docx- Download -
pdf-Download
Lessing präsentiert sein geschichtsphilosophisches Ideal in einer
Lebenswelt, die seiner
eigenen und der seiner Zuschauer raumzeitlich weit entrückt ist.
Dabei ist der Orient, das Morgenland, in dem er sein Stück spielen
lässt, auch schon zu seiner Zeit eine Region der Welt gewesen, welche
die Gebildeten des Abendlandes in der Zeit der kolonialen Ausdehnung und
des sich entwickelnden Welthandels immer wieder faszinierte. Zugleich
verlagert er das Stück ins Mittelalter, für die Zeitgenossen häufig das
"finstere" Mittelalter. Die raumzeitlichen Koordinaten des Stücks
schaffen damit von vornherein eine deutliche "Diskrepanz zwischen dem
dargestellten Entwicklungsstand der Menschheit und dem Ziel der
Vorsehung."
Damit kann Lessing seine Botschaft angesichts des
gegen ihn verhängten herzoglichen Maulkorberlasses in theologischen
Fragen in einem Kontext vermitteln, in dem sich die "Konfrontation mit
dogmatisch verhärteten Anhängern anderer positiver Religionen und dem
Machtanspruch von Staat und Kirche" demonstrieren lässt. (Barner/Grimm/Kiesel/Kramer
1987, S.318ff.) Die Welt Nathans liegt so noch weit vor der seiner
Ansicht nach höchsten Stufe der Menschheitsgeschichte, dem Zeitalter der
Vernunft. Dabei zielt die Handlung des so in Raum und Zeit situierten
Dramas auf die Zeit Lessings und was der Autor vermitteln will, "soll
sich in der Konfrontation mit dogmatisch verhärteten Anhängern anderer
positiver Religionen und dem Machtanspruch von Staat und Kirche
erweisen". (ebd.)
Im Nathan, so betonen die Autoren weiter, fielen die "Projektion eines
glücklicheren Zeitalters und Kritik an der eigenen Zeit" zusammen.
Insofern passe auch "der mittelalterlich-orientalische Schauplatz zu den
Absichten des Autors, "in historischer Perspektive die notwendige
Entfaltung der Aufklärung auch gegen Verblendung und Fanatismus zu
demonstrieren." Diesem Ziel dient wohl auch die eigentlich ohne
dramatischen Konflikt auskommende Komposition des analytischen Dramas,
die auf "ein Erkennen und Erkennenlassen von Zusammenhängen und
Zusammengehörigkeiten" ausgerichtet sei, das mit Hilfe einer Sprache
realisiert werde, "die auf vernunfthelle Durchleuchtung der
Vorstellungen und Leidenschaften gerichtet" (Kaiser
1976b, S.133ff.) sei. Und auch die Gestaltung des Dramas als
dramatisches Gedicht mit
Blankversen
stellt sich wohl hauptsächlich in den Dienst der Verfremdung und der
Intensivierung der Aussagen des Stücks. (vgl.
Sedding 1992,
S.5) (→Sprachliche
Form: Blankvers)
Dass Lessing die Handlung des Stücks ins Mittelalter zurückverlagerte,
das sich gerade aus der Perspektive aufgeklärter Zeitgenossen Lessings
als eine Zeit von Finsternis und Barbarei darstellte, entsprach durchaus der
Streitkultur in theologischen Fragen zur Zeit Lessings.
Dass das Mittelalter die als geradezu golden verherrlichte Antike
ablöste, war wohl unter anderem deshalb
sehr beliebt im Setting
dieser Auseinandersetzungen, weil man damit, "den Gegner in die Rolle des mittelalterlichen Inquisitors"
drängen konnte. (Barner/Grimm/Kiesel/Kramer
1987, S.318ff.) So nutzte Lessing, dem es religions- und
geschichtsphilosophisch darum ging, gegen die herrschende dogmatische
theologische Lehrmeinung des
Theismus
mit ihren antiaufklärerischen Folgen zu Felde zu ziehen, sein Stück zur
Auseinandersetzung und Abrechnung mit seinem Hauptwidersacher, dem
Hamburger »Hauptpastor Johann
Melchior Goeze
(1717-1787), dem er mit der Figur des Patriarchen im "Nathan" ein
satirisch wirkendes "Denkmal" setzte. (→Fragmentenstreit) Das gilt selbst dann, wenn man
berücksichtigt, dass die fast grotesk wirkenden Züge des
Patriarchen, nicht nur darauf abzielten, "eine Satire auf Goezen"
(Lessing) auf die Bühne zu bringen. Denn, wie
Barner/Grimm/Kiesel/Kramer
(1987, S.318ff.) im Anschluss an Seeba betonen, sei die Figur des Patriarchen "sprachlich
gerade durch den Mangel an orthodoxen Inhalten, durch die Formalisierung
eines Standpunktes charakterisiert" (Seeba) gekennzeichnet. Genau
damit habe Lessing nämlich "die entscheidenden Punkte des Goeze-Streits und der Auseinandersetzung mit erstarrten "Orthodoxisten"
(Lessing) überhaupt" ins Visier nehmen können: "Aus formalen Gründen wurde die inhaltliche
Diskussion unterbunden; um die Geschlossenheit des Systems zu bewahren,
wurden weiterführende Überlegungen blockiert." (ebd.)
Mit seinem Stück "Nathan der Weise" zeigte sich Lessing entschlossen,
die Auseinandersetzung um »Theodizee
und »Deismus
fortzuführen und dafür den Kampfplatz zu wechseln: "Ich muss versuchen,
ob man mich auf meiner alter Kanzel, auf dem Theater, wenigstens noch
ungestört wird predigen lassen." (Lessing, zit. n.
Kluge/Radler, 9. Aufl., 1974, S.140) (vgl. auch die Anspielung
Lessings darauf, die er dem Patriarchen im "Nathan" in den Mund legt,
IV,2 V 2522)
Die Kritiker des Stücks haben immer wieder, ohne zu einer Einigung zu
gelangen, über die Frage gestritten, ob Lessings "Nathan" "zwischen den
Zeilen der Offenbarungsreligion und besonders dem Judentum und
Christentum feindlich gesinnt sei und die natürliche Religion befürworte
oder ob es vielmehr davon ausgehe, dass eine oder mehr als eine der drei
monotheistischen Religionen einen berechtigten Wahrheitsanspruch habe."
(Nisbet
2008, S.791) Für beide Auffassungen lässt sich also Partei nehmen.
Fick (2010,
S.510) betont, dass Lessings "Nathan" sich indessen bewusst
gegenüber inhaltlichen Aussagen zum Wahrheitsgehalt der Religionen
zurückhalte und dass das gerade die Besonderheit des Standpunkt seines
Autors zum Ausdruck bringe, indem es "auch kein Plädoyer für die Lehren
der natürlichen Religion enthält, obwohl das »Menschsein« der
Religionszugehörigkeit vorgeordnet (»Sind
Christ und Jude eher Christ und Jude,/ als Mensch?"« [II,5 V 523f.]
und die Notwendigkeit eines ›vernünftigen‹ Gottesbildes nahegelegt
werden."
docx- Download -
pdf-Download
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023