▪
Gesamttext (Recherche-/Leseversion
ZWEITER AUFZUG
FÜNFTER AUFTRITT
Nathan und bald darauf der Tempelherr.
NATHAN. Fast scheu ich
mich des Sonderlings.1 Fast macht Mich seine rauhe Tugend stutzen. Dass Ein Mensch doch einen Menschen so verlegen Soll machen können! - Ha! er kömmt. - Bei Gott! Ein Jüngling wie ein Mann. Ich
mag ihn wohl Den guten, trotz'gen Blick!
den prallen Gang!2 Die
Schale kann nur bitter sein: der Kern Ist's sicher nicht. - Wo sah ich doch dergleichen? - Verzeihet, edler Franke . . . TEMPELHERR.
Was? NATHAN.
Erlaubt . . . TEMPELHERR. Was, Jude? was? 1200 NATHAN.
Dass ich mich untersteh, Euch anzureden. TEMPELHERR. Kann ich's wehren? Doch Nur kurz. NATHAN.
Verzieht3, und eilet nicht so stolz, Nicht so verächtlich einem Mann vorüber, Den Ihr auf ewig Euch verbunden habt. TEMPELHERR. Wie das? - Ah, fast errat ich's. Nicht? Ihr seid . . . NATHAN. Ich heiße Nathan; bin des Mädchens Vater, Das Eure Großmut aus dem Feu'r gerettet;
Und komme . . . TEMPELHERR. Wenn zu danken: - spart's! Ich hab Um diese Kleinigkeit des Dankes schon Zu viel erdulden müssen. - Vollends Ihr, 1210 Ihr seid mir gar nichts schuldig. Wusst' ich denn, Dass dieses Mädchen Eure Tochter war?
Es ist der Tempelherren Pflicht, dem ersten Dem besten beizuspringen4, dessen Not Sie sehn. Mein Leben war mir ohnedem In diesem Augenblicke lästig. Gern, Sehr gern ergriff ich die Gelegenheit, Es für ein andres Leben
in die Schanze Zu schlagen5: für ein andres -
wenn's
auch nur Das Leben einer Jüdin wäre. NATHAN.
Groß! 1220 Groß und abscheulich! - Doch die Wendung lässt Sich denken.
Die
bescheidne Größe flüchtet Sich hinter das Abscheuliche, um der Bewundrung auszuweichen. - Aber wenn Sie so das Opfer der Bewunderung Verschmäht: was für ein Opfer denn verschmäht Sie minder? - Ritter, wenn Ihr hier nicht fremd Und nicht gefangen wäret, würd' ich Euch So dreist nicht fragen. Sagt, befehlt: womit Kann man Euch dienen? TEMPELHERR.
Ihr? Mit nichts. NATHAN.
Ich bin 1230 Ein reicher Mann. TEMPELHERR. Der reichre Jude war Mir nie der beßre Jude. NATHAN.
Dürft Ihr denn Darum nicht nützen, was demungeachtet Er Bessres hat? nicht seinen Reichtum nützen? TEMPELHERR. Nun gut, das will ich auch nicht ganz
verreden6; Um meines Mantels willen nicht. Sobald Der ganz und gar verschlissen; weder
Stich7 Noch
Fetze8 länger halten will: komm ich Und borge mir bei Euch zu einem neuen, Tuch oder Geld. -
Seht
nicht mit eins so finster!9 1240 Noch seid Ihr sicher; noch ist's nicht so weit Mit ihm. Ihr seht; er ist so ziemlich noch Im Stande. Nur der eine
Zipfel10 da Hat einen
garst'gen11 Fleck;
er ist versengt.12 Und das bekam er, als ich Eure Tochter Durchs Feuer trug. NATHAN
(der nach dem Zipfel greift und ihn be- trachtet). Es ist doch sonderbar, Dass so ein böser Fleck, dass so ein
Brandmal13 Dem Mann ein bessres Zeugnis redet, als Sein eigner Mund.
Ich
möcht' ihn küssen gleich - Den Flecken! - Ah, verzeiht! - Ich tat es ungern. 1250 TEMPELHERR. Was? NATHAN.
Eine Träne fiel darauf. TEMPELHERR.
Tut nichts! Er hat der Tropfen mehr. - (Bald
aber fängt Mich dieser Jud' an zu verwirren.)14 NATHAN.
Wärt Ihr wohl so gut, und schicktet Euern Mantel Auch einmal meinem Mädchen? TEMPELHERR.
Was damit? NATHAN. Auch ihren Mund an diesen Fleck zu drücken. Denn Eure Knie selber zu umfassen, Wünscht sie nun wohl vergebens. TEMPELHERR.
Aber, Jude - Ihr heißet Nathan?
- Aber,
Nathan - Ihr Setzt Eure Worte sehr - sehr gut - sehr
spitz15 - 1260
Ich bin betreten16- Allerdings
- ich hätte . . . NATHAN. Stellt und verstellt Euch, wie Ihr wollt.
Ich find Auch hier Euch aus17. Ihr wart zu gut, zu
bieder18, Um höflicher zu sein. - Das Mädchen, ganz Gefühl; der weibliche Gesandte, ganz Dienstfertigkeit; der Vater weit entfernt - Ihr trugt für ihren guten Namen Sorge;
Floht ihre Prüfung19; floht, um nicht zu siegen. Auch dafür dank ich Euch - TEMPELHERR.
Ich muss gestehn,
Ihr wisst, wie Tempelherren denken sollten.20 1270 NATHAN. Nur Tempelherren? sollten bloß? und bloß Weil es die Ordensregeln so gebieten?
Ich
weiß, wie gute Menschen denken; weiß, Dass
alle Länder gute Menschen tragen. TEMPELHERR. Mit Unterschied, doch hoffentlich? NATHAN. Jawohl; An Farb', an Kleidung, an Gestalt verschieden. TEMPELHERR. Auch hier bald mehr, bald weniger, als dort. NATHAN. Mit diesem Unterschied ist's nicht weit her. Der große Mann braucht überall viel Boden; Und mehrere, zu nah gepflanzt, zerschlagen 1280 Sich nur die Äste. Mittelgut, wie wir, Find't sich hingegen überall in Menge. Nur muss der eine nicht den andern mäkeln.21 Nur muss
der Knorr den Knuppen hübsch vertragen22. Nur muss ein
Gipfelchen23 sich
nicht vermessen24, Dass es allein der Erde
nicht entschossen.25 TEMPELHERR. Sehr wohl gesagt! - Doch kennt Ihr auch das Volk, Das diese
Menschenmäkelei26 zuerst Getrieben? Wisst Ihr, Nathan,
welches Volk Zuerst das auserwählte Volk sich nannte?27 1290 Wie? wenn ich dieses Volk nun, zwar nicht hasste, Doch wegen seines Stolzes zu verachten, Mich
nicht entbrechen28 könnte? Seines Stolzes; Den es auf Christ und
Muselmann29 vererbte, Nur sein Gott sei der rechte Gott! -
Ihr stutzt,30 Dass ich, ein Christ, ein Tempelherr, so rede? Wenn hat, und wo
die fromme Raserei
31, Den bessern Gott zu haben, diesen bessern Der ganzen Welt als besten aufzudringen, In ihrer schwärzesten Gestalt sich mehr 1300 Gezeigt, als hier, als itzt? Wem hier, wem itzt
Die Schuppen nicht vom Auge fallen32 . . . Doch Sei blind, wer will! - Vergesst, was ich gesagt; Und lasst mich!
(Will gehen.) NATHAN. Ha! Ihr wisst
nicht, wie viel fester Ich nun mich an Euch drängen werde. - Kommt,
Wir müssen, müssen Freunde sein! - Verachtet Mein Volk so sehr Ihr wollt.
Wir haben beide Uns unser Volk nicht auserlesen.
Sind Wir unser Volk? Was heißt denn Volk?
Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, 1310 Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es
gnügt, ein Mensch Zu heißen! TEMPELHERR.
Ja, bei Gott, das habt Ihr, Nathan! Das habt Ihr! -
Eure Hand!33 - Ich schäme mich, Euch einen Augenblick verkannt zu haben. NATHAN. Und ich bin stolz darauf. Nur das
Gemeine34 Verkennt man selten. TEMPELHERR. Und das Seltene Vergisst man schwerlich. -
Nathan, ja; Wir müssen, müssen Freunde werden. NATHAN.
Sind Es schon. - Wie wird sich meine Recha freuen! - 1320 Und ah! welch eine heitre Ferne schließt Sich meinen Blicken auf! -
Kennt sie nur erst.35 TEMPELHERR.
Ich brenne vor Verlangen36. -
Wer stürzt dort Aus Euerm Hause?37 Ist's nicht ihre Daja? NATHAN. Jawohl. So ängstlich? TEMPELHERR.
Unsrer Recha38 ist Doch
nichts begegnet39?
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
scheue ich mich vor dem Sonderling, weiche ich zurück, möchte ich
meiden, möchte ich aus dem Weg gehen
2
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext); praller Gang = aufrecht selbstbewusster,
kraftvoll dynamischer Gang 3
Verweilt, bleibt, wartet doch
4
dem Erstbesten, dem Nächsten zu helfen; zu den christlichen Geboten,
denen die Tempelherren zu folgen hatten, zählte insbesondere die »christliche
Nächstenliebe, die den einzelnen »Ordensregeln
der Tempelritter übergeordnet war;
5
Redensart,
h: aufs Spiel setzen, abgleitet von altfrz. "cheance" = Spieleinsatz,
Glückwurf 6
darauf will ich nicht schwören, will ich mich nicht festlegen,
7
Naht, Synekdoche von Nadelstich
8
abwertend für Stoff(fetzen) = Stoffteile, Lappen, Lumpen
9
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
10
spitz oder schmal zulaufendes Ende eines Tuchs oder Kleidungsstücks oder
eines Kissens, Saums 11
garstigen = äußerst unfreundlichen, widerwilligen
12
Das→Motiv des
(Ver-)Brennens taucht an anderen Stellen des Dramas immer wieder
auf,
vgl. I,2 V 177,
I,6 V 773, - vgl. Anmerkung (1)
zu I,1 V 13 ,
I,2 V 177,
IV,7: "Verbrennen"
der Familie Nathans beim Judenpogrom in Gath 18 Jahre vor Einsetzen der
dramatischen Handlung (→Vorgeschichte),
13
Motiv des Verbrennens. s. o.
14
ad
spectatores; 15 sehr
treffsicher, ohne darum herumzureden, auf den Punkt kommend,
16
verlegen, ist mir peinlich
17
ich durchschaue euch 18
anständig, rechtschaffen
19
ihr habt ihr die Versuchung erspart, die von euch als Retter für sie
ausgegangen wäre
20
Verweis auf die »Ordensregeln
der Tempelritter 21
kleinlich tadeln, herumnörgeln
22
Redensart/Sprichwort:
h: einer muss des anderen Fehler dulden, Knorr = Ast, Knoten, Knuppen:
Klotz, Geschwür, Geschwulst
23
(Baum-)Wipfel, Baumspitze
24
sich überschätzen, sich überheben
25
der Natur entwachsend, aus dem Boden der Natur herauswachsen
26
kleinliches Schlechtmachen, Herumnörgeln an Menschen
27
Nach jüdischer Auffassung wurden die »Israeliten
von Gott zu seinem Volk erwählt und mit ihm ein Bund geschlossen
28
mich nicht enthalten könnte, nicht vermeiden könnte
29 veraltete, ins Deutsche übernommene Bezeichnung für
Moslem/Muslim 30
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
31
religiöser Fundamentalismus, übersteigerte, fast wahnhafte Überzeugung
32
Redensart:
h: plötzlich zur Erkenntnis gelangen; früher wurden bestimmte
Augenkrankheiten mit Schuppen verglichen, die die Augen bedecken.
33
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
34
das Übliche, Gewöhnliche, Herkömmliche
35
Bei seiner Begegnung mit Recha (III,
V 1674) zitiert der Tempelherr in seiner Gemütsverwirrung diese
Worte 36
Das→Motiv des
(Ver-)Brennens taucht an anderen Stellen des Dramas immer wieder
auf,
vgl. I,2 V 177,
I,6 V 773, - vgl. Anmerkung (1)
zu I,1 V 13 ,
I,2 V 177,
IV,7:
zugleich erster Hinweis auf erotische Anziehung Rechas auf den
Tempelherrn, der nach den »Ordensregeln
der Tempelritter zu sexueller Enthaltsamkeit (»Keuschheit)
verpflichtet ist.
37
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
38 Der
Tempelherr erhebt damit auch einen Besitzanspruch auf Recha und
signalisiert zugleich Übereinstimmung mit Nathan in dieser Frage.
39
nichts (Schlimmes) passiert;
Textauswahl
▪
Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
|