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Text Lessing: Nathan der Weise - 4. Akt: Szene 2

IV,2 - Der Tempelherr fragt den Patriarchen um Rat

IV,1 « IV,2 » IV,3


FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur Literarische Gattungen Dramatische Texte Autorinnen und Autoren Gotthold Ephraim Lessing Nathan der Weise
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion

VIERTER AUFZUG

ZWEITER AUFTRITT

Der Patriarch, welcher mit allem geistlichen Pomp,1,den Kreuzgang heraufkömmt, und die Vorigen.

TEMPELHERR.
   Ich wich' ihm lieber aus. - Wär' nicht mein Mann! -
   Ein dicker, roter, freundlicher Prälat!2
   Und welcher Prunk!
KLOSTERBRUDER. Ihr solltet ihn erst sehn
   Nach Hofe3 sich erheben. Itzo kömmt
   Er nur von einem Kranken.
TEMPELHERR.                      Wie sich da
   Nicht Saladin wird schämen müssen!
PATRIARCH. (indem er näherkömmt, winkt dem Bruder).  
                                                                 
Hier! -
   Das ist ja wohl der Tempelherr. Was will                                      2460
   Er?
KLOSTERBRUDER. Weiß nicht.
PATRIARCH (auf ihn zugehend, indem der Bruder und
das Gefolge zurücktreten).

                                                    Nun, Herr Ritter! - Sehr erfreut,
   Den braven jungen Mann zu sehn! - Ei, noch
   So gar jung! - Nun, mit Gottes Hilfe, daraus
   Kann etwas werden.
TEMPELHERR.          Mehr, ehrwürd'ger Herr,
   Wohl schwerlich, als schon ist. Und eher noch,
   Was weniger.
PATRIARCH.   Ich wünsche wenigstens,
   Dass so ein frommer Ritter lange noch
   Der lieben Christenheit, der Sache Gottes
   Zu Ehr' und Frommen4 blühn und grünen möge!
   Das wird denn auch nicht fehlen, wenn nur fein                             2470
   Die junge Tapferkeit dem reifen Rate
   Des Alters folgen will! - Womit wär' sonst
   Dem Herrn zu dienen?
TEMPELHERR.             Mit dem nämlichen,
   Woran es meiner Jugend fehlt: mit Rat.
PATRIARCH. Recht gern! - Nur ist der Rat auch anzunehmen.
TEMPELHERR. Doch blindlings nicht?
PATRIARCH.                                    Wer sagt denn das? - Ei freilich
   Muss niemand die Vernunft, die Gott ihm gab,
   Zu brauchen unterlassen, - wo sie hin -
   Gehört.
- Gehört sie aber überall                                                
   Denn hin? - O nein! - Zum Beispiel: wenn uns Gott                        2480
   Durch einen seiner Engel, - ist zu sagen,
   Durch einen Diener seines Worts, - ein Mittel
   Bekannt zu machen würdiget, das Wohl
   Der ganzen Christenheit, das Heil der Kirche,
   Auf irgendeine ganz besondre Weise
   Zu fördern, zu befestigen: wer darf
   Sich da noch unterstehn, die Willkür des,
   Der die Vernunft erschaffen, nach Vernunft
   Zu untersuchen? und das ewige
   Gesetz der Herrlichkeit des Himmels, nach                                   2490
   Den kleinen Regeln einer eiteln Ehre
   Zu prüfen? - Doch hiervon genug. - Was ist
   Es denn, worüber unsern Rat für itzt
   Der Herr verlangt?
TEMPELHERR.     Gesetzt5, ehrwürd'ger Vater,
   Ein Jude hätt' ein einzig Kind, - es sei
   Ein Mädchen, - das er mit der größten Sorgfalt
   Zu allem Guten auferzogen, das
   Er liebe mehr als seine Seele, das
   Ihn wieder mit der frömmsten Liebe liebe.
   Und nun würd' unsereinem hinterbracht,                                        2500
   Dies Mädchen sei des Juden Tochter nicht;
   Er hab' es in der Kindheit aufgelesen,
   Gekauft, gestohlen
, - was Ihr wollt; man wisse,
   Das Mädchen sei ein Christenkind, und sei
   Getauft; der Jude hab' es nur als Jüdin
   Erzogen; lass' es nur als Jüdin und
   Als seine Tochter so verharren: - sagt,
   Ehrwürd'ger Vater, was wär' hierbei wohl
   Zu tun?
PATRIARCH. Mich schaudert! Doch zu allererst
   Erkläre sich der Herr, ob so ein Fall                                             2510
   Ein Faktum oder eine Hypothes'.
   Das ist zu sagen: ob der Herr sich das
   Nur bloß so dichtet6, oder ob's geschehn,
   Und fortfährt zu geschehn.
TEMPELHERR.                     Ich glaubte, das
   Sei eins
7, um Euer Hochehrwürden Meinung
   Bloß zu vernehmen.
PATRIARCH.              Eins? - Da seh' der Herr
   Wie sich die stolze menschliche Vernunft
   Im Geistlichen doch irren kann - Mitnichten!
   Denn ist der vorgetragne Fall nur so
   Ein Spiel des Witzes8: so verlohnt 9 es sich                                      2520
   Der Mühe nicht, im Ernst ihn durchzudenken.
   Ich will den Herrn damit auf das Theater
   Verwiesen haben, wo dergleichen pro
   Et contra sich mit vielem Beifall könnte
   Behandeln lassen
10. - Hat der Herr mich aber
   Nicht bloß mit einer theatral'schen Schnurre11
   Zum besten; ist der Fall ein Faktum; hätt'
   Er sich wohl gar in unsrer Diözes'12,
   In unsrer lieben Stadt Jerusalem
   Ereignet: - ja alsdann -
TEMPELHERR.             Und was alsdann?                                     2530
PATRIARCH. Dann wäre an dem Juden fördersamst13
   Die Strafe zu vollziehn, die päpstliches
   Und kaiserliches Recht so einem Frevel,
   So einer Lastertat bestimmen.
TEMPELHERR.                       So?
PATRIARCH. Und zwar bestimmen obbesagte14 Rechte
   Dem Juden, welcher einen Christen zur
   Apostasie15 verführt, - den Scheiterhaufen, -
   Den Holzstoß -
TEMPELHERR. So?
PATRIARCH.          Und wieviel mehr dem Juden,
   Der mit Gewalt ein armes Christenkind
   Dem Bunde seiner Tauf' entreißt! Denn ist                                    2540
   Nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt?
-
   Zu sagen: - ausgenommen, was die Kirch'
   An Kindern tut.

TEMPELHERR. Wenn aber nun das Kind,
   Erbarmte seiner sich der Jude nicht,
   Vielleicht im Elend umgekommen wäre?
PATRIARCH. Tut nichts! der Jude wird verbrannt!16 - Denn besser,
   Es wäre hier im Elend umgekommen,
   Als dass zu seinem ewigen Verderben
   Es so gerettet ward. - Zudem, was hat
   Der Jude Gott denn vorzugreifen?
Gott                                        2550
   Kann, wen er retten will, schon ohn' ihn retten.
TEMPELHERR. Auch trotz ihm17 sollt' ich meinen, - selig machen.
PATRIARCH. Tut nichts! der Jude wird verbrannt.
TEMPELHERR.                                                      Das geht
   Mir nah'! Besonders, da man sagt, er habe
   Das Mädchen nicht sowohl in seinem, als
   Vielmehr in keinem Glauben auferzogen,
   Und sie von Gott nicht mehr nicht weniger
   Gelehrt, als der Vernunft genügt.
18
PATRIARCH.                              Tut nichts!
   Der Jude wird verbrannt . .
. Ja, wär' allein
   Schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt                                 2560
   Zu werden! - Was? ein Kind ohn' allen Glauben
   Erwachsen lassen? - Wie? die große Pflicht,
   Zu glauben, ganz und gar ein Kind nicht lehren?

   Das ist zu arg! Mich wundert sehr, Herr Ritter,
   Euch selbst . . .
TEMPELHERR. Ehrwürd'ger Herr, das übrige,
   Wenn Gott will, in der Beichte19 . (Will gehn.)
PATRIARCH.                            Was? mir nun
   Nicht einmal Rede stehn? - Den Bösewicht,
   Den Juden mir nicht nennen? - mir ihn nicht
   Zur Stelle schaffen? - O da weiß ich Rat!
   Ich geh sogleich zum Sultan. - Saladin,                                        2570
   Vermöge der Kapitulation20,
   Die er beschworen, muss uns, muss uns schützen;
   Bei allen Rechten, allen Lehren schützen,
   Die wir zu unsrer allerheiligsten
   Religion
nur immer rechnen dürfen!
   Gottlob! wir haben das Original.
   Wir haben seine Hand, sein Siegel. Wir! -
   Auch mach ich ihm gar leicht begreiflich, wie
   Gefährlich selber für den Staat es ist,
   Nichts glauben! Alle bürgerliche Bande                                         2580
   Sind aufgelöset, sind zerrissen, wenn
   Der Mensch nichts glauben darf. - Hinweg! hinweg
   Mit solchem Frevel! . . .
TEMPELHERR.          Schade, dass ich nicht
   Den trefflichen Sermon21  mit bessrer Muße
   Genießen kann! Ich bin zum Saladin
   Gerufen
.22
PATRIARCH. Ja? - Nun so - Nun freilich - Dann -
TEMPELHERR. Ich will den Sultan vorbereiten, wenn
   Es Eurer Hochehrwürden so gefällt.
PATRIARCH. Oh, oh! - Ich weiß, der Herr hat Gnade funden
   Vor Saladin! - Ich bitte meiner nur                                                2590
   Im Besten bei ihm eingedenk zu sein. -
   Mich treibt der Eifer Gottes23 lediglich.
   Was ich zuviel tu, tu ich ihm. - Das wolle
   Doch ja der Herr erwägen! - Und nicht wahr,
   Herr Ritter? das vorhin Erwähnte von
   Dem Juden, war nur ein Problema24? - ist
   Zu sagen -
TEMPELHERR. Ein Problema. (Geht ab.)
PATRIARCH.                            (Dem ich tiefer
   Doch auf den Grund zu kommen suchen muss.
   Das wär' so wiederum ein Auftrag für
   Den Bruder Bonafides
.25)26 - Hier, mein Sohn!                                   2600
(Er spricht im Abgehn mit dem Klosterbruder.)
 

 

Public Domain Mark
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Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar

1   Prunk
2   als Bischof/Patriarch Inhaber der Kirchengealt
3   nach einer Audienz/einem öffentlichen Empfang oder öffentlich vollzogenen Ereignis, in der Öffentlichkeit
4   zur Ehre und zum Nutzen
5   angenommen (dass)
6   erfindet, sich ausdenkt, einen fiktiven Fall darstellt
7   Eine ähnliche Stelle findet sich in Lessings "Achtem Anti-Goeze", seiner öffentlichen Streitschrift mit dem Hamburger Hauptpastor »Johann Melchior Goeze (1717-1787) , in dem Lessing gegen den Einwand Goezes, die fabelhafte Geschichte von einem lutherischen Prediger lasse sich nicht beweisen, mit den Worten argumentiert: "Folget auf den bloß möglichen Fall nicht ebendas, was aus dem wirklichen Fall folgen würde?" (P/O, Bd.23, S.238) (→Gert Egle (2014): Der Fragmentenstreit - Die Kontroverse Lessings mit Goeze)
8   geistreicher Einfall, Gedankenspiel
9   lohnt
10  Anspielung Lessings auf den so genannten Fragmentenstreit; auf das gegen ihn verhängte Publikationsverbot in theologischen Fragen durch das Herzogliche Konsistorium des Herzogs »Karl I (1713-1780) von Braunschweig-Wolfenbüttel schrieb Lessing am 6. September 1778 an »Elise Reimarus (1735-1805), die Tochter des angesehenen Hamburger Orientalisten und Gymnasiallehrers »Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), dessen religionskritische Schriften Lessing unter dem Titel "Fragmente des Ungenannten" 1773-1777 veröffentlichte: "Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel. auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen" (Lessing, zit. n. Kluge/Radler, 9. Aufl., 1974, S.140)
11  scherzhafte, witzige Erzählung, Posse
12  Diözese: Amtsgebiet eines katholischen Bischofs
13  so bald als möglich, unverzüglich
14  h: die (gerade) erwähnten
15  Abfall vom christlichen Glauben
16  →Das→Motiv des (Ver-)Brennens taucht an anderen Stellen des Dramas immer wieder auf,  vgl. I,2 V 177, I,6 V 773,  - vgl. Anmerkung (1) zu I,1 V 13 , I,2 V 177, IV,7: "Verbrennen" der Familie Nathans beim Judenpogrom in Gath 18 Jahre vor Einsetzen der dramatischen Handlung (→Vorgeschichte),
17  trotz seiner, ungeachtet seiner, ihm zum Trotz
18  Der Tempelherr äußert hier die Überzeugung, dass Nathan Recha im →aufklärerischen Sinne nach »deistischen Prinzipien erzogen hat.
19  In der »römisch-katholischen Kirche und der »orthodoxen Kirche ist sie eines der sieben Sakramente, die als Sündenbekenntnis gegenüber einem das Sakrament der Buße spendenden Priester unter den fünf Voraussetzungen »Gewissenserforschung, »Reue, »guter Vorsatz, »Bekenntnis und »WiedergutmachungKatholischer Erwachsenenkatechismus) abgelegt werden kann. Das Bußsakrament wirkt die Wiederherstellung der Taufgnade, die für das ewige Leben bei Gott notwendig ist. (»Lossprechung von den Sünden/Absolution)
20  Vertrag; hier gemeint der Vertrag, der zum Abschluss des →Waffenstillstandes von 1192 führte; die hier erwähnten Rechte sind indessen historisch nicht bewiesen;
21  Rede, (Straf-)Predigt, auch abwertend: Geschwätz, vergleichbar mit der Redewendung: seinen Senf dazugeben
22  vgl. III,7 V 2099 und  III,9 V 2164f.
23  Engagement für Gott, Streben, Einsatz
24  eine theoretische Streitfrage
25  Bonafides = lat. guter Glaube, onomapoetischer, sprechender Name
26 ad spectatores: monologisches Beiseite (a parte) V 2597ff. - vgl. IV,7 V 2958f.

Textauswahl

Gesamttext (Recherche-/Leseversion

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 05.05.2021

 
 

 
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