Das kurze Prosastück • "Der
Geier" von • Franz Kafka ist im Jahre 1917
entstanden, kurz nachdem sich der Autor von
Milena Jesenska getrennt und
seine Tuberkuloseerkrankung diagnostiziert worden ist. Der Titel der
Erzählung ist nachträglich von Max Brod hinzugefügt.
• "Der
Geier" wurde wie fünf weitere bis dahin nicht veröffentlichte
Prosastücke (Poseidon, Der Kreisel, Die Prüfung, Gemeinschaft) in die erste
mehrbändige Werkausgabe des Autors übernommen. Damit bekam ein breiteres
Publikum, das Kafka bis dahin lediglich "als Autor expressionistisch
getönter Erzählungen und gescheiterter Romanprojekte" (Stach
2011/42015, S.532f.) kennen gelernt hatte, neue Seiten des
Autors zu Gesicht, die einen Erzähler präsentierten, der sich nicht mehr im
opulenten Erzählen zeitweilig verlor, sondern - wie in den Stücken des
Landarzt-Bandes - seine Vorliebe für abstraktere Formen zeigte. Mit diesen
parabolischen Texten gelang es ihm, in metaphorischer Zuspitzung
philosophische Probleme darzustellen und dafür vor allem das Paradoxon
einzusetzen, "dem er ganz neue Effekte abgewann." (ebd.)
Bis dahin hatte Kafka seine Kritiker besonders mit seiner sprachlichen
Perfektion beeindruckt, was ihm auch die zugestanden, die mit seinen "phantastische(n)
Zumutungen" (ebd.)
wenig anfangen konnten. Die "neuen" Prosastücke, zu denen auch • "Der
Geier" zählte, gaben eben "vor allem deshalb zu denken, weil sie zum
Denken explizit und unwiderstehlich aufforderten." (ebd.)
Nach Wiebrecht
Ries (2014)
lebt Kafka "sadomasochistische Folterphantasien" aus, wie er sie u. a. auch
in einem Brief an Max Brod vom 3.4.1913 geäußert hat. Darin heißt es:
"Vorstellungen wie z. B. die, daß ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie
ein Braten zerschnitten bin und ein solches Fleischstück langsam mit der
Hand einem Hund in der Ecke zuschiebe – solche Vorstellungen sind die
tägliche Nahrung meines Kopfes." (zit. n. Ries 2014, S. 168)
in • "Der
Geier" in diesem "steigert", so .. , "die Zwangsvorstellung
einer lustvollen Vereinigung mit der Zerstörungsgewalt einer schrecklichen
Vogelfigur ins unerträglich Grausame." Dabei vereine das Ende der Erzählung
den Schock eines plötzlichen Erkenntnisdurchbruchs mit der Lust am
Untergang, der paradoxen Tötung des Todes. Als Todesfantasie verrate "die
orale Penetration durch einen 'Speerschnabel' eine sexuell getönte Lust am
Vernichtetwerden in einem See von Blut." (S.163) Auf diese Weise dringe er
zu den tiefsten und fremdesten Schichten der menschlichen Seele vor.
Immer wieder wurde in der
Forschung die Nähe der Werke Kafkas zu Träumen betont und seine Dichtung als
eine Art Traumdichtung bezeichnet. Michael Müller in seiner "Vorbemerkung"
zu Franz Kafka Träume (1993) betont, dass die Sogkraft von Kafkas Werken auf
dem Effekt beruht, Traumhaftes mit realistischen Mitteln zu erzählen und
dabei einer "Traumlogik" folgen, die auf Bildern beruht, die als
"Halbschafphantasien", ehe sie in Vergessenheit geraten, in literarische
Formen einer realistischen Darstellungsweise übersetzt werden. Daher ist
Kafkas Kunst der "phantastischen Abstraktion" (Walter H. Sokel) auch als
Traumkunst zu verstehen. (vgl. S.166) "In ihr gewinnen seelische Instanzen
als die Kristallisation einer psychischen Dynamik eine visuelle Dichte der
Darstellung, die nicht über sich hinausweist, sondern ist, was sie
repräsentiert." (S.167)
Traumanaloges Dichten
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.10.2024