Jens Ludwig, Kopfrauschen
Bilder
waren in seinem Kopf. Oder sonst wo. An ihrem Platz. Da, wo sie hingehörten.
Sonst.
Genauer gesagt, ein Bild war es, genau ein einziges. Das hatte er
dauernd im Kopf, seitdem.
An sich kein besonderes, eines eben wie all die anderen, die er seinen
ganzes Leben lang gemacht hatte.
Jetzt kamen sie immer häufiger zurück. Manchmal verließen sie auch ihre
Rahmen und bildeten immer neue Collagen in seinem Kopf. Ein Rauschen, das
einfach kam und ging. Manchmal dauerte es ein paar Tage, manchmal ein paar
Wochen. Eigentlich hört es nie auf, dachte er. Schon möglich, dass er sich
das Bild auch einfach nur selbst gemacht hatte. Schon möglich, aber so
unscharf, so verpixelt, so verrauscht?
Du
weißt doch schon gar nicht mehr, wohin damit, hatte Elisa schon vor Jahren
zu ihm gesagt und dabei auf seine unzähligen Alben angespielt, die sich im
Gästezimmer auf die seines Vaters türmten. Da hatte er schon längst seine
3,2-Megapixel-Kamera. Das musste er sich lange anhören, wenn er seinen
Apparat zückte, um alles festzuhalten.
Schon möglich, dass sie recht hat. Aber sein Problem war das nicht. Das
Leben rauscht sonst an einem ganz vorbei, hatte er immer wieder eingewendet.
Schon möglich, dass er sich damit irgendwie entschuldigen wollte.
Früher saßen Elisa und er manchmal vor den Fotoalben. Weißt du noch? Schau
bloß, wie schlank du damals gewesen bist. Weißt du noch?
Das waren ihre
ersten Jahre gewesen. Gute Jahre, alles in allem.
Damals hatte er noch alles eingeklebt. Fotos, Landkarten, Zeitungsausrisse
von Bildern, auf denen sie drauf waren, Hotelrechnungen, Quittungsbons von
der Autoroute du Sud, Postkarten aus Les Baux.
Kleb doch noch ein paar Essensreste ein, hatte Elisa dann manchmal gewitzelt
und gelacht.
Das Album für Benni lag dann meist auch bei andern auf dem Tisch, wenn er
seine Alben auftürmte. Er hatte es zurückgelassen, als er mit seiner
Freundin in die neue Wohnung gezogen war.
Du kannst es ja für mich aufheben, so einfach war das.
Vier Jahre lang hatte er alles fein säuberlich eingeklebt.
Bennis erste Jahre stand drauf. 11.2.1985, Unser Bennilein hebt allein sein
Köpfchen. Tolles Kerlchen! stand irgendwo. Unser Hase endlich allein auf dem
Töpfchen, wo anders. Endlich? Ohne Datum. Schade.
Das mit den Fotoalben hatte er schon längst aufgegeben. Eine große Kiste gab
es seitdem. Da kam hinein, was in seinem Leben passierte. Nicht lückenlos,
eher das, was eben beim Leben so anfällt. Mein Zettelkasten, sagte er dazu.
Darin konnte es nicht sein, was er suchte.
Was hast du denn, fragte seine Frau ahnungslos, wie es in seinem Kopf
zuging.
Nein, ich habe es nie ausgedruckt, nur gespeichert, irgendwo, es war auch
nicht so gut. Irgendwie nichtssagend.
Siehst du, sagte dann Elisa.
Ich weiß auch nicht mehr so genau, wie es war, bedeutete er ihr. Ich glaube
nur, er hat noch gelächelt, als er hingefahren ist. Reine Routine hatte er
gesagt, wegen seiner Kopfschmerzen in letzter Zeit. Nur so ein Kopfrauschen,
hatte er gesagt.
Weißt du's noch?
(aus: Jens Ludwig, Geschichten kommen immer zurück.
Erzählungen, erstveröffentlicht Konstanz: teachSam, 2011)

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