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"Beim Bau der
Chinesischen Mauer" ist ein von • Franz Kafka
in den Jahren 1918/19 verfasster Text, den der Autor vor seinem Tode wie
andere seiner Werke auch verbrannt hat. Erhalten geblieben ist er, weil
er als handschriftliche Version in einem seiner Oktavhefte, in denen er
Notizen, einzelne Wörter, Textfragmente und auch vollständige Texte
niedergeschrieben hat. Eines dieser insgesamt acht Oktavhefte enthält,
das Fragment "Beim Bau der Chinesischen Mauer" und die Erzählung »"Ein
altes Blatt", die in der Wissenschaft, weil sie in einem engen
motivischen und erzähltechnischen Bezug zueinander stehen und im
Oktavheft nur durch wenige Zeilen eines anderen Erzählfragments
voneinander abgetrennt sind, immer wieder im Zusammenhang miteinander
behandelt. (vgl.
Wagner 2010, S.250)
Nach seinem Tod haben
Max
Brod (1884-1968) und
Hans-Joachim Schöps (1909-1980) die zum Nachlass des Autors
zählenden Texte gesichtet und als "ungedruckte Erzählungen und Prosa aus
dem Nachlass" veröffentlicht. Brod und Schöps machten im Jahr 1931 das
Erzählfragment zum Titelstück des von ihnen herausgegebenen
Nachlassbandes "Beim Bau der Chinesischen Mauer" als Titelstück
Nachlassbandes "Beim Bau der Chinesischen Mauer".
Die von Kafka selbst
aus dem Text herausgelöste Binnenerzählung • "Eine
kaiserliche Botschaft" ließ der Autor selbst 1919 in der Prager
Wochenschrift »Selbstwehr
erstmals publizieren und hat sie 1920 auch in seine eigenhändig besorgte
Auswahl von Texten in die Sammlung »"Ein
Landarzt" aufgenommen. Seine Parabel • "Ein
altes Blatt" war schon 1917 in der Zweimonatsschrift Marsyas
erschienen.
Das Fragment "Beim
Bau der Chinesischen Mauer", von dem selbst Reiner
Stach
(2011/42015, Kafka - Die Jahre der Erkenntnis,
kindle-Version, S.653f.) sagt, dass es sich um einen Text handelt, "der
sich zwischen Erzählung, Legende, politischer Reflexion und fiktiven
Erinnerungen bewegt, ohne dass völlig klar würde, auf was der
Ich-Erzähler hinauswill", gehört im Literaturunterricht nicht unbedingt
zu den Texten Kafkas, die behandelt werden. Das hat mit dem zu tun, was
Stach konstatiert, aber auch damit, dass der Text insgesamt nur durch
Heranziehung komplexer Kontexte verständlich zu machen ist, die von der
Literaturwissenschaft aufgeboten, in der Schule freilich kaum
anschlussfähig sind. Hier sollen daher auch nur jene Aspekte zur Sprache
kommen, die bei einer didaktisch reduzierten Heranziehung des gesamten
Fragments, in dem die Binnenerzählung • "Eine
kaiserliche Botschaft" steht, für das Verständnis diese Textes
hilfreich sein können. Dies betrifft z. B. den Überblick über den •
Inhalt des
Fragments, aber auch weitere •
Aspekte.
Das Fragment "Beim
Bau der Chinesischen Mauer" ist ein in Ich-Form gehaltener
fiktionaler Bericht, dessen Erzähler ein chinesischer Architekt ist,
"der aus der ungewöhnlichen professionellen Doppelperspektive des
Experten für Schutzbauten und für »vergleichende Völkergeschichte« über
die Nomadengefahr, schutztechnische Aspekte des Mauerbaus und die
politische Konstitution des chinesischen Reiches teils berichtet, teils
räsoniert." (Wagner
2010, S.250)
Sein anfänglich
nüchtern wirkender Bericht über den Bau der Mauer "steigert sich
freilich bald in einen pathetisch-heroischen Ton, der, gleichsam am
Gegenpol des Schutzes gegen die Bedrohung von Außen, als anderen
möglichen Zweck des Mauerbaus die innere Einigung der Bevölkerung zum
Volk durch das gemeinsame Werk erscheinen lässt." (ebd.,
S.251) Damit ändert sich auch die Blickrichtung des Berichtenden,
die eine Verbindung zwischen der wegen ihrer Lückenhaftigkeit
fragwürdigen Schutzmauer gegen die "Nordvölker" und einer "der
menschlichen Wahrnehmung entzogenen »Führerschaft« prüft. [...] Nach
einem versichernden Exkurs über den eher imaginären als realen Charakter
der Nomadengefahr angesichts der Größe des Landes wendet sich der
Bericht der politischen Verfassung (der »Einrichtung« des »Kaisertums«)
zu, wobei zunächst nicht »die Lehrer des Staatsrechtes und der
Geschichte an den hohen Schulen«, sondern »das Volk« befragt werden
soll." Dies geschehe durch den Rekurs auf die ›Sage‹,
die vom Ich-Erzähler als Binnenerzählung vorgetragene •
Geschichte
von der kaiserlichen Botschaft (•
Eine kaiserliche
Botschaft"). Dabei ist mit "Sage" nicht die Textsorte gemeint, zumal
der Text deren übliche Merkmale nicht aufweist, sondern mit der
Bezeichnung soll auf gleichnishafte Weise eine erste Antwort auf die
Befragung des Volkes gegeben werden, es soll "also verstanden werden,
als etwas, das gesagt und weitergesagt und als Weitergesagtes
aufgeschrieben wird." (Niehaus
2010, S.87) Was die Binnenerzählung nahe legt, ist, dass
Kaiser, "als allgegenwärtiges Symbol das riesige Volk der Chinesen
zusammenhält – freilich ohne direkte Verständigung zwischen Oben und
Unten, die selbst dann nicht funktioniert, wenn sie, ausnahmsweise, von
›oben‹ gewollt ist. (Stach
2011/42015, Kafka - Die Jahre der Erkenntnis,
kindle-Version, S.653f.)
Der Berichterstatter
stützt sich aber bei seiner Volksbefragung nicht nur auf die mündliche Überlieferung (Sage im Sinne von Sagen, Hörensagen),
sondern auch auf sein eigenes Wissen und seine eigenen Erfahrungen.
Dabei, so Wagner
2010, S.251), erweise sich, "dass der Lückenhaftigkeit des Schutzes nach außen
eine mangelhafte administrative und symbolische Durchdringung des
Reiches nach innen entspricht: Beinahe jedes Dorf hegt seine ganz eigene
Vorstellung vom Kaiser, dem so, zusätzlich zu den beiden Körpern, die
die klassische Souveränitätslehre ihm zuschreibt (dem leiblichen und
dem symbolischen), ein vielgestaltiger dritter Körper hinzu gefügt
wird, der aus dem Geflecht der mannigfaltigen lokalen Vorstellungen
besteht. Und doch erscheint, kurz vor dem Abbruch des Fragments (in
einer unvollendeten Kindheitserinnerung des Erzählers an das Eintreffen
der Nachricht vom Beginn des Mauerbaus in seinem Dorf), gerade diese
Schwäche eines einheitliches Bildes der Macht als »eines der wichtigsten
Einigungsmittel unseres Volkes«".
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.10.2024