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"Friede? Das ist ja so was von 90er!",
... sagten junge Israelis im Jahr 2014,
als die israelische Armee wieder einmal in den Gazastreifen
einmarschierte und über Wochen ein schmutziger Krieg Hunderte von
Opfern, darunter zahllose unschuldige Kinder, forderte. Was die jungen
Leute auf ihre Weise nur noch als verlorengegangene Utopie einer
friedlichen Zukunft begriffen, ist indessen einmal eine Zeit in Gaza
gewesen, als der schmale palästinensische Küstenstreifen am Mittelmeer
noch nicht hermetisch abgeriegelt war. Es war eine Zeit, als "Palästinenser und Juden
halbwegs normalen Kontakt miteinander hatten", wie »Sarah
Stricker (geb. 1980), seit 2009 wohnhaft in »Tel
Aviv, in ihrem Kriegstagebuch von 2014 betont. (SZ,
9./10.8.2014) Doch die
Jüngeren kennten die Israelis nur noch als Soldaten, die Bomben auf sie
würfen. "Das Gefühl der Angst wird größer, das Mitgefühl kleiner",
bringt sie die Konsequenzen dieser Entwicklungen pointiert auf den
Punkt.
Lessings Nathan als Modell möglicher Versöhnung
Was die Jugendlichen mit ihrer Bemerkung aussprechen, verweist auf die
lange Geschichte mehr oder weniger erfolgloser »Friedensbemühungen
zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn und insbesondere zwischen
den Israelis und den Palästinensern.* Und: Als ob
Lessings Drama "Nathan der Weise"
geradezu dafür konzipiert wäre, gibt es tatsächlich wohl "kein zweites
Stück in der gesamten deutschen Literatur, das einerseits das
Konfliktpotential zwischen Judentum, Christentum und Islam spiegelt und
gleichzeitig das Modell einer Versöhnbarkeit von Juden, Christen und
Muslimen anbietet." (Kuschel
2011, S.18)
So wundert es im Nachhinein auch nicht, dass der
"Realgehalt" von Lessings Drama immer wieder herhalten musste, wenn
politische Ereignisse im Nahen Osten die Erinnerung an "Nathan den
Weisen" wachriefen.
So kam der Journalist »Dieter
Kronzucker (geb. 1936), der im »Zweiten
Deutschen Fernsehen (ZDF) die spätabendliche Nachrichtensendung »heute-journal
bis 1991 regelmäßig moderierte, angesichts des 1979 in
Washington unterzeichneten »Friedensvertrags
zwischen Israel und Ägypten auf die Idee, die Bruderküsse der
Präsidenten »Jimmy
Carter (geb. 1924) (»USA),
»Menachem
Begin (1913-1992) (»Israel)
und »Muhammad
Anwar as-Sadat (1918-1981) (Ȁgypten)
mit den "allseitige(n) Umarmungen" im
Schlusstableau (V,8)
von Lessings Drama zu vergleichen.
Wie im "Nathan", so die Parallele,
sei mit dem Friedensvertrag eine Versöhnung zwischen Christen, Juden und
Moslems zustande gekommen. (vgl.
Kröger
1980, S.10,
1998,
S.8)
Mit einem Unterschied: Sadat und Begin wurden für ihre Versöhnung
1978 mit dem »Friedensnobelpreis
ausgezeichnet.
Den erhielten für ihre Aussöhnung im so genannten "»Oslo-Friedensprozess" 16 Jahre später (1994) im Übrigen auch
der israelische Präsident »Jitzchak
Rabin (1922-1995) und dessen damaliger Außenminister »Schimon
Peres (geb. 1923) und der Vorsitzende der »Palästinensischen
Befreiungsorganisation (PLO) »Jassir
Arafat (1929-2004), der Anführer der palästinensischen
»Fatah. Diese hatte über
Jahrzehnte hinweg mit Terroranschlägen auf Israel von sich reden
gemacht.
Ab 1993 führten die geheimen Verhandlungen in Oslo zu einer ganzen Reihe
von Abkommen, mit denen Israel und die Palästinenser grundlegende
Streitigkeiten klären wollten. Neben der gegenseitigen Anerkennung
erhielten die Palästinenser im so genannten »Gaza-Jericho-Abkommen
vom Mai 1994 erstmals seit 1967 die Selbstverwaltung über die Stadt
»Jericho
und 65% des Gaza-Streifens zugesprochen.
Doch die Region kam aller dieser Bemühungen zum Trotz nicht zur Ruhe.
Regierungswechsel in Israel stellten die ganze Versöhnungspolitik in
Frage und rückten Lösungen für Streitfragen wie den Status von
Jerusalem, Flüchtlingsprobleme, Grenzziehung und die jüdische
Siedlungspolitik im Westjordanland in weite Ferne. Der Ausbruch der »2.
Intifada - "Intifada" bedeutet übersetzt "abschütteln" (gemeint ist
die israelische Besatzung) - die offiziell vom Herbst 2000 an 5 Jahre
dauerte, setzte allen Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden und eine
Versöhnung zwischen Israel und den Palästinensern ein Ende. Mit
unzähligen Terroranschlägen und Selbstmordattentaten sorgten vor allem
die heute seit dem
»Bürgerkrieg
in Gaza (2007) dort herrschende »Hamas,
eine »sunnitisch-»islamistische
Palästinenser-Organisation, und ihre »paramilitärischen
»Qassam-Brigaden
dafür, dass die Lage immer weiter eskalierte. Ihr erklärtes Ziel: Den
zionistischen Staat Israel mit terroristischen Mitteln beseitigen und
dort
einen »islamisch-»theokratischen
Staat errichten. Die Folge: Israel baute seit 2003 eine Sperranlage um den Gazastreifen und
eine zum Westjordanland, um, wie es offiziell heißt, das Einsickern von
Terroristen zu verhindern.
Heute, in den Tagen des erneuten Gaza-Krieges von 2014, erinnert man
sich wieder an einzelne Passagen des leider folgenlos gebliebenen, so genannten Mitchell-Berichts, den
Bericht einer international zusammengesetzten Kommission unter Leitung
des US-»Senators
»George
J. Mitchell (geb.1933), die auf Vorschlag des US-Präsidenten »Bill
Clinton (geb. 1946) die
Gründe für die 2. Intifada möglichst objektiv an den Fakten orientiert
untersuchen sollte. In der inoffiziellen Version des Abschlussberichtes
der Kommission (in der Übersetzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
vom 17. Mai 2001) heißt es u. a.:
"... Trotz ihrer langen Geschichte und ihrer großen Nähe zueinander
scheinen einige Israelis und Palästinenser die Sorgen des anderen nicht
richtig zu würdigen. Einige Israelis scheinen nicht zu verstehen, welche
Entwürdigung und Frustration die Palästinenser wegen der israelischen
Besatzung, der Präsenz des Militärs und der Siedlungen täglich ertragen
müssen, noch scheinen sie die Entschlossenheit der Palästinenser zu
begreifen, ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu erlangen. Einige
Palästinenser scheinen nicht zu verstehen, in welchem Ausmaß der
Terrorismus die Angst im israelischen Volk schürt und damit den Glauben
an die Möglichkeit der Koexistenz untergräbt. Auch scheinen sie nicht
die Entschlossenheit der israelischen Regierung zu verstehen, alles
Notwendige zum Schutz der Bevölkerung zu tun ... So viel ist schon erreicht worden, so viel steht auf dem Spiel. Wenn es
den beiden Parteien gelingen soll, ihre gemeinsame Bestimmung zu
verwirklichen, müssen die eingegangenen Verpflichtungen verwirklicht,
internationales Recht geachtet und die Menschenrechte geschützt werden.
Wir ermutigen sie, zu Verhandlungen zurückzukehren, wie schwer das auch
fallen mag. Es ist der einzige Weg zu Frieden, Gerechtigkeit und
Sicherheit ... Wir können keiner Seite vorschreiben, wie sie ihre politischen Ziele am
besten verfolgen soll. Aber der Aufbau einer neuen bilateralen
Beziehung, die ein Ende der Gewalt untermauerte und darüber hinausginge,
braucht eine intelligente Risikobereitschaft. Notwendig ist an erster
Stelle, dass beide Seiten bereit sind, sich als Partner anzuerkennen."
(zit. n.: AG Friedensforschung,
www.ag-friedensforschung.de/regionen/Israel/mitchell.html, 10.08.14)
Eine Utopie des Friedens?
"Friede? Das ist ja so was von 90er!" - So illusionslos, wie junge
Israelis die Lage heute auch sehen mögen, ist der Weg zum Frieden ist
auch heute immer noch eine Option und muss es sein. Und wahrscheinlich
ist er auch heute nicht anders möglich als auf der Grundlage der im
Mitchell-Bericht gemachten Ausführungen, ganz egal wie die Roadmap
für eine dauerhafte Zwei-Staaten-Regelung zur Beilegung des
israelisch-palästinensischen Konflikts (2003) im
einzelnen aussehen mag.
Schon möglich, dass sich Menschen auch heute noch an die Utopie des
Friedens klammern, schon möglich auch, dass Lessings Nathan, wie das Beispiel Kronzuckers
zeigt, zu schnell und zu unvermittelt für Deutungen und Bewertungen
solcher realen politischen Vorgänge herangezogen wird. Dennoch gilt es
zum wiederholten Male - erneut mit
Kuschel
(2011, S.18) festzustellen: "Wie immer man ästhetisch, politisch und
theologisch zu Lessings 'dramatischem Gedicht' stehen mag, in der
deutschen Literatur verfügen wir nun einmal über kein anderes
literarisches Dokument für das Konflikts- und
Versöhnungspotential zwischen Juden, Christen und Muslimen.[...] Nur in
diesem Stück kommen alle drei Traditionen und Kulturen in ihrem
Konflikts- und Versöhnungspotenzial zur Sprache. Wir haben keinen
anderen großen Referenztext in der deutschen Literatur, wenn es um das
Verhältnis von Juden, Christen und Muslimen geht. Und in der
gegenwärtigen Weltstunde geht es wieder um diesen Konflikt zwischen der
jüdischen, christlichen und islamischen Welt - gespiegelt im Brennpunkt
Palästina wie letztmals zu Kreuzzugszeiten." Und man wird im Anschluss
an Kuschel auch dem Kritiker der Mannheimer Inszenierung recht geben,
wenn er betont, dass der "Nathan" durch seinen "Toleranzoptimismus - die
Vertreter der unterschiedlichen Religionen entpuppen sich als Mitglieder
einer gemeinsamen Familie - klar als Märchen und somit als Utopie"
gekennzeichnet werde und deshalb auch wieder als anzustrebende Option
dargestellt werden könne. (A. Jüttner, in: Badische Neueste Nachrichten
10.01.2003, zit. n.
Kuschel ebd., vgl. auch:
Barner
u. a. (1987, S.318) ) Und selbst derjenige, der den "Nathan" als
"abgeklapperte Schullektüre" (Demetz
1966, S.129) kennengelernt und ihn dabei als Toleranzdrama gelesen
hat, wird das aufklärererische Happy End der Geschichte angesichts der
Vielzahl von fast unlösbar erscheinenden Konflikten auf der Welt wohl
kaum noch als bare Münze nehmen und einer rührseligen Rezeption
erliegen, die der Tendenz des Dramenendes zur "Regression ins
Bescheiden-Häusliche" (Kröger
1998,
S.56 f.) folgt, die Lessings Modell der Weltfamilie am Ende des Stücks
durchaus aufweist. Die Desillusionierung angesichts von »Hamas,
»Al-Qaida,
»Boko Haram und
»"Islamischem
Staat" dürfte, ganz im Sinne der Aussage der jungen
Israelis, auch die Rezeption des "Nathan" verändern und die von ihm
"entbundenen idealen Kräfte weniger Einzelner zu einem guten Ende
jenseits der Faktizität der Historie" (Sautermeister 1974b,
S.142) heute mehr denn je "zwischen fundierter Utopie und illusionärer
Märchenwelt, zwischen dem vorbildlichen Gebrauch der Vernunft und des
Reichtums einerseits und dem naiven Glauben an die weltbewegende Macht
der guten unpolitischen Tat des einzelnen andererseits" ansiedeln. (ebd.)
(vgl.
Toleranzstück oder Aufforderung zu mehr?)
Fast sieht man sich unter den heutigen Bedingungen an die Hamburger
Lessing-Rede »Hannah
Arendts (1906-1975) erinnert, in der sie die folgende Aussage
Nathans (II,5
V 1310ff.) zurückgewiesen hat: "Sind Christ und Jude eher Christ und Jude,/ Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch/ Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch/ Zu heißen!". »Philipp
Reemtsma (geb. 1952) hat in seiner »Dankrede
zum Lessing-Preis unter dem Titel "Nathan schweigt" im Jahr 1997
daraus wie folgt zitiert und dann seine Ausführungen selbst daran
angeknüpft: "Sie dürfe, schreibt Arendt, »in diesem Zusammenhange nicht
verschweigen«, daß sie »eine Haltung, die im Sinne des Nathan auf die
Aufforderung: ,Tritt näher, Jude!' mit einem: ,Ich bin ein Mensch«"
antworte, »für ein groteskes und gefährliches Ausweichen vor der
Wirklichkeit gehalten« hätte." Wer wie Nathan argumentiere, so Reemtsma,
der habe "politisch bereits verloren", weil er sich nicht auf sein Recht
berufe, sondern sich nur der "willkürlichen Zuneigung" des jeweils
anderen ausliefere. (ebd.)
Und "wer heute einen »Nathan« schriebe", so Reemtsma weiter, "könnte die
Morde von Gath nicht in Schweigen gehüllt stehenlassen. Er müsste
mit seiner Hauptfigur brechen, könnte, dürfte sich ihrer Diskretion
nicht fügen. Manches lässt sich noch lange lesen, aber so nicht mehr
schreiben." Ein Fingerzeig im Übrigen, den nicht nur heutige
Inszenierungen berücksichtigen sollten, sondern der vor allem auch in
die Behandlung der "abgeklapperten Schullektüre" eingehen sollte, um das
große Anschlusspotential zu nutzen, welches der "Nathan" entgegen aller
"Dennochs und Trotzdems" seiner Kritiker als ein Modell für
Religionskonflikte oder von Konflikten hat, die in hohem Grade religiös
überformt sind. (vgl.
Kuschel 2011,
S.19, vgl.
Pohlmeyer 2007, S.3ff.) Eine Roadmap für den Weltfrieden oder ein
Leitfaden zum persönlichen Glück ist, kann und will Lessings "Nathan"
ohnehin nicht sein.
Nicht immer wurde der Nathan so verstanden
Dabei sind die
Botschaften, die Zuschauer, Leser, Kritiker und Wissenschaftler
Lessings Drama "Nathan der Weise"
entnommen haben, über die Jahrhunderte hinweg betrachtet, durchaus immer
wieder umstritten gewesen. Was man aus dem Stück herauslesen wollte, was man zu verschiedenen
Zeiten darunter verstand, lag oft im Schnittpunkt unterschiedlichster
politischer und gesellschaftlicher Interessen. Ja, schon Lessing selbst sah
mit seinem Stück eine Möglichkeit, in den theologisch-politischen
Auseinandersetzungen seiner Zeit auch dem gegen ihn verhängten
Schreibverbot zum Trotz weiter Farbe zu bekennen und, zumindest ein
Stück weit, Rechnungen mit seinem Hauptwidersacher, dem Hamburger
Hauptpastor Goeze, auf der Bühne des Theaters zu begleichen. (→Gert Egle (2014): Der
Fragmentenstreit - Die Kontroverse Lessings mit Goeze)
Nachdem im Nationalsozialismus
Lessings Drama "Nathan der Weise" wegen
Nathans jüdischem Bekenntnis und wegen seiner pazifistischen
Grundhaltung von den Bühnen verbannt worden war, wollten einige deutsche
Theater nach dem Ende des Krieges offenbar das entgegengesetzte Zeichen
setzen und nahmen ihren Betrieb mit dem Stück Lessings wieder auf. Der
"Nathan" wurde dabei zu einem fast unverzichtbaren Bestandteil der
Bewältigungskultur gegenüber NS-Regime und Holocaust in der
Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Dabei
hat man, wie
Koebner (1987, S.141) bemerkt, "vor allem das Edelmütige und
Jüdische der Hauptfigur hervorgehoben, ihre geistreich-menschenkluge
Weisheit und Herzenswärme", während die andere Seite des Dramas, sein "polemische(r)
Charakter und die Tiefendimension der Konflikte" mehr und mehr aus
dem Blickfeld gerückt seien. (ebd.)
Doch mit einem Schlag standen der Welt diese Tiefendimensionen wieder
vor Augen. Schon bald nach dem »11. September 2001 ("Nine Eleven"), als
die Türme des »World Trade Centers ins Schutt und Asche zerfielen und ca.
6.000 Menschen in »New
York und »Washington dem Terror von
»al-Qaida zum Opfer fielen, war Lessings Drama
en vogue, wenn auch längst nicht bei allen. Selbst in New York wurde
"Nathan the Wise" als Reaktion auf den 11. September aufgeführt und
in Deutschland kam das Stück 2001 in 24 verschiedenen Inszenierungen auf
die Bühne, ohne dass alle diese Aufführungen als unmittelbare Reaktion
auf die Ereignisse in New York und Washington zustande kamen. Immerhin
gewannen alle Aufführungen so eine ungeheure Aktualität, die auch dazu führte, dass das
Stück in einzelnen Fällen spontan auf die Bühne gelangte. (vgl.
Kuschel
2011, S.15)
In Berlin wurde das Stück sogar aus dem gegebenen Anlass heraus in zwei
verschiedenen Inszenierungen zur Aufführung gebracht. Im »Deutschen
Theater wurde die Inszenierung von »Friedo
Solter (geb. 1932) aus dem Jahr 1987 - er hatte das Stück schon 1966
einmal inszeniert - auf die Bühne gebracht. »Claus
Peymann (geb. 1937), der 1981 schon einmal am
»Schauspielhaus
Bochum bei diesem Stück Regie führte1, inszenierte auf der Bühne des »Berliner
Ensembles
einen im Vergleich zu Solter gänzlich anderen "Nathan". Seine Aufführung
stellte "bewusst den religiösen Fundamentalismus zur Diskussion" und
bediente "das Klischee vom Mephistophelisch-Bösen in roter Robe und
weißer Gesichtsmaske [...], was einem das kritische Mitdenken von
vornherein abnimmt", wie Ekkehart Krippendorff in seiner Kritik der
Inszenierung am 11.01.20022
bemerkt. Und auch die Kritikerin der Taz (= Die Tagezeitung),
Esther Sievogt, sieht in der Inszenierung Peymanns Elemente, die "zum Ausdruck
bringen, dass Lessings Toleranz-Traum abgewirtschaftet hat." So fielen
sich die Beteiligten in der Schlussszene in die Arme und ließen Nathan
allein auf der Bühne zurück. Dann schließe sich der Vorhang, um kurz
danach noch einmal für eine leere Bühne zu öffnen: "Aus
leuchtenden Schächten steigt Rauch auf und verbreitet einen Hauch
von »Ground-Zero-Atmosphäre."3
Die Inszenierung von »Claus
Peymann (geb. 1937) mit dem »Berliner
Ensemble, stand, wie der Regisseur 2003
im Deutschlandradio4
erklärte, "unter dem Eindruck dieser im September 2001 jählings
ausgebrochenen Finsternis." Und: "Es wird von Kreuzrittern gesprochen,
von Revanche, von Rache, vom Kampf gegen das Böse, und da schien mir
diese bedeutende Stimme der Vernunft aus dem brodelnden Topf der
deutschen Klassik gerade die richtige Antwort." Aber nicht allen
Zuschauern leuchtete offenbar ein, wie Peymann mit dem "Nathan" und den
angeblich aktuellen Bezügen umging. So kann Katharina Finke in ihrer
Kritik unter dem bezeichnenden Titel "Im Nathan nichts Neues"5
ihre Enttäuschung darüber nicht verhehlen, dass ein "Nathan, der eine
Antwort auf ein aktuelles Ereignis sein soll, [...] mit dem Hier und
Jetzt absolut nichts zu tun hat. Aus der Angst heraus 'Stücke nicht
zerstören zu wollen' ist hier eine Nathan-Inszenierung entstanden, auf
die man gut verzichten kann. Von einem Nathan im Jahre 2010 oder auch
2001, erwarte ich eine direkte Auseinandersetzung mit den aktuellen
Ereignissen und eine Reflektion darüber, wie man Nathan in [sic!]
tatsächlich in die Welt des 21. Jahrhunderts übersetzen kann. Das
erledigt der Heiner Müller-Text6,
der als Epilog
eingefügt wird, alleine nicht."
Lessings "Nathan" gehört heute zum Repertoire des seit 1999 von Claus
Peymann geleiteten »Theaters
am Schiffbauerdamm, wo er seinen "Nathan" auch im Jahr 2014
wieder mit dem traditionsreichen »Berliner
Ensemble auf die Bühne gebracht hat.7
Der Spurensuche nach aktuellen Bezügen und der oft etwas
leichtfertigen Indienstnahme des "Nathan" für politische bzw.
ideologische Aussagen zum Trotz ist das "Ideendrama mit unverkennbar lehrhafter Absicht"
allerdings auch
ein poetischer Text. (Nisbet
2008, S.796) Und so "trocken" manchem die Botschaft des "Nathan" auch
erscheinen mag, in diesem Drama wird das Problem der religiösen Wahrheit
mit ästhetischen und nicht nur mit rationalen Mitteln thematisiert.
Und es lohnt sich daher auch, sein Augenmerk auf die besondere
ästhetische Qualität des Textes zu richten. Aber: Das ist ein anderes
Thema.
Worterläuterungen / Hinweise / Kommentar
1 In
der Bochumer Inszenierung musste Nathan um sein Leben reden. Zudem wurde
gezeigt, wie einsam er bleibt, (vgl.
Kröger 1991/1998, S.9); Peymann selbst äußerte sich wie folgt zu der
Inszenierung: "Ich meine das Schreckliche an dieser raffinierten,
glänzenden Konstruktion ist die glatte Lösung. Sie ist langweilig wie im
Kriminalroman, und das ist auch das Problem des Stückes. Also haben wir
einen Schluss gemacht, der nicht aufgeht. Nathan steht am Ufer, die
Eisscholle mit allen anderen treibt aufs Meer hinaus. Saladin und Sittah
haben ihm die Tochter genommen und ihn vergessen. Es hat dann auch
nichts mehr zu sagen." (in:
Dessau (1986), S.131f., zit. n.
Kröger 1991/1998, S.128f.), vgl. dazu u. a. auch:
Urs Jenny, Bescherung in Jerusalem, in: Der Spiegel 12/1981
2 Ekkehart
Krippendorff, Angst vor dem Pathos der Aufklärung: Der aktuelle Griff
zum Klassiker, Freitag, 11.01.2001, online verfügbar unter:
http://www.lustaufkultur.de/kulturkalender/veranstaltungen/presse/Nathan-der-Weise-9514.html,
9.8.2014 3
Esther Sievogt,
Der Traum ist aus, in: Die Tageszeitung, 07.01.2002, online verfügbar
unter: http://www.lustaufkultur.de/kulturkalender/veranstaltungen/presse/Nathan-der-Weise-9514.html,
9.8.2014 4
vgl. Anm. 1
5
Im Nathan nichts Neues. Ein Nutzerbeitrag von Katharina Finke, in: der Freitag.Kultur, v. 8.2.2010, online verfügbar unter:
http://www.freitag.de/autoren/katharinafinke/im-nathan-nichts-neues,
9.8.14 6
Als
Epilog wurde in
Peymanns Inszenierung aus »Heiner
Müllers (1929-1995)
Triptychon
"Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei"
(Uraufführung 1979 in Frankfurt a. M.) "Lessings. Schlaf Traum Schrei"
angefügt. Darin wird von einem Schauspieler u. a. vorgetragen: "Mein
Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich bin 47 Jahre alt. Ich habe
ein/zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war, einen
Traum vom Theater in Deutschland geträumt und öffentlich über Dinge
nachgedacht. die mich nicht interessierten. Das ist nun vorbei. Gestern
habe ich auf meiner Haut einen toten Fleck gesehen, ein Stück Wüste: das
Sterben beginnt. Beziehungsweise: es wird schneller- Übrigens bin ich
damit einverstanden. Ein Leben ist genug. Ich habe ein neues Zeitalter
nach dem anderen heraufkommen sehn, aus allen Poren Blut Kot Schweiß
triefend jedes. Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel." In
dieser letzten Szene eines Stückes, das sich "durch eine äußerst
komplexe Struktur und eine enorme Pluralität von Intertexten und
Kodizes, die sich vom Surrealismus, den Traum-Elementen und dem
grotesken Theater herleiten" (Kim
2000, S.205) auszeichnet. Dies zeigt sich u. a. darin, dass Lessing
darin dem letzten amerikanischen Präsidenten auf dem Autofriedhof in
Dakota begegnet und damit auf einen "Repräsentanten der materiellen
Zivilisation der Moderne" trifft. (ebd.,
S.209) 7
Auf der Webseite des Berliner Ensembles findet sich dazu folgende
Äußerung von Claus Peymann, die die Intentionen seiner
2014er-Inszenierung beinhaltet: "Das Stück handelt von einem Juden, der
seinen persönlichen Holocaust erlebt. Seine sieben Söhne sterben,
verbrennen in einem Pogrom. Und dieser Nathan übt keine Vergeltung,
keine Rache, sondern die Vernunft kehrt wieder. Und über die Vernunft
das Vergeben. Und das ist die Botschaft, die dieses helle Stück in
dunkler Zeit vermitteln kann. Ich denke, das muss man heute postulieren,
das muss man heute predigen, damit es alle Ohren hören." Und der
Kritiker der Herner Zeitung schreibt zur Inszenierung: "Peymann
überzeichnet die Figuren ganz bewusst, setzt auf komödiantische Elemente
– und sorgt mit seiner Inszenierung für ein bitteres Lachen der
Erkenntnis, ganz im Sinne des aufklärerischen Theaters."
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Weiterführende Links:
* »Geschichte
des Nahostfriedensprozesses auf der Webseite des »Auswärtigen
Amtes
Gert Egle (2014), zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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