▪ Literatur auf dem Weg
in die Moderne
Die Einteilung der
▪
Literaturgeschichte
in mehr oder weniger klar voneinander abgrenzbare Epochen, wie sie vor allem
die ältere Literaturgeschichtsschreibung vorgenommen hat, ist in der
Literaturwissenschaft schon seit langem problematisiert worden und hat zum
Teil dazu geführt, dass der
Ordnungscharakter von Epochenbegriffen zur
Beschreibung der literarischen Entwicklung aufgegeben, zumindest aber
grundlegend relativiert worden ist.
Das Epochenkonzept
weist eine Reihe von Problemen auf, die vor allem damit zusammenhängen,
dass sie traditioneller Weise auf Konstrukten beruhen, die einem meta-literarischen Diskurs im ▪
Handlungsfeld Literatur entstammen, in dem die jeweiligen Akteure
(z. B. Fachwissenschaftlerinnen* unterschiedlicher Disziplinen,
Literaturwissenschaft- und Literaturdikaktikerinnen* etc.), a mit zum Teil ganz verschiedenen Perspektiven
und unterschiedlichen Interessen und Zielen agieren. (vgl. (Kepser/Abraham
42016, S.56)
Auch im Rahmen des
teachSam-Arbeitsbereichs Literaturgeschichte ist den Literaturerpochen
ein umfangreicher Arbeitsbereich gewidmet. Damit sollen aber die
Probleme, die mit solchen Epochenkonstrukten zusammenhängen, nicht
ignoriert oder klein geredet werden. Im Literaturunterricht ist stets
ein reflektierter Umgang damit erforderlich, der Vorstellungen von
starren Epochenkonstrukten immer wieder aufbricht, zugleich aber auch
akzeptiert, das "Epochenwissen", wenn es sich seiner Grenzen bewusst
ist, einen Beitrag zum Verständnis von Texten leisten kann.
Epochenkonzepte
bringen, so griffig die aus der älteren Geschichtsschreibung stammenden
Unterteilungen in Reformation/Renaissance - Barock - Aufklärung - Sturm
und Drang - Klassik - Romantik - Realismus und spätere Fortsetzungen bis
heute erscheinen, eine Menge Probleme mit sich,
die u. a. Matthis Kepser und Ulf Abraham in ihrer Literaturdidaktik
(
42016, S.56f.) zusammengestellt haben. Nachfolgend werden
sie mit wenigen Ergänzungen referiert:
-
Epochen lassen sich
von bloßen "Strömungen" wie z. B. "Biedermeier", "Vormärz" oder
"poetischem Realismus" nicht wirklich abgrenzen.
-
Etliche Zeiträume
der Literaturentwicklung tragen auch in der Fachwissenschaft ganz
unterschiedliche Bezeichnungen, wie z. B. wenn die Zeit der
Jahrhundertwende um 1900 mal als "Jugendstil", mal als
"Impressionismus" oder einfach als "Beginn der Moderne" bezeichnet
wird.
-
Wer abgegrenzte
Epocheneinteilungen vornimmt, verschleiert damit, dass sich vieles
gleichzeitig oder überschneidend entwickelt hat (z. B. ▪"Jakobinismus",
▪"(Weimarer) Klassik" und ▪"Romantik").
-
Es gibt
etliche
Autorinnen*, die sich nie wirklich überzeugend einer bestimmten
Literaturepoche haben zuordnen lassen (z. B. "Außenseiter" wie »Friedrich
Hölderlin (1770-1843), »Jean
Paul (1763-1825) oder »Heinrich
von Kleist (1777-1811). Wer nicht in die gängigen
Epochenschemata passt, läuft Gefahr "marginalisiert und vergessen" (ebd.,
S.57) zu werden und bei der an den Epochen orientierten Kanonbildung
unberücksichtigt zu bleiben.
-
Epochenkonstrukte
orientieren sich stets an der so genannten
Höhenkammliteratur, der von bestimmten Akteuren im literarischen
Feld eine besondere unbestritten zeitüberdauernde, besonders erinnerungswürdige, traditionsbildende
und repräsentative Eigenschaft zugesprochen wird, die als
unabdingbar für das "kulturelle Gedächtnis" (Aleida Assmann) der
Gesellschaft gilt. Damit
vernachlässigen sie die populäre
Unterhaltungsliteratur, fördern das dichotomische Denken in
Kategorien von Hoch- und Trivialliteratur und
blenden die Mediengeschichte
aus. Daher wird man auch den Verdacht nicht los, dass
es sich dabei weniger um Kategorien zur Ordnung der literarischen
Entwicklung handelt, als um "Herrschaftswissen, das der
bildungsbürgerlichen Schicht zur Abgrenzung von anderen Gruppen
dient und als 'kulturelles Kapital" (Bourdieu)
eingesetzt wird." (ebd.,
S.57)
-
Die
Bezeichnungen
für die Epochen resultieren oft aus ganz verschiedenen
Beobachtungsperspektiven. Manchmal stammen sie wie z. B. beim
"Barock" oder dem "Expressionismus" aus der Kunstgeschichte, ein ander
Mal werden sie der politischen Geschichte entlehnt, wie z. B.
"Literatur der Weimarer Republik", "Literatur während des Dritten
Reichs", oder einfach nur an die Chronologie mit ausgewählten
politischen Zäsuren deutscher Geschichte angelehnt wie z. B. bei
"Literatur nach 1945", "Literatur nach 1989" oder "Literatur im 21.
Jahrhundert". Für die Literaturepoche des "Sturm und Drang" muss ein
gleichnamiges Drama der Zeit herhalten und "»Klassik« ist ein
nationalstaatlich geprägter, kultureller Hochwertbegriff" (ebd.),
der zudem bis heute mit beispielhaft und ideal konnotiert wird. Und
von "Goethezeit" zu sprechen, macht die Sache auch nicht unbedingt
leichter.
-
Die
Zeiträume, die
für bestimmte Literaturepochen angegeben werden, sind nicht
einheitlich, insbesondere wenn sie in anderen Fachdisziplinen
ebenfalls Verwendung finden. Dies ist z.B. beim "Barock" der Fall,
der in der Literaturgeschichte von 1600 bis 1720, in der
Musikgeschichte von 1570 bis 1750 reicht und in der Kunstgeschichte
sogar bis 1770 dauert.
-
Epochenbezeichnungen verengen oft auch den Blick auf die Texte, die
unter die jeweilige Kategorien fallen und legen sie mehr oder
weniger auf die begrifflichen Inhalte des Epochenkonstrukts fest. So
ist z. B. »Christian Hofmann von Hofmannswaldaus
(1616-1676) Sonett "Vergänglichkeit der
Schönheit" nicht nur ein typisches barockes Gedicht, das sich
zwischen Vanitats-Motiv, Carpe diem und Memento mori bewegt, sondern
eben auch ein Gedicht, das "die humorvolle Leichtigkeit (...) in der
Tradition der Anakreontik" aufweist. (ebd.)
-
Im Endeffekt sind
Epochenkonstrukte eben kaum mehr als "Haufenbildungen in bestimmten
Zeiträumen" und ihr Erklärungswert ist im ▪
Handlungsfeld Literatur
"äußerst begrenzt" und dies "selbst dann, wenn
Literaturgeschichte als 'Sozialgeschichte' konzipiert ist (...) und
die Lesekultur berücksichtigt wird." (ebd.)
Was
angesichts dieser Kritik an den Epochenkonstrukten, die einige
Literaturdidaktiker dazu veranlasst hat, vom Begriff der
Literaturepochen endgültig Abstand zu nehmen, für den
Literaturunterricht noch im Rahmen der • Entwicklung einer
literaturgeschichtlichen Kompetenz übrig bleiben kann, wird wohl
auch weiterhin kontrovers beantwortetet werden.
Im Kontext der
Forderung der
▪
Bildungsstandards im
Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (KMK
18.10.2012) (BISTA-AHR-D
2012 im
▪
Kompetenzbereich
▪
Sich mit literarischen
Texten auseinandersetzen, wird ausdrücklich • "ein
literaturgeschichtliches und poetologisches Überblickwissen, das Werke
aller Gattungen umfasst", eingefordert.
Was es allerdings bedeutet,
bleibt •
sehr vage, auch wenn einzelne Bildungsstandards bei der
erforderlichen Heranziehung von Kontexten die Literaturgeschichte noch
einmal erwähnen (Lit-3) oder auf literarhistorische
Zusammenhänge wie die Epocheneinteilung (Lit-3),
sowie motiv-, form- und kulturgeschichtliche Fragen (Lit-4)
hinweisen
Im Grunde genommen implizieren die nachfolgend aufgeführten Standards
stets einen literarhistorischen Bezug. Auf dem •
grundlegenden Niveau sollen die Schülerinnen und Schüler
-
"ihr Textverständnis
argumentativ durch gattungspoetologische und literaturgeschichtliche
Kenntnisse über die Literaturepochen von der Aufklärung bis zur
Gegenwart stützen" können (•
Lit-3)
-
"relevante Motive,
Themen und Strukturen literarischer Schriften, die auch über Barock
und Mittelalter bis in die Antike zurückreichen können, vergleichen
und in ihre Texterschließung einbeziehen" können (•
Lit-4)
-
"die besondere
ästhetische Qualität eines literarischen Produktes aufgrund eines
breit angelegten literarischen Vorwissens erfassen und ihre Befunde
in das Textverständnis einbeziehen" können (•
Lit-7)
-
"diachrone und
synchrone Zusammenhänge zwischen literarischen Texten ermitteln und
Bezüge zu weiteren Kontexten herstellen" können (•
Lit-8)
-
"literarische Texte
auf der Basis von nachvollziehbaren, sachlich fundierten Kriterien
bewerten und dabei auch textexterne Bezüge wie Produktions-,
Rezeptions- und Wirkungsbedingungen berücksichtigen" können (•
Lit-10)
Insgesamt gesehen
hat die •
Kompetenzorientierung des
Literaturunterrichts dabei "die
Rolle fachlichen Wissens für
die Lösung fachlicher Probleme wieder stark akzentuiert." (Born/Kämper-van
den Boogaart 320219, S.91) Zu diesem Fachwissen
gehört hier jedenfalls eindeutig auch literaturgeschichtliches
Wissen, weil es neben anderen Aspekten wie z.B. die Ermöglichung von
Alteritätserfahrungen literaturgeschichtliche Phänomene in räumliche
und zeitliche Ordnungsmuster bringen kann, die als zu reflektierende
• dynamische
kognitive Schemata die •
Slots (Leerstellen) bieten, an denen die Elemente des erworbenen
Überblicks- bzw. Orientierungswissen mental "andocken" kann.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.08.2024
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