Wer
im Mittelalter auf einem Markt beim Diebstahl von Lebensmitteln erwischt
wurde, konnte schnell am Pranger landen. Dabei wurde der Straftäter z.
B. an einen Holzpfosten gefesselt und öffentlich vorgeführt. Wer an dem
Angeprangerten vorbeikam, der durfte ihn vielerorts nicht nur
beschimpfen, sondern auch mit Gegenständen bewerfen. Wer am Pranger
stand, war als Konsequenz der Schande, die er zu erdulden hatte, ganz
oder zumindest für lange Zeit aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
Als
der deutschstämmige US-Basketballstar ▪
Dirk Nowitzki im Januar 2012 in einem
▪ ING-Diba-Werbespot
in einer Metzgerei eine Scheibe Fleischwurst verspeiste, wurde er
mitsamt der Firma für die er warb, an den Pranger unserer Zeit gestellt.
Im Internet brach ein Sturm der Entrüstung von Veganern und Vegetariern
los, die darin einen Skandal sahen. In einem so genannten Shitstorm
entluden aufgebrachte Internetnutzer, was sie vom Fleischkonsum
allgemein, dem Töten von Tieren und Menschen, die sich beim Fleischessen
auch noch zu Werbezwecken ablichteten, hielten. Mit ihren Posts
überfluteten sie die Facebook-Seite der Bank und fügten ihr damit einen
nicht bezifferbaren Imageschaden zu.
"Shitstorm (englisch shitstorm, 'Scheißesturm', zusammengesetzt aus shit
'Scheiße' und storm 'Sturm')", so wird in ▪
Wikipedia (25.2.2015) ausgeführt, "bezeichnet im Deutschen das
Auftreten des als
▪ Flamewar
bekannten Phänomens bei Diskussionen im Rahmen von sozialen Netzwerken,
Blogs oder Kommentarfunktionen von Internetseiten. Der Duden definiert
einen Shitstorm als 'Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium
des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht'.
Typisch für einen Shitstorm ist darüber hinaus, dass die Verfasser von
Posts und Tweets sowohl inhaltlich wie auch in der Art der
Formulierungen (häufig aggressiv, beleidigend oder auch bedrohend) oft
deutlich über das ursprüngliche Ziel und den ursprünglichen Anlass
hinausschießen und damit eine eigene Dynamik entwickeln.
Wohl gemerkt,
während an den alten Pranger im Normalfalle ein Straftäter auf Anordnung
der Gerichtsbarkeit gestellt wurde, speisten sich dieser und andere
Shitstorms aus dem vermeintlich politisch ganz korrekten Energiehaushalt
von Wutbürgern, die "Dampf ablassen" und solche öffentlichen
"Bekenntnisse" zu "ungehemmtem" Fleischverzehr künftig verhindern
wollten. Und so manchem, der an einem Shitstorm ähnlicher Art, der sich
gegen politisch Verantwortliche oder Prominente ebenso richten kann, wie
gegen Firmen und Institutionen, sieht darin eine neue Möglichkeit, vom
Schreibtisch oder besser vom mobilen Endgerät an jedem Ort und zu jeder
Zeit politisch "mitmischen" zu können.
Die Vorstellungen von
▪ politischer Beteiligung,
die dahinter stehen, sind für das, was viele - ihrem Alltagsverständnis
folgend - für politische Partizipation (von lat. participare =
teilhaben) halten, nicht untypisch.
Denn im Alltagsgebrauch
wird darunter oft verstanden, sich irgendwie politisch oder
sozial zu engagieren. Manch einer meint auch, dass ▪
politisches
Interesse schon als politische Partizipation aufgefasst werden kann.
Und manche sind sogar der Ansicht, dass das "Liken" bestimmter Informationen
im Web (Stichwort: »Clicktivism)
oder das Tragen eines Schriftzuges wie z.B. "Rettet die Wale" auf dem
T-Shirt schon zeige (Stichwort: »Slacktivism),
dass man nicht nur politisch interessiert, sondern auch willens sei,
politisch mitzumischen.
Allerdings gibt es auch in der Wissenschaft
heutzutage ernsthafte Stimmen, die angesichts der neuen
Online-Interaktionsformen, wie sie z. B. bei "liking" und "sharing" (Facebook) oder "favoriting" und "tweeting"
bzw. "retweeting" (Twitter) praktiziert werden, fordern, dass solche niederschwelligen Partizipationsformen zu einer Erweiterung bzw.
Neudefinition des Begriffs der politischen Partizipation führen müssten.
(vgl. Buchstein 1996,
Voss 2014,
Kneuer 2014, S.199f.)
Die Politikwissenschaft
versteht unter unter politischer Partizipation allerdings (nur) solche
Handlungen, "die Bürger freiwillig mit dem Ziel vornehmen,
Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu
beeinflussen." (Kaase 1997, S.160)
Eine derart strenge Definition wird indessen nicht von allen geteilt.
So werden politische Partizipationshandlungen und soziales und
gesellschaftliches Engagement auch häufig unter dem Oberbegriff
bürgerschaftliches oder
zivilgesellschaftliches
Engagement zusammengefasst. (vgl.
ebd.)
Schon seit langem hat man in der Politikwissenschaft aber auch darauf hingewiesen,
dass man vor allem wohl "bei kollektiven Erscheinungen politischer Partizipation" nicht
davon ausgehen kann, dass jede Person, die daran teilnimmt, auch "eine
instrumentelle, auf politische Ziele hin gerichtete
Partizipationsmotivation" besitzt (Kaase
1995b, S.462).
So macht es vielen u. U. auch einfach "Spaß"
mitzumachen und mit einem minimalen Kosten-Nutzen-Aufwand zu denen
dazuzugehören, die sich auf diese Art und Weise miteinander vernetzen.
Eine solcherart hedonistisch orientierte Partizipation reicht indessen
wohl kaum aus, den mitunter langwierigen und mitunter auch mit
Enttäuschungen verlaufenden Prozess der Einflussnahme auf politische
Entscheidungen über einen längeren Zeitraum zu gehen. Und diejenigen,
insbesondere Jüngere, die sich an den neuen Formen niederschwelliger
Partizipation beteiligen, haben die offensichtlich auch nicht im Sinn.
Ihnen geht es darum, ein Zeichen zu setzen und dafür reicht ihnen
offenbar auch eine symbolische Form politischer Beteiligung, wie sie z.
B. beim "liking" und "sharing" in den großen sozialen
Netzwerken oder beim "favoriting" und "
tweeting" bzw. "retweetíng"
mit Hilfe von twitter möglich ist. Dass dahinter natürlich auch die
mangelnde Bereitschaft steht, sich längerfristig für ein bestimmtes Ziel
einzusetzen, liegt auf der Hand. (vgl. auch:
Ritzi u.a. 2012, S.261)
Ein »Shit-Storm
in den sozialen Medien, wie ihn so manche Firma wegen irgendeines ihr
unterstellten Fehlverhaltens über sich hat ergehen lassen müssen (»Beispiele
von Shitstorms), ist natürlich häufig eine einem realen Sturm
vergleichbare Front Unzufriedener, erleidet aber doch oft das gleiche
Schicksal wie sein reales Pendant: Nach dem Sturm fällt er eben wieder
in sich zusammen.
Dennoch: Die
"Lust am Shitstorm", welche die Aktivität vieler prägt, die daran
teilnehmen, kann als ein Beispiel für die hedonistische
Partizipation im Zeitalter des Interents gelten. Weiß der Himmel,
wohin das führt!
Gert Egle (2015), zuletzt bearbeitet am:
26.01.2020