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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
VIERTER AUFZUG
ZWEITER AUFTRITT
Der Patriarch, welcher mit allem geistlichen Pomp,1,den
Kreuzgang heraufkömmt, und die Vorigen.
TEMPELHERR. Ich wich' ihm lieber aus. - Wär' nicht mein Mann! -
Ein dicker, roter, freundlicher Prälat!2
Und welcher Prunk! KLOSTERBRUDER. Ihr solltet ihn erst sehn
Nach Hofe3 sich erheben. Itzo kömmt Er nur von einem Kranken. TEMPELHERR.
Wie sich da Nicht Saladin wird schämen müssen! PATRIARCH.
(indem er näherkömmt, winkt dem Bruder).
Hier! - Das ist ja wohl der Tempelherr. Was will 2460 Er? KLOSTERBRUDER. Weiß nicht. PATRIARCH (auf ihn zugehend, indem der Bruder und das Gefolge zurücktreten).
Nun, Herr Ritter! - Sehr erfreut, Den braven jungen Mann zu sehn! - Ei, noch So gar jung! - Nun, mit Gottes Hilfe, daraus Kann etwas werden. TEMPELHERR. Mehr,
ehrwürd'ger Herr, Wohl schwerlich, als schon ist. Und eher noch, Was weniger. PATRIARCH. Ich wünsche wenigstens, Dass so ein frommer Ritter lange noch Der lieben Christenheit, der Sache Gottes
Zu Ehr' und Frommen4 blühn und grünen möge! Das wird denn auch nicht fehlen, wenn nur fein 2470 Die junge Tapferkeit dem reifen Rate Des Alters folgen will! - Womit wär' sonst Dem Herrn zu dienen? TEMPELHERR.
Mit dem nämlichen, Woran es meiner Jugend fehlt: mit Rat. PATRIARCH. Recht gern! - Nur ist der Rat auch anzunehmen. TEMPELHERR. Doch blindlings nicht? PATRIARCH.
Wer sagt denn das? - Ei freilich Muss niemand die
Vernunft, die Gott ihm gab, Zu brauchen unterlassen, -
wo sie hin - Gehört. - Gehört sie aber überall Denn hin? - O nein! - Zum Beispiel: wenn uns Gott 2480 Durch einen seiner Engel, - ist zu sagen, Durch einen Diener seines Worts, - ein Mittel Bekannt zu machen würdiget, das Wohl Der ganzen Christenheit, das Heil der Kirche, Auf irgendeine ganz besondre Weise Zu fördern, zu befestigen: wer darf Sich da noch unterstehn, die Willkür des, Der die Vernunft erschaffen, nach Vernunft Zu untersuchen? und das ewige Gesetz der Herrlichkeit des Himmels, nach 2490 Den kleinen Regeln einer eiteln Ehre Zu prüfen? - Doch hiervon genug. - Was ist Es denn, worüber unsern Rat für itzt Der Herr verlangt? TEMPELHERR.
Gesetzt5, ehrwürd'ger Vater, Ein Jude hätt' ein einzig Kind, - es sei Ein Mädchen, - das er mit der größten Sorgfalt Zu allem Guten auferzogen, das Er liebe mehr als seine Seele, das Ihn wieder mit der frömmsten Liebe liebe. Und nun würd' unsereinem hinterbracht, 2500 Dies Mädchen sei des Juden Tochter nicht; Er hab' es in der Kindheit aufgelesen, Gekauft, gestohlen, - was Ihr wollt; man wisse, Das Mädchen sei ein Christenkind, und sei Getauft; der Jude hab' es nur als Jüdin Erzogen; lass' es nur als Jüdin und Als seine Tochter so verharren: - sagt, Ehrwürd'ger Vater, was wär' hierbei wohl Zu tun? PATRIARCH. Mich schaudert! Doch zu allererst Erkläre sich der Herr, ob so ein Fall 2510 Ein Faktum oder eine Hypothes'. Das ist zu sagen: ob der Herr sich das
Nur bloß so dichtet6, oder ob's geschehn, Und fortfährt zu geschehn. TEMPELHERR.
Ich glaubte, das Sei eins7, um Euer Hochehrwürden Meinung Bloß zu vernehmen. PATRIARCH.
Eins? - Da seh' der Herr Wie sich die stolze menschliche Vernunft Im Geistlichen doch irren kann - Mitnichten! Denn ist der vorgetragne Fall nur so Ein
Spiel des Witzes8: so
verlohnt 9 es sich 2520 Der Mühe nicht, im Ernst ihn durchzudenken. Ich will den
Herrn damit auf das Theater Verwiesen haben, wo dergleichen pro Et contra sich mit vielem Beifall könnte Behandeln lassen10. - Hat der Herr mich aber Nicht bloß mit einer theatral'schen
Schnurre11 Zum besten; ist der Fall ein Faktum; hätt' Er sich wohl gar in unsrer
Diözes'12, In unsrer lieben Stadt
Jerusalem Ereignet: - ja alsdann - TEMPELHERR.
Und was alsdann? 2530 PATRIARCH. Dann wäre an dem Juden
fördersamst13 Die Strafe zu vollziehn, die päpstliches Und kaiserliches Recht so einem Frevel, So einer Lastertat bestimmen. TEMPELHERR.
So? PATRIARCH. Und zwar bestimmen obbesagte14 Rechte Dem Juden, welcher einen Christen zur
Apostasie15 verführt, - den Scheiterhaufen, - Den Holzstoß - TEMPELHERR. So? PATRIARCH. Und
wieviel mehr dem Juden, Der mit Gewalt ein armes Christenkind Dem Bunde seiner Tauf' entreißt!
Denn ist 2540 Nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt? - Zu sagen: -
ausgenommen, was die Kirch' An Kindern tut. TEMPELHERR. Wenn aber nun das Kind, Erbarmte seiner sich der Jude nicht, Vielleicht im Elend umgekommen wäre? PATRIARCH.
Tut nichts! der
Jude wird verbrannt!16 - Denn besser, Es wäre hier im Elend umgekommen, Als dass zu seinem ewigen Verderben Es so gerettet ward. - Zudem, was hat Der Jude Gott denn vorzugreifen? Gott 2550 Kann, wen er retten will, schon ohn' ihn retten. TEMPELHERR. Auch
trotz ihm17 sollt' ich meinen, - selig machen. PATRIARCH.
Tut nichts! der Jude wird verbrannt. TEMPELHERR.
Das geht Mir nah'! Besonders, da man sagt, er habe Das Mädchen nicht sowohl in seinem, als
Vielmehr in keinem Glauben auferzogen, Und sie von Gott nicht mehr nicht weniger Gelehrt, als der Vernunft genügt.18 PATRIARCH.
Tut nichts! Der Jude wird verbrannt . . . Ja, wär' allein Schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt 2560 Zu werden! - Was? ein Kind ohn' allen Glauben Erwachsen lassen? - Wie?
die große Pflicht, Zu glauben, ganz und gar ein Kind nicht lehren? Das ist zu arg! Mich wundert sehr, Herr Ritter, Euch selbst . . . TEMPELHERR. Ehrwürd'ger Herr, das übrige, Wenn Gott will, in der
Beichte19 . (Will gehn.) PATRIARCH.
Was? mir nun Nicht einmal Rede stehn? - Den Bösewicht, Den Juden mir nicht nennen? - mir ihn nicht Zur Stelle schaffen? - O da weiß ich Rat!
Ich geh sogleich zum Sultan. - Saladin, 2570 Vermöge der
Kapitulation20, Die er beschworen, muss uns, muss uns schützen; Bei allen Rechten, allen Lehren schützen, Die wir
zu unsrer allerheiligsten Religion nur immer rechnen dürfen! Gottlob! wir haben das Original. Wir haben seine Hand, sein Siegel. Wir! - Auch mach ich ihm gar leicht begreiflich, wie Gefährlich selber für den Staat es ist, Nichts glauben! Alle bürgerliche Bande 2580 Sind aufgelöset, sind zerrissen, wenn Der Mensch nichts glauben darf. - Hinweg! hinweg Mit solchem Frevel! . . . TEMPELHERR. Schade,
dass ich nicht Den trefflichen Sermon21 mit bessrer Muße Genießen kann! Ich
bin zum Saladin Gerufen.22 PATRIARCH. Ja? - Nun so - Nun freilich - Dann - TEMPELHERR. Ich will den Sultan vorbereiten, wenn Es Eurer Hochehrwürden so gefällt. PATRIARCH. Oh, oh! - Ich weiß, der Herr hat Gnade funden Vor Saladin! - Ich bitte meiner nur 2590 Im Besten bei ihm eingedenk zu sein. -
Mich treibt der Eifer Gottes23 lediglich. Was ich zuviel tu, tu ich ihm. - Das wolle Doch ja der Herr erwägen! - Und nicht wahr, Herr Ritter? das vorhin Erwähnte von Dem Juden, war nur ein
Problema24? - ist Zu sagen - TEMPELHERR. Ein Problema. (Geht ab.) PATRIARCH.
(Dem ich tiefer Doch auf den Grund zu kommen suchen muss.
Das wär' so wiederum ein Auftrag für Den Bruder Bonafides.25)26
- Hier, mein Sohn! 2600 (Er spricht im Abgehn mit dem Klosterbruder.)
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
Prunk
2
als Bischof/Patriarch Inhaber der Kirchengealt
3
nach einer Audienz/einem öffentlichen Empfang oder öffentlich
vollzogenen Ereignis, in der Öffentlichkeit
4
zur Ehre und zum Nutzen 5
angenommen (dass)
6
erfindet, sich ausdenkt, einen fiktiven Fall darstellt
7
Eine ähnliche Stelle findet sich in Lessings "Achtem Anti-Goeze", seiner
öffentlichen Streitschrift mit dem Hamburger Hauptpastor »Johann
Melchior Goeze (1717-1787) , in dem Lessing gegen den Einwand Goezes,
die fabelhafte Geschichte von einem lutherischen Prediger lasse sich
nicht beweisen, mit den Worten argumentiert: "Folget auf den bloß
möglichen Fall nicht ebendas, was aus dem wirklichen Fall folgen würde?"
(P/O, Bd.23, S.238) (→Gert Egle (2014): Der
Fragmentenstreit - Die Kontroverse Lessings mit Goeze)
8
geistreicher Einfall, Gedankenspiel
9
lohnt
10
Anspielung Lessings auf den so genannten
Fragmentenstreit;
auf das gegen ihn verhängte Publikationsverbot in theologischen Fragen
durch das Herzogliche Konsistorium des Herzogs »Karl
I (1713-1780) von Braunschweig-Wolfenbüttel schrieb Lessing am 6.
September 1778 an »Elise
Reimarus (1735-1805), die Tochter des angesehenen Hamburger
Orientalisten und Gymnasiallehrers »Hermann
Samuel Reimarus (1694-1768), dessen religionskritische Schriften
Lessing unter dem Titel "Fragmente
des Ungenannten" 1773-1777 veröffentlichte: "Ich
muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel. auf dem Theater
wenigstens, noch ungestört will predigen lassen" (Lessing, zit. n.
Kluge/Radler, 9. Aufl., 1974, S.140)
11
scherzhafte, witzige Erzählung, Posse
12
Diözese: Amtsgebiet eines katholischen Bischofs
13
so bald als möglich, unverzüglich
14
h: die (gerade) erwähnten
15
Abfall vom christlichen Glauben
16
→Das→Motiv des
(Ver-)Brennens taucht an anderen Stellen des Dramas immer wieder
auf,
vgl. I,2 V 177,
I,6 V 773, - vgl. Anmerkung (1)
zu I,1 V 13 ,
I,2 V 177,
IV,7: "Verbrennen"
der Familie Nathans beim Judenpogrom in Gath 18 Jahre vor Einsetzen der
dramatischen Handlung (→Vorgeschichte),
17 trotz seiner,
ungeachtet seiner, ihm zum Trotz
18
Der Tempelherr äußert hier die Überzeugung, dass Nathan Recha im →aufklärerischen
Sinne nach »deistischen
Prinzipien erzogen hat. 19 In
der »römisch-katholischen
Kirche und der »orthodoxen
Kirche ist sie eines der sieben
Sakramente, die als Sündenbekenntnis gegenüber einem das Sakrament
der Buße spendenden Priester unter den fünf Voraussetzungen »Gewissenserforschung,
»Reue, »guter
Vorsatz, »Bekenntnis
und »Wiedergutmachung
(»Katholischer
Erwachsenenkatechismus) abgelegt werden kann. Das Bußsakrament wirkt
die Wiederherstellung der Taufgnade, die für das ewige Leben bei Gott
notwendig ist. (»Lossprechung
von den Sünden/Absolution)
20
Vertrag; hier gemeint der Vertrag, der zum Abschluss des →Waffenstillstandes
von 1192 führte; die hier erwähnten Rechte sind indessen historisch
nicht bewiesen; 21
Rede, (Straf-)Predigt, auch abwertend: Geschwätz, vergleichbar mit der
Redewendung: seinen Senf dazugeben
22
vgl.
III,7 V 2099 und
III,9 V 2164f.
23
Engagement für Gott, Streben, Einsatz
24
eine theoretische Streitfrage
25
Bonafides = lat. guter Glaube,
onomapoetischer, sprechender Name
26
ad
spectatores:
monologisches Beiseite (a
parte) V 2597ff. - vgl.
IV,7 V
2958f.
Textauswahl
-
IV,1
- Die zweite Begegnung von Tempelherr und Klosterbruder
-
IV,3 - Saladin und Sittah warten auf den Tempelherrn
-
IV,4
-
Der Tempelherr bringt vor Saladin seine Klage
gegen Nathan vor
-
IV,5
-
Saladin und Sittah sprechen über die Klage
des Tempelherrn
-
IV,6
-
Nathan wird von Daja unter Druck gesetzt, der
Heirat zuzustimmen
-
IV,7
- Nathan und der Klosterbruder
-
IV,8
-
Daja versichert Nathan, ihn nicht beim
Patriarchen angezeigt zu haben und berichtet,
Recha sei zu Sittah geholt worden
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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