realität,
auch "dieses oder jenes Element von ihm ausleihen" (ebd.)
und immer wieder entscheiden, wann und wie viel davon umgesetzt werden
soll. (ebd.,
S.25) Dabei ist, wie
Schau (1996,
S.25) weiter betont, das Missverständnis auszuräumen, wonach "in jedem
Fall bei der Literaturinszenierung alle nur denkbaren Tätigkeiten
gleichzeitig mit gleich starker Intensität am Prozess der Vermittlung
und Aneignung beteiligt" sein müssen. Dementsprechend sei es sinnvoll und
realistisch, sich bewusst ausgewählte Tätigkeitskomplexe vorzunehmen,
die je nach Situation und Fall, aber auch Erfahrung und Vermögen der
Lerngruppe, festgelegt werden.
In kleinen Schritten vorgehen
Beim szenischen Interpretieren wird also
keine Inszenierung angestrebt, die sämtliche Aspekte erfasst und
szenisch umsetzt. Stattdessen empfiehlt sich ein Vorgehen in kleinen
Schritten und die Arbeit mit vergleichsweise kurzen Texten.
-
Nicht
beabsichtigt ist beim szenischen Interpretieren jedenfalls, die
Teilnehmer/-innen zu
Schauspielern zu machen, die wie bei einer Aufführung die Rolle
bekleiden.
-
Stattdessen sollen sie auch beim szenischen Interpretieren
eines dramatischen Textes den Text nur "ein wenig in der Rolle derer
lesen, für die er zum Lesen eigentlich gedacht ist, der Schauspieler
eben, die ihn lesen, um ihn dann spielen zu können." (Waldmann
52008, S.118)
In gewisser Weise lässt sich also die
szenische Interpretation schon in einen Bezug zur Bühnenarbeit bringen,
wenn man sie damit vergleicht, "wie die Schauspieler
-
sich die Rollen erlesen, die sie spielen sollen, und sich in ihre
Rollen einfühlen: sich vorstellen, wer die Figur, die sie spielen
sollen, eigentlich ist, wie sie fühlt und denkt, wie sie aussieht, sich
bewegt, spricht usw.
-
sich in die Zeit und die Umgebung, in der ihre Figur lebt und
handelt, hineinversetzen;
-
mit den anderen Schauspielern (und dem Regisseur) zusammen in
Sprech-, Stell- und Spielproben erkunden und ausprobieren, wie ihre
Figuren sich zueinander verhalten, wie sie sich begegnen, miteinander
sprechen, mit- und gegeneinander agieren." (ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.12.2023
|