Die
chinesische Mauer ist an ihrer nördlichsten Stelle beendet worden. Von
Südosten und Südwesten wurde der Bau herangeführt und hier vereinigt.
Dieses System des Teilbaues wurde auch im Kleinen innerhalb der zwei
großen Arbeitsheere, des Ost- und des Westheeres, befolgt. Es geschah
das so, daß Gruppen von etwa zwanzig Arbeitern gebildet wurden, welche
eine Teilmauer von etwa fünfhundert Meter Länge aufzuführen hatten, eine
Nachbargruppe baute ihnen dann eine Mauer von gleicher Länge entgegen.
Nachdem dann aber die Vereinigung vollzogen war, wurde nicht etwa der
Bau am Ende dieser tausend Meter wieder fortgesetzt, vielmehr wurden die
Arbeitergruppen wieder in ganz andere Gegenden zum Mauerbau verschickt.
Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach
und nach langsam ausgefüllt wurden, manche sogar erst, nachdem der
Mauerbau schon als vollendet verkündigt worden war. Ja, es soll Lücken
geben, die überhaupt nicht verbaut worden sind, eine Behauptung
allerdings, die möglicherweise nur zu den vielen Legenden [10] gehört,
die um den Bau entstanden sind, und die, für den einzelnen Menschen
wenigstens, mit eignen Augen und eignem Maßstab infolge der Ausdehnung
des Baues unnachprüfbar sind.
Nun
würde man von vornherein glauben, es wäre in jedem Sinne vorteilhafter
gewesen, zusammenhängend zu bauen oder wenigstens zusammenhängend
innerhalb der zwei Hauptteile.
Die Mauer war doch, wie allgemein
verbreitet wird und bekannt ist, zum Schutze gegen die Nordvölker
gedacht. Wie kann aber eine Mauer schützen, die nicht zusammenhängend
gebaut ist. Ja, eine solche Mauer kann nicht nur nicht schützen, der Bau
selbst ist in fortwährender Gefahr. Diese in öder Gegend verlassen
stehenden Mauerteile können immer wieder leicht von den Nomaden zerstört
werden, zumal diese damals, geängstigt durch den Mauerbau, mit
unbegreiflicher Schnelligkeit wie Heuschrecken ihre Wohnsitze wechselten
und deshalb vielleicht einen besseren Überblick über die Baufortschritte
hatten als selbst wir, die Erbauer. Trotzdem konnte der Bau wohl nicht
anders ausgeführt werden als es geschehen ist. Um das zu verstehen, muß
man folgendes bedenken:
Die Mauer sollte zum Schutz für die Jahrhunderte
werden; sorgfältigster Bau, Benutzung der Bauweisheit aller bekannten
Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der
Bauenden waren deshalb unumgängliche Voraussetzung für die Arbeit. Zu
den niederen Arbeiten konnten zwar unwissende Taglöhner aus dem Volke,
Männer, [11] Frauen, Kinder, wer sich für gutes Geld anbot, verwendet
werden; aber schon zur Leitung von vier Taglöhnern war ein verständiger,
im Baufach gebildeter Mann nötig; ein Mann, der imstande war, bis in die
Tiefe des Herzens mitzufühlen, um was es hier ging. Und je höher die
Leistung, desto größer die Anforderungen. Und solche Männer standen
tatsächlich zur Verfügung, wenn auch nicht in jener Menge, wie sie
dieser Bau hätte verbrauchen können, so doch in großer Zahl.
Man
war nicht leichtsinnig an das Werk herangegangen. Fünfzig Jahre vor
Beginn des Baues hatte man im ganzen China, das ummauert werden sollte,
die Baukunst, insbesondere das Maurerhandwerk, zur wichtigsten
Wissenschaft erklärt und alles andere nur anerkannt, soweit es damit in
Beziehung stand.
Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie wir als kleine
Kinder, kaum unserer Beine sicher, im Gärtchen unseres Lehrers standen,
aus Kieselsteinen eine Art Mauer bauen mußten, wie der Lehrer den Rock
schürzte, gegen die Mauer rannte, natürlich alles zusammenwarf, und uns
wegen der Schwäche unseres Baues solche Vorwürfe machte, daß wir heulend
uns nach allen Seiten zu unseren Eltern verliefen.
Ein winziger Vorfall,
aber bezeichnend für den Geist der Zeit.
Ich
hatte das Glück, daß, als ich mit zwanzig Jahren die oberste Prüfung der
untersten Schule abgelegt hatte, der Bau der Mauer gerade begann. Ich
sage Glück, denn viele, die früher die oberste Höhe der ihnen
zugänglichen Ausbildung erreicht hatten, wußten [12] jahrelang mit ihrem
Wissen nichts anzufangen, trieben sich, im Kopf die großartigsten
Baupläne, nutzlos herum und verlotterten in Mengen. Aber diejenigen, die
endlich als Bauführer, sei es auch untersten Ranges, zum Bau kamen,
waren dessen tatsächlich würdig. Es waren Maurer, die viel über den Bau
nachgedacht hatten und nicht aufhörten, darüber nachzudenken, die sich
mit dem ersten Stein, den sie in den Boden einsenken ließen, dem Bau
verwachsen fühlten. Solche Maurer trieb aber natürlich, neben der
Begierde, gründlichste Arbeit zu leisten, auch die Ungeduld, den Bau in
seiner Vollkommenheit endlich erstehen zu sehen. Der Taglöhner kennt
diese Ungeduld nicht, den treibt nur der Lohn, auch die oberen Führer,
ja selbst die mittleren Führer sehen von dem vielseitigen Wachsen des
Baues genug, um sich im Geiste dadurch kräftig zu halten. Aber für die
unteren, geistig weit über ihrer äußerlich kleinen Aufgabe stehenden
Männer, mußte anders vorgesorgt werden. Man konnte sie nicht z. B. in
einer unbewohnten Gebirgsgegend, hunderte Meilen von ihrer Heimat,
Monate oder gar Jahre lang Mauerstein an Mauerstein fügen lassen; die
Hoffnungslosigkeit solcher fleißigen, aber selbst in einem langen
Menschenleben nicht zum Ziel führenden Arbeit hätte sie verzweifelt und
vor allem wertloser für die Arbeit gemacht. Deshalb wählte man das
System des Teilbaues. Fünfhundert Meter konnten etwa in fünf Jahren fertiggestellt werden, dann waren freilich die Führer in der Regel zu
erschöpft, hatten alles Vertrauen [13] zu sich, zum Bau, zur Welt
verloren. Drum wurden sie dann, während sie noch im Hochgefühl des
Vereinigungsfestes der tausend Meter Mauer standen, weit, weit
verschickt, sahen auf der Reise hier und da fertige Mauerteile ragen,
kamen an Quartieren höherer Führer vorüber, die sie mit Ehrenzeichen
beschenkten, hörten den Jubel neuer Arbeitsheere, die aus der Tiefe der
Länder herbeiströmten, sahen Wälder niederlegen, die zum Mauergerüst
bestimmt waren, sahen Berge in Mauersteine zerhämmern, hörten auf den
heiligen Stätten Gesänge der Frommen Vollendung des Baues erflehen.
Alles dieses besänftigte ihre Ungeduld.
Das ruhige Leben der Heimat, in
der sie einige Zeit verbrachten, kräftigte sie, das Ansehen, in dem alle
Bauenden standen, die gläubige Demut, mit der ihre Berichte angehört
wurden, das Vertrauen, das der einfache, stille Bürger in die einstige
Vollendung der Mauer setzte, alles dies spannte die Saiten der Seele.
Wie ewig hoffende Kinder nahmen sie dann von der Heimat Abschied, die
Lust, wieder am Volkswerk zu arbeiten, wurde unbezwinglich. Sie reisten
früher von Hause fort als es nötig gewesen wäre, das halbe Dorf
begleitete sie lange Strecken weit. Auf allen Wegen Gruppen, Wimpel,
Fahnen, niemals hatten sie gesehen, wie groß und reich und schön und
liebenswert ihr Land war.
Jeder Landmann war ein Bruder, für den man
eine Schutzmauer baute, und der mit allem, was er hatte und war, sein
Leben lang dafür dankte.
Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen
des Volkes, Blut nicht mehr [14] eingesperrt im kärglichen Kreislauf des
Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche
China.
Dadurch also wird das System des Teilbaues verständlich; aber es hatte
doch wohl noch andere Gründe. Es ist auch keine Sonderbarkeit, daß ich
mich bei dieser Frage so lange aufhalte, es ist eine Kernfrage des
ganzen Mauerbaues, so unwesentlich sie zunächst scheint. Will ich den
Gedanken und die Erlebnisse jener Zeit vermitteln und begreiflich
machen, kann ich gerade dieser Frage nicht tief genug nachbohren.
Zunächst muß man sich doch wohl sagen,
daß damals Leistungen vollbracht
worden sind, die wenig hinter dem Turmbau von Babel zurückstehen, an
Gottgefälligkeit allerdings, wenigstens nach menschlicher Rechnung,
geradezu das Gegenteil jenes Baues darstellen. Ich erwähne dies, weil in
den Anfangszeiten des Baues ein Gelehrter ein Buch geschrieben hat, in
welchem er diese Vergleiche sehr genau zog. Er suchte darin zu beweisen, daß der Turmbau zu Babel keineswegs aus den allgemein behaupteten
Ursachen nicht zum Ziele geführt hat, oder daß wenigstens unter diesen
bekannten Ursachen sich nicht die allerersten befinden. Seine Beweise
bestanden nicht nur aus Schriften und Berichten, sondern er wollte auch
am Orte selbst Untersuchungen angestellt und dabei gefunden haben, daß
der Bau an der Schwäche des Fundamentes scheiterte und scheitern mußte.
In dieser Hinsicht allerdings war unsere Zeit jener längst vergangenen
weit überlegen. Fast jeder gebildete Zeitgenosse [15] war Maurer vom
Fach und in der Frage der Fundamentierung untrüglich. Dahin zielte aber
der Gelehrte gar nicht, sondern er behauptete, erst die große Mauer
werde zum erstenmal in der Menschenzeit ein sicheres Fundament für einen
neuen Babelturm schaffen. Also zuerst die Mauer und dann der Turm. Das
Buch war damals in aller Hände, aber ich gestehe ein, daß ich noch heute
nicht genau begreife, wie er sich diesen Turmbau dachte. Die Mauer, die
doch nicht einmal einen Kreis, sondern nur eine Art Viertel- oder
Halbkreis bildete, sollte das Fundament eines Turmes abgeben? Das konnte
doch nur in geistiger Hinsicht gemeint sein. Aber wozu dann die Mauer,
die doch etwas Tatsächliches war, Ergebnis der Mühe und des Lebens von
Hunderttausenden? Und wozu waren in dem Werk Pläne, allerdings
nebelhafte Pläne des Turmes gezeichnet und Vorschläge bis ins einzelne
gemacht, wie man die Volkskraft in dem kräftigen neuen Werk
zusammenfassen solle?
Es gab
— dieses Buch ist nur ein Beispiel — viel Verwirrung der Köpfe damals,
vielleicht gerade deshalb, weil sich so viele möglichst auf einen Zweck
hin zu sammeln suchten.
Das menschliche Wesen, leichtfertig in seinem
Grund, von der Natur des auffliegenden Staubes, verträgt keine
Fesselung; fesselt es sich selbst, wird es bald wahnsinnig an den
Fesseln zu rütteln anfangen und Mauer, Kette und sich selbst in alle
Himmelrichtungen zerreißen.
Es ist
möglich, daß auch diese, dem Mauerbau sogar gegensätzlichen Erwägungen
von der Führung [16] bei der Festsetzung des Teilbaues nicht
unberücksichtigt geblieben sind.
Wir — ich rede hier wohl im Namen
vieler — haben eigentlich erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der
obersten Führerschaft uns selbst kennengelernt und gefunden, daß ohne
die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand
für das kleine Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten,
ausgereicht hätte.
In der Stube der Führerschaft — wo sie war und wer
dort saß, weiß und wußte niemand, den ich fragte — in dieser Stube
kreisten wohl alle menschlichen Gedanken und Wünsche und in Gegenkreisen
alle menschlichen Ziele und Erfüllungen. Durch das Fenster aber fiel der
Abglanz der göttlichen Welten auf die Pläne zeichnenden Hände der
Führerschaft.
Und
deshalb will es dem unbestechlichen Betrachter nicht eingehen, daß die
Führerschaft, wenn sie es ernstlich gewollt hätte, nicht auch jene
Schwierigkeiten hätte überwinden können, die einem zusammenhängenden
Mauerbau entgegenstanden. Bleibt also nur die Folgerung, daß die
Führerschaft den Teilbau beabsichtigte.
Aber der Teilbau war nur ein
Notbehelf und unzweckmäßig. Bleibt die Folgerung, daß die Führerschaft
etwas Unzweckmäßiges wollte. — Sonderbare Folgerung! — Gewiß, und doch
hat sie auch von anderer Seite manche Berechtigung für sich. Heute kann
davon vielleicht ohne Gefahr gesprochen werden. Damals war es geheimer
Grundsatz Vieler, und sogar der Besten: Suche mit allen deinen Kräften
die Anordnungen der Führerschaft [17] zu verstehen, aber nur bis zu
einer bestimmten Grenze, dann höre mit dem Nachdenken auf. Ein sehr
vernünftiger Grundsatz, der übrigens noch eine weitere Auslegung in
einem später oft wiederholten Vergleich fand:
Nicht weil es dir schaden
könnte, höre mit dem weiteren Nachdenken auf, es ist auch gar nicht
sicher, daß es dir schaden wird. Man kann hier überhaupt weder von
Schaden noch Nichtschaden sprechen. Es wird dir geschehen wie dem Fluß
im Frühjahr. Er steigt, wird mächtiger, nährt kräftiger das Land an
seinen langen Ufern, behält sein eignes Wesen weiter ins Meer hinein und
wird dem Meere ebenbürtiger und willkommener. — So weit denke den
Anordnungen der Führerschaft nach. — Dann aber übersteigt der Fluß seine
Ufer, verliert Umrisse und Gestalt, verlangsamt seinen Abwärtslauf,
versucht gegen seine Bestimmung kleine Meere ins Binnenland zu bilden,
schädigt die Fluren, und kann sich doch für die Dauer in dieser
Ausbreitung nicht halten, sondern rinnt wieder in seine Ufer zusammen,
ja trocknet sogar in der folgenden heißen Jahreszeit kläglich aus. — So
weit denke den Anordnungen der Führerschaft nicht nach.
Nun
mag dieser Vergleich während des Mauerbaues außerordentlich treffend
gewesen sein, für meinen jetzigen Bericht hat er doch zum mindesten nur
beschränkte Geltung.
Meine Untersuchung ist doch nur eine historische;
aus den längst verflogenen Gewitterwolken zuckt kein Blitz mehr, und
ich
darf deshalb nach einer Erklärung des Teilbaues suchen, [18] die
weitergeht als das, womit man sich damals begnügte. Die Grenzen, die
meine Denkfähigkeit mir setzt, sind ja eng genug, das Gebiet aber, das
hier zu durchlaufen wäre, ist das Endlose.
Gegen
wen sollte die große Mauer schützen? Gegen die Nordvölker. Ich stamme
aus dem südöstlichen China. Kein Nordvolk kann uns dort bedrohen. Wir
lesen von ihnen in den Büchern der Alten, die Grausamkeiten, die sie
ihrer Natur gemäß begehen, machen uns aufseufzen in unserer friedlichen
Laube. Auf den wahrheitsgetreuen Bildern der Künstler sehen wir diese
Gesichter der Verdammnis, die aufgerissenen Mäuler, die mit hoch
zugespitzten Zähnen besteckten Kiefer, die verkniffenen Augen, die schon
nach dem Raub zu schielen scheinen, den das Maul zermalmen und zerreißen
wird. Sind die Kinder böse, halten wir ihnen diese Bilder hin und schon
fliegen sie weinend an unsern Hals. Aber
mehr wissen wir von diesen
Nordländern nicht. Gesehen haben wir sie nicht, und bleiben wir in
unserem Dorf, werden wir sie niemals sehen, selbst wenn sie auf ihren
wilden Pferden geradeaus zu uns hetzen und jagen,— zu groß ist das Land
und läßt sie nicht zu uns, in die leere Luft werden sie sich verrennen.
Warum
also, da es sich so verhält, verlassen wir die Heimat, den Fluß und die
Brücken, die Mutter und den Vater, das weinende Weib, die
lehrbedürftigen Kinder und ziehen weg zur Schule nach der fernen Stadt
und unsere Gedanken sind noch weiter bei der Mauer im Norden. Warum?
Frage die Führerschaft. Sie [19] kennt uns. Sie, die ungeheure Sorgen
wälzt, weiß von uns, kennt unser kleines Gewerbe, sieht uns alle
zusammensitzen in der niedrigen Hütte und das Gebet, das der Hausvater
am Abend im Kreise der Seinigen sagt, ist ihr wohlgefällig oder mißfällt
ihr. Und wenn ich mir einen solchen Gedanken über die Führerschaft
erlauben darf, so muß ich sagen,
meiner Meinung nach bestand die
Führerschaft schon früher, kam nicht zusammen, wie etwa hohe Mandarinen,
durch einen schönen Morgentraum angeregt, eiligst eine Sitzung
einberufen, eiligst beschließen, und schon am Abend die Bevölkerung aus
den Betten trommeln lassen, um die Beschlüsse auszuführen, sei es auch
nur um eine Illumination zu Ehren eines Gottes zu veranstalten, der sich
gestern den Herren günstig gezeigt hat, um sie morgen, kaum sind die
Lampions verlöscht, in einem dunkeln Winkel zu verprügeln.
Vielmehr
bestand die Führerschaft wohl seit jeher und der Beschluß des Mauerbaues
gleichfalls. Unschuldige Nordvölker, die glaubten, ihn verursacht zu
haben,
verehrungswürdiger, unschuldiger Kaiser, der glaubte, er hätte
ihn angeordnet. Wir vom Mauerbau wissen es anders und schweigen.
*
Ich habe mich, schon damals während des Mauerbaues und nachher bis
heute, fast ausschließlich mit vergleichender Völkergeschichte
beschäftigt — es gibt bestimmte Fragen, denen man nur mit diesem Mittel
gewissermaßen an den Nerv herankommt — [20] und
ich habe dabei gefunden, daß wir Chinesen gewisse volkliche und staatliche Einrichtungen in
einzigartiger Klarheit, andere wieder in einzigartiger Unklarheit
besitzen. Den Gründen, insbesondere der letzten Erscheinung,
nachzuspüren, hat mich immer gereizt, reizt mich noch immer, und auch
der Mauerbau ist von diesen Fragen wesentlich betroffen.
Nun
gehört zu unseren allerundeutlichsten Einrichtungen jedenfalls das
Kaisertum. In Peking natürlich, gar in der Hofgesellschaft, besteht
darüber einige Klarheit, wiewohl auch diese eher scheinbar als wirklich
ist. Auch die Lehrer des Staatsrechtes und der Geschichte an den hohen
Schulen geben vor, über diese Dinge genau unterrichtet zu sein und diese
Kenntnis den Studenten weiter vermitteln zu können. Je tiefer man zu den
unteren Schulen herabsteigt, desto mehr schwinden begreiflicherweise die
Zweifel am eigenen Wissen, und Halbbildung wogt bergehoch um wenige seit
Jahrhunderten eingerammte Lehrsätze, die zwar nichts an ewiger Wahrheit
verloren haben, aber in diesem Dunst und Nebel auch ewig unerkannt
bleiben.
Gerade
über das Kaisertum aber sollte man meiner Meinung nach das Volk
befragen, da doch das Kaisertum seine letzten Stützen dort hat. Hier
kann ich allerdings wieder nur von meiner Heimat sprechen.
Außer den
Feldgottheiten und ihrem das ganze Jahr so abwechslungsreich und schön
erfüllenden Dienst gilt unser Denken nur dem Kaiser.
Aber nicht dem
gegenwärtigen; oder vielmehr es hätte dem gegenwärtigen [21] gegolten,
wenn wir ihn gekannt, oder Bestimmtes von ihm gewußt hätten.
Wir waren
freilich – die einzige Neugierde, die uns erfüllte – immer bestrebt,
irgend etwas von der Art zu erfahren, aber so merkwürdig es klingt, es
war kaum möglich etwas zu erfahren, nicht vom Pilger, der doch viel Land
durchzieht, nicht in den nahen, nicht in den fernen Dörfern, nicht von
den Schiffern, die doch nicht nur unsere Flüßchen, sondern auch die
heiligen Ströme befahren.
Man hörte zwar viel, konnte aber dem Vielen
nichts entnehmen.
So
groß ist unser Land, kein Märchen reicht an seine Größe, kaum der Himmel
umspannt es – und Peking ist nur ein Punkt und das kaiserliche Schloß
nur ein Pünktchen. Der Kaiser als solcher allerdings wiederum groß durch
alle Stockwerke der Welt.
Der lebendige Kaiser aber, ein Mensch wie wir,
liegt ähnlich wie wir auf einem Ruhebett, das zwar reichlich bemessen,
aber doch möglicherweise nur schmal und kurz ist. Wie wir streckt er
manchmal die Glieder, und ist er sehr müde, gähnt er mit seinem zartgezeichneten Mund.
Wie aber sollten wir davon erfahren – tausende
Meilen im Süden – grenzen wir doch schon fast ans tibetanische Hochland.
Außerdem aber käme jede Nachricht, selbst wenn sie uns erreichte, viel
zu spät, wäre längst veraltet.
Um den Kaiser drängt sich die glänzende
und doch dunkle Menge des Hofstaates, – Bosheit und Feindschaft im Kleid
der Diener und Freunde –
das Gegengewicht des Kaisertums, immer bemüht,
mit vergifteten Pfeilen den Kaiser [22] von seiner Wagschale
abzuschießen.
Das Kaisertum ist unsterblich, aber der einzelne Kaiser
fällt und stürzt ab, selbst ganze Dynastien sinken endlich nieder und
veratmen durch ein einziges Röcheln.
Von diesen Kämpfen und Leiden wird
das Volk nie erfahren, wie Zu-spät-gekommene, wie Stadtfremde stehen sie
am Ende der dichtgedrängten Seitengassen, ruhig zehrend vom
mitgebrachten Vorrat,
während auf dem Marktplatz in der Mitte weit vorn
die Hinrichtung ihres Herrn vor sich geht.
Es
gibt eine Sage,
die dieses Verhältnis gut ausdrückt: Der Kaiser, so
heißt es, hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem
winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten
Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine
Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und
ihm die Botschaft zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er
sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die
Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft
seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den
weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen
des Reiches – vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote
hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher
Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich
Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo
das Zeichen der Sonne [23] ist; er kommt auch leicht vorwärts wie kein
anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende.
Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du
das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen,
wie nutzlos müht er sich ab; immer zwängt er sich noch durch die
Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und
gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich
kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu
durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und
wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch
Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber
niemals, niemals kann es geschehen –, liegt erst die Residenzstadt vor
ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand
dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt
an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.
Genau
so, so hoffnungslos und hoffnungsvoll, sieht unser Volk den Kaiser.
Es
weiß nicht, welcher Kaiser regiert und selbst über den Namen der
Dynastie bestehen Zweifel. In der Schule wird vieles dergleichen der
Reihe nach gelernt, aber die allgemeine Unsicherheit in dieser Hinsicht
ist so groß, daß auch der beste Schüler mit in sie gezogen wird.
Längst
verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Thron gesetzt, und
der nur noch im Liede lebt, hat vor [24] kurzem eine Bekanntmachung
erlassen, die der Priester vor dem Altare verliest.
Schlachten unserer
ältesten Geschichte werden jetzt erst geschlagen und mit glühendem
Gesicht fällt der Nachbar mit der Nachricht dir ins Haus. Die
kaiserlichen Frauen, überfüttert in den seidenen Kissen, von schlauen
Höflingen der edlen Sitte entfremdet, anschwellend in Herrschsucht,
auffahrend in Gier, ausgebreitet in Wollust, verüben ihre Untaten immer
wieder von neuem. Je mehr Zeit schon vergangen ist, desto schrecklicher
leuchten alle Farben, und mit lautem Wehgeschrei erfährt einmal das
Dorf, wie eine Kaiserin vor Jahrtausenden in langen Zügen ihres Mannes
Blut trank.
So
verfährt also das Volk mit den vergangenen, die gegenwärtigen Herrscher
aber mischt es unter die Toten.
Kommt einmal, einmal in einem
Menschenalter, ein kaiserlicher Beamter, der die Provinz bereist,
zufällig in unser Dorf, stellt im Namen der Regierenden irgendwelche
Forderungen, prüft die Steuerlisten, wohnt dem Schulunterricht bei,
befragt den Priester über unser Tun und Treiben, und faßt dann alles,
ehe er in seine Sänfte steigt, in langen Ermahnungen an die
herbeigetriebene Gemeinde zusammen,
dann geht ein Lächeln über alle
Gesichter, einer blickt verstohlen zum andern und beugt sich zu den
Kindern herab, um sich vom Beamten nicht beobachten zu lassen.
Wie,
denkt man, er spricht von einem Toten wie von einem Lebendigen, dieser
Kaiser ist doch schon längst gestorben, die Dynastie ausgelöscht, [25]
der Herr Beamte macht sich über uns lustig, aber wir tun so, als ob wir
es nicht merken, um ihn nicht zu kränken.
Ernstlich gehorchen aber
werden wir nur unserem gegenwärtigen Herrn, denn alles andere wäre
Versündigung.
Und hinter der davoneilenden Sänfte des Beamten steigt
irgendein willkürlich aus schon zerfallener Urne Gehobener aufstampfend
als Herr des Dorfes auf.
Ähnlich werden die Leute bei uns von staatlichen Umwälzungen, von
zeitgenössischen Kriegen in der Regel wenig betroffen. Ich erinnere mich
hier an einen Vorfall aus meiner Jugend. In einer benachbarten, aber
immerhin sehr weit entfernten Provinz war ein Aufstand ausgebrochen. Die
Ursachen sind mir nicht mehr erinnerlich, sie sind hier auch nicht
wichtig, Ursachen für Aufstände ergeben sich dort mit jedem neuen
Morgen, es ist ein aufgeregtes Volk. Und nun wurde einmal ein Flugblatt
der Aufständischen durch einen Bettler, der jene Provinz durchreist
hatte, in das Haus meines Vaters gebracht. Es war gerade ein Feiertag,
Gäste füllten unsere Stuben, in der Mitte saß der Priester und studierte
das Blatt. Plötzlich fing alles zu lachen an, das Blatt wurde im
Gedränge zerrissen, der Bettler, der allerdings schon reichlich
beschenkt worden war, wurde mit Stößen aus dem Zimmer gejagt, alles
zerstreute sich und lief in den schönen Tag. Warum? Der Dialekt der
Nachbarprovinz ist von dem unseren wesentlich verschieden, und dies
drückt sich auch in gewissen Formen der Schriftsprache aus, die für uns
einen altertümlichen [26] Charakter haben. Kaum hatte nun der Priester
zwei derartige Seiten gelesen, war man schon entschieden.
Alte Dinge,
längst gehört, längst verschmerzt. Und trotzdem – so scheint es mir in
der Erinnerung – aus dem Bettler das grauenhafte Leben unwiderleglich
sprach, schüttelte man lachend den Kopf und wollte nichts mehr hören.
So
bereit ist man bei uns, die Gegenwart auszulöschen.
Wenn
man aus solchen Erscheinungen
folgern wollte, daß wir im Grunde gar
keinen Kaiser haben, wäre man von der Wahrheit nicht weit entfernt.
Immer wieder muß ich sagen:
Es gibt vielleicht kein kaisertreueres Volk
als das unsrige im Süden, aber die Treue kommt dem Kaiser nicht zugute.
Zwar steht auf der kleinen Säule am Dorfausgang der heilige Drache und
bläst huldigend seit Menschengedenken den feurigen Atem genau in die
Richtung von Peking – aber
Peking selbst ist den Leuten im Dorf viel
fremder als das jenseitige Leben. Sollte es wirklich ein Dorf geben, wo
Haus an Haus steht, Felder bedeckend, weiter als der Blick von unserem
Hügel reicht und zwischen diesen Häusern stünden bei Tag und bei Nacht
Menschen Kopf an Kopf? Leichter als eine solche Stadt sich vorzustellen
ist es uns, zu glauben, Peking und sein Kaiser wäre eines, etwa eine
Wolke, ruhig unter der Sonne sich wandelnd im Laufe der Zeiten.
Die
Folge solcher Meinungen ist nun ein gewissermaßen freies, unbeherrschtes
Leben.
Keineswegs sittenlos, ich habe solche Sittenreinheit, wie in
meiner [27] Heimat, kaum jemals angetroffen auf meinen Reisen. – Aber
doch
ein Leben, das unter keinem gegenwärtigen Gesetze steht und nur der
Weisung und Warnung gehorcht, die aus alten Zeiten zu uns herüberreicht.
Ich
hüte mich vor Verallgemeinerungen und behaupte nicht, daß es sich in
allen zehntausend Dörfern unserer Provinz so verhält oder gar in allen
fünfhundert Provinzen Chinas. Wohl aber darf ich vielleicht auf Grund
der vielen Schriften, die ich über diesen Gegenstand gelesen habe sowie
auf Grund meiner eigenen Beobachtungen – besonders bei dem Mauerbau gab
das Menschenmaterial dem Fühlenden Gelegenheit, durch die Seelen fast
aller Provinzen zu reisen – auf Grund alles dessen darf ich vielleicht
sagen,
daß die Auffassung, die hinsichtlich des Kaisers herrscht, immer
wieder und überall einen gewissen und gemeinsamen Grundzug mit der
Auffassung in meiner Heimat zeigt. Diese Auffassung will ich nun
durchaus nicht als eine Tugend gelten lassen, im Gegenteil.
Zwar ist sie
in der Hauptsache von der Regierung verschuldet, die im ältesten Reich
der Erde bis heute nicht imstande war oder dies über anderem
vernachlässigte, die Institution des Kaisertums zu solcher Klarheit
auszubilden, daß sie bis an die fernsten Grenzen des Reiches unmittelbar
und unablässig wirke. Andrerseits aber liegt doch auch darin eine
Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft beim Volke, welches nicht
dazu gelangt, das Kaisertum aus der Pekinger Versunkenheit in aller
Lebendigkeit [28] und Gegenwärtigkeit an seine Untertanenbrust zu
ziehen, die doch nichts besseres will, als einmal diese Berührung zu
fühlen und an ihr zu vergehen.
Eine
Tugend ist also diese Auffassung wohl nicht. Um so auffälliger ist es,
daß gerade diese Schwäche eines der wichtigsten Einigungsmittel unseres
Volkes zu sein scheint, ja wenn man sich im Ausdruck soweit vorwagen
darf, geradezu der Boden, auf dem wir leben. Hier einen Tadel
ausführlich begründen, heißt nicht an unserem Gewissen, sondern, was
viel ärger ist, an unseren Beinen rütteln. Und darum will ich in der
Untersuchung dieser Frage vorderhand nicht weiter gehen.
(Franz Kafka,
Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus
dem Nachlaß, hg. v. Max Brod, Hans Joachim Schoeps, Berlin: Kiepenheuer
1931, S.9 -24, online:
https://de.wikisource.org/wiki/Beim_Bau_der_Chinesischen_Mauer_(1931)
Dieses Werk (Beim
Bau der Chinesischen Mauer, von
Franz Kafka), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
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