Martin Opitz und die Gründungslegende der deutschen Literatur
»Martin
Opitz (1597-1639)
war einer der bedeutendsten Dichter und humanistischer Theoretiker des
Barock.
Sein ▪ Leben
zeigt in typischer Art und Weise die ▪ Situation der humanistischen Gelehrten
in der frühen Neuzeit und im (Spät-)Humanismus.
Im 17.Jahrhundert und in
den Darstellungen der nachfolgenden älteren Literaturgeschichte wird Opitz
oft als "Vater der (neueren) deutschen Dichtung" gepriesen und sein
kulturpolitisches Programm und seine dichterischen Leistungen werden dabei
immer wieder als "die geschichtliche Signatur der Epoche und die Qualität
der literarischen Produktion wenn nicht des ganzen Jahrhunderts, so doch der
ersten Jahrhunderthälfte diskutiert" (Garber
1976, S.18)
Opitz gilt als wichtigster Vertreter der neuen "Kunstdichtung", mit
der vorwiegend protestantische Humanisten auf der Grundlage einer Sprach-
und Literaturreform in klarer Abgrenzung z. B. zum ▪
Meistergesang u. ä. in der frühen Neuzeit
"die deutsche Sprache im humanistische(n) Sinne
literaturtauglich" (Meid
2008, S.5) machen wollten. Mit seinem Hauptwerk, dem "»Buch
von der Deutschen Poeterey" (1602), gilt Opitz als Begründer und Motor
der gelehrten Literaturreform in Deutschland gilt.
Opitz selbst trug,
sicher auch aufgrund ▪ seiner
eigenen sozialen Aufstiegsambitionen und seinem vorwiegend
"taktisch geprägte(n) Traditionsverhalten" (Niefanger
2012, S.18) dabei
ordentlich dazu bei, dass er gemeinhin zum "Dichtervater" der neue
deutsche "Kunstdichtung" genannten, gelehrten deutschsprachigen Literatur
stilisiert worden ist, um den sich die "Gründungslegende
der deutschen Literatur" (ebd.)
rankt. Diese besagt, dass es vor Opitz eigentlich keine "echte", d. h.
anspruchsvolle Literatur gegeben hat. Wer sie unhinterfragt vertritt, sitzt
damit im Grunde der von Opitz selbst, aber auch von seinen Epigonen aus
eigenen Interessen - man arbeitete ja durch ein Dichterlob stets auch am
eigenen Ruhm - zumindest mitgestrickten Legende auf, bei der das Ziel, damit
diese eigene ▪
soziale Kapital möglichst effizient für
den erhofften sozialen Aufstieg in der
▪
Ständegesellschaft
der Zeit zu "verwerten, weitgehend aus den Augen gerät.
Opitz selbst machte aus seinem Anspruch auch gar keinen
Hehl, wenn er wie in einem seiner ▪ Gelegenheitsgedichte
(casualcarmina) an den ▪
Grafen von Dohna von sich sagt, dass er dem "Teutschen
[...] die erste Bahn zur Poesie gezeigt" habe. An diesem "Image"
arbeiteten, wie schon gesagt, seine Anhänger kräftig mit, wie Gedichte
zeigen, die seine Dichterkollegen nach seinem Tod als humanistisches
Dichterlob gestalteten.
So hat »Quirinus
Kuhlmann (1651-1689) in einem kurzen
Epigramm Opitz den »Homer
Schlesiens genannt und ihn damit "zum Vater und Inbegriff der deutschen
Dichtung erklärt" (Willems
2012, Bd. I, S.133, Verlinkung d. Verf.). Und auch ▪
Hofmannswaldau
(1618-1679) sagt von ihm, "er habe »Venus,
die Göttin der Liebe, deutsch reden gelehrt" (Verlinkung d. Verf.), womit
nicht weniger gemeint ist, als dass Opitz "als erster die deutsche Sprache
dahin gebracht habe, auf angemessene, poetisch vollgültige Weise von der
Liebe zu reden, dass er der Vater des deutschen Liebesgedichts sei." (ebd.)
In seiner Poetik, dem "»Buch
von der Deutschen Poeterey" (1624), erscheint
alle deutschsprachige Literatur vor ihm als defizitär,
eben unpoetisch, eine Bewertung, die aber bei Lichte betrachtet den Fakten nicht standhalten
kann.
So wird die "Gründungslegende
der deutschen Literatur" (Niefanger
2012, S.18) mit gewichtigen Argumenten in Zweifel
gezogen. Als Argumente gegen die Legende zählen u. a. Hinweise auf "die bahnbrechende Etablierung der
Muttersprache im kirchlichen Bereich (Luthers Bibelübertragung,
Kirchenlieder), [...] den zum Teil deutschsprachigen Humanismus (»Brant,
»Frischlin)
sowie die recht lebhafte muttersprachliche Kultur niedrigeren Anspruchs,
[...] die so genannten »Volksbücher« wie Faust und die
Meistersinger-Kultur." (ebd.),
ganz zu schweigen von der Theaterkultur der Jesuiten und auf den zahlreichen
Wanderbühnen, dem deutschsprachigen Kirchenlied und der deutschsprachigen
Lyrik »Georg
Rodolf Weckherlins (1584-1653) und des Jesuiten »Friedrich
Spee 1591-1635, die sich schon in der Zeit vor und völlig
unbeeinflusst von Opitz etabliert. (vgl.
ebd.)
Statt also weiterhin die fragwürdige Gründungslegende der deutschen
Literatur fortzuschreiben, spricht vieles dafür, "von einem sukzessiven
Erneuerungsprozess zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu sprechen" (ebd.)
in dessen Verlauf Opitz vor allem im Bereich der ▪
Vers- und Stillehre Akzente
setzen konnte, die zu einer Neubesetzung des literarischen Feldes in der
Auseinandersetzung mit vor allem der neulateinischen Gelehrtendichtung
führte. Kunstdichtung - ein Arbeitsbegriff, nicht mehr
Kunstdichtung - ein Arbeitsbegriff, nicht mehr
Allein
der Begriff der Kunstdichtung ist mehr als problematisch (vgl. Wels
2018, S.18) weil er zum einen oft als "Gegenbegriff
zu einer angeblichen »Volksdichtung« verstanden wird" (ebd.)
und vorgibt, man könne zwischen einem "Kunstlied" und einem "Volkslied“
überzeugend unterscheiden.
Zudem legt der Begriff fälschlicherweise nahe,
dass eine solche Kunstdichtung eben wie später im 18. und 19. Jahrhundert
verstanden, "als individueller, höchst persönlicher Ausdruck eines
Individuums oder gar eines »Genies«" (ebd.)
angesehen werden kann.
Dies festzustellen, ist
besonders auch für die Literaturdidaktik von Bedeutung, weil ansonsten der
Begriff allzu leicht mit einer prinzipiellen Höherwertigkeit konnotiert
wird.
Verwendet man ihn dennoch, so wie dies in diesem Arbeitsbereich immer
wieder geschieht, dann versteht er sich als eine Art Arbeitsbegriff, in
dessen Bedeutungsrahmen der Begriff Kunst "allein wegen seiner Konnotation von Technik, Regelhaftigkeit und
Kunstfertigkeit" verwendet wird und zur wertneutralen Bezeichnung einer" formbewusste(n), metrisch
und stilistisch reflektierte(n) Dichtung" (ebd.) dient,
die ihr Streben und ihre "Demonstration von Formbeherrschung" zu einer Art
Kunstdichtung macht.
Die Grundfrage: Kann man in Deutsch anspruchsvoll dichten?
Im 17.Jahrhundert und in
den Darstellungen der nachfolgenden älteren Literaturgeschichte wird Opitz
oft als "Vater der (neueren) deutschen Dichtung" gepriesen und sein
kulturpolitisches Programm und seine dichterischen Leistungen werden dabei
immer wieder als "die geschichtliche Signatur der Epoche und die Qualität
der literarischen Produktion wenn nicht des ganzen Jahrhunderts, so doch der
ersten Jahrhunderthälfte diskutiert" (Garber
1976, S.18)
Was ihn, aber auch andere
Gelehrte der Zeit, bewegt, ist im Kern die Frage, ob man in der deutschen
Sprache, für die es noch nicht einmal eine allgemeingültige Grammatik gab,
überhaupt und, wenn ja, so dichten konnte, dass die dabei entstehenden
Werke dem internationalen Vergleich standhalten konnten. Auch wenn man es nicht gleich mit den literarischen Vorbildern aus Italien,
Frankreich oder England aufnehmen konnte, wollte man aber doch in mittelfristiger Perspektive
durch Nachahmung daran anschließen, um dann selbstbewusst eigene Wege gehen
zu können.
So sollte also
die neue deutsche Kunstdichtung in einem ersten Schritt durch die
Übernahme
und Nachahmung von Themen und Formen der Renaissance-Literatur anderer
europäischer Länder die prinzipielle Kunstfähigkeit der deutschen Sprache
beweisen und dann auf dieser Grundlage eine eigenständige Entwicklung
nehmen. Dabei ging es
im Falle Italiens vor allem um
»Dante
Alighieri (1265-1321), der dort statt dem bis dahin dominierenden Latein
das Italienische zur Literatursprache machte, um
»Francesco
Petrarca (1304-1374) dessen Formensprache in der
▪
barocken Liebeslyrik (▪
Petrarkismus)
beispielhaft und stilbildend wurde und
um
Giovanni Boccacio (1313-1375), dessen
»Decamerone, einer
Sammlung von 100 Novellen,
in der erzählenden Dichtung Maßstäbe setzte.
Ohne die Überzeugung aber, dass sich die Formen der anderen (z. B. Verse wie der
Alexandriner oder lyrische Formen wie z. B.
Sonette) auch in der
deutschsprachigen Dichtung der Zeit mit ihren sonst nur holprigen
Knittelreimen gestalten
ließen, war ein solches Unternehmen mit seinen vielfältigen Aspekten nicht
zu wagen.
Dass solche Überzeugungen weder selbstverständlich waren noch
ohne Widerstände zu überwinden waren, zeigt ein Blick auf die lange Liste
gelehrter Vertreter aus dem In- und Ausland, die sich gerne und ausgiebig
als "Verächter der deutschen Sprache" präsentierten und "meinten, diese sei zu
»unausgebildet und rauh«, zu »grob und harte« (Gervinus
1838, S.222), als dass man in ihr Verse
schreiben könne." (Wels
2018, S.18)
Die Kunstfähigkeit der deutschen Sprache und die neulateinische Dichtung
der Zeit
Eine solche Verteidigung
der "Kunstfähigkeit der deutschen Sprache" (ebd.),
der sich auch Martin Opitz verschrieben hat, war vor allem deshalb wichtig,
weil sie sich gegen die beiden bis dahin dominierenden Formen der Dichtung im 16. Jahrhundert, der
neulateinischen Gelehrtendichtung und der volkssprachlichen
"Popularliteratur" ("Volkspoesie") behaupten musste, um, im besten Fall, eine Neubesetzung des literarischen Felds zu
erreichen. Latein war und blieb aber auch weiterhin die internationale
Gelehrtensprache.
Um die Voraussetzungen zu
verstehen, unter denen sich diese Verteidigung vollzog, verstehen zu können,
muss man sich verdeutlichen, welchen Stellenwert die deutsche Sprache bis
dahin im gesellschaftlichen Leben der Zeit besaß.
Eigentlich sprach man - von
oben in der sozialen Hierarchie betrachtet - nur dann Deutsch, wenn man sich
an das niedere, ungebildete Volk richten wollte, das nichts anderes
verstand. Für die "gepflegte" Konversation, den gelehrten Diskurs und
anspruchsvolle Dichtung kam eine wilde und barbarische Sprache nicht in
Frage, die der gemeine Mann auf der Straße sprach und für die es nicht
einmal eine verbindliche Grammatik und angesichts der Vielzahl regional
unterschiedlicher Dialekte verständliche Aussprache gab, kurz gesagt: "nicht
einmal gesagt werden konnte, was sprachlich richtig und was falsch war" (Wels
2018, S.37f.)
Wer bis dahin "kunstvoll geformte
Verse hatte schreiben wollen, wer also überhaupt ein Formbewusstsein hatte,
der hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht der deutschen, sondern der
lateinischen Sprache bedient. Die neulateinische Dichtung hatte im späten
16. Jahrhundert einen sehr hohen Grad an Formbeherrschung erreicht. Er
verhält sich negativ proportional zur Formlosigkeit der deutschen Knittel.
Latein war die Sprache der Kunst, Deutsch die Sprache des Volkes." (ebd.)
Dass das Vorhaben von Martin Opitz und anderen unter diesen Voraussetzungen
überhaupt Aussicht auf Erfolg hatte und die bis dahin vorhandene Balance
zwischen deutscher und neulateinischer Dichtung zu kippen begann, lag "am
höfischen Kontext der neuen Dichtung" (ebd.), zu dessen gesellschaftlichen
Rahmendingungen und Repräsentationsbedürfnissen einfach nicht (mehr) passte,
was der deutsche Knittel oder die neulateinische Verskunst zu Wege brachte. So konnte "der kunstlosen Dichtung, den
Knittelreimen der ▪
Meistersinger und
poetisch dilettierenden Theologen und Lehrern [...] eine kunstvolle, nämlich
formbewusste Dichtung entgegengestellt werden." (ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023
|