Wolfgang Borchert, Die traurigen Geranien
Als sie sich kennenlernten,
war es dunkel gewesen. Dann hatte sie ihn eingeladen und nun war er da.
Sie hatte ihm ihre Wohnung gezeigt und die Tischtücher und die
Bettbezüge und auch die Teller und Gabeln, die sie hatte. Aber als sie
sich dann zum ersten Mal bei hellem Tageslicht gegenübersaßen, da sah er
ihre Nase.
Die
Nase sieht aus, als ob sie angenäht ist, dachte er. Und sie sieht
überhaupt nicht wie andere Nasen aus. Mehr wie eine Gartenfrucht. Um
Himmels willen! dachte er, und diese Nasenlöcher! Die sind ja vollkommen
unsymmetrisch angeordnet. Die sind ja ohne jede Harmonie zueinander. Das
eine ist eng und oval. Aber das andere gähnt geradezu wie ein Abgrund.
Dunkel und rund und unergründlich. Er griff nach seinem Taschentuch und
tupfte sich die Stirn.
Es ist
so warm, nicht wahr? begann sie.
O ja,
sagte er und sah auf ihre Nase. Sie muss angenäht sein, dachte er
wieder. Sie kommt sich so fremd vor im Gesicht. Und sie hat eine ganz
andere Tönung als die übrige Haut. Viel intensiver. Und die Nasenlöcher
sind wirklich ohne Harmonie. Oder von einer ganz neuartigen Harmonie,
fiel ihm ein, wie bei Picasso.
Ja,
fing er wieder an, meinen Sie nicht auch, dass Picasso auf dem richtigen
Wege ist?
Wer
denn? fragte sie, Pi – ca – -?
Na,
denn nicht, seufzte er und sagte dann plötzlich ohne Übergang: Sie haben
wohl mal einen Unfall gehabt?
Wieso?
fragte sie.
Na ja,
meinte er hilflos.
Ach,
wegen der Nase?
Ja,
wegen ihr.
Nein, sie war gleich so. Sie sagte das ganz geduldig: Sie war
gleich so.
Donnerwetter! hätte er da fast gesagt. Aber er sagte nur: Ach, wirklich?
Und
dabei bin ich ein ausgesprochen harmonischer Mensch, flüsterte sie. Und
wie ich gerade die Symmetrie liebe! Sehen Sie nur meine beiden Geranien
am Fenster. Links steht eine und rechts steht eine. Ganz symmetrisch.
Nein, glauben Sie mir, innerlich bin ich ganz anders. Ganz anders.
Hierbei
legte sie ihm die Hand auf das Knie, und er fühlte ihre entsetzlich
innigen Augen bis an den Hinterkopf glühen.
Ich bin
doch auch durchaus für die Ehe, für das Zusammenleben, meinte sie leise
und etwas verschämt.
Wegen
der Symmetrie? entfuhr es ihm.
Harmonie, verbesserte sie ihn gütig, wegen der Harmonie.
Natürlich, sagte er, wegen der Harmonie.
Er
stand auf.
Oh, Sie
gehen?
Ja, ich
– ja.
Sie
brachte ihn zur Tür.
Innerlich bin ich eben doch sehr viel anders, fing sie noch mal wieder
an.
Ach
was, dachte er, deine Nase ist eine Zumutung. Eine angenähte Zumutung.
Und er sagte laut: Innerlich sind Sie wie die Geranien, wollen Sie
sagen. Ganz symmetrisch, nicht wahr?
Dann
ging er die Treppe hinunter, ohne sich umzusehen.
Sie
stand am Fenster und sah ihm nach.
Da sah
sie, wie er unten stehen blieb und sich mit dem Taschentuch die Stirn
abtupfte. Einmal, zweimal. Und dann noch einmal. Aber sie sah nicht,
dass er dabei erleichtert grinste. Das sah sie nicht, weil ihre Augen
unter Wasser standen. Und die Geranien, die waren genauso traurig.
Jedenfalls rochen sie so.
(aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1949, S.
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