Für Spike,
wie ihn die anderen in der Klasse mit einer gewissen Bewunderung nennen,
gilt in der Schule, was er auch als Fußballspieler in der B-Jugend,
stets von seinem Trainer hört: "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel." Das
Spiel freilich, das er in der Schule spielt, ist natürlich ein anderes
als auf dem grünen Rasen. Aber viel mehr als noch auf dem Fußballplatz
kommt es hier auf Strategie und Taktik an, vor allem dann, wenn man
jedes Jahr gegen den Abstieg spielt. Sven (17), so heißt Spike in
Wahrheit, ist ein grandioser Kicker, spielt auf der Doppel-Sechs, und
mit seinem Verein fast jedes Jahr um die Meisterschaft, in der Schule
aber geht es immer nur um die Frage: Komme ich dieses Jahr noch mal
durch oder bleibe ich hängen? Seine Welt heißt Fußball, dafür gibt er
alles, und mit seinen Freunden trifft er sich regelmäßig in echt
und bei Facebook. In der Klasse weiß eigentlich jeder, wie er Jahr für
Jahr die Versetzung schaffte: "Spike" mogelte sich durch, mehr als alle
anderen und offenbar auch geschickter. "Spike" ist ein Spicker, der
sämtliche Tricks kennt und noch nie erwischt wurde.
"Täuschungsversuch" nennt sich in offizieller Leseart, was bei Schülern
gerne mal mogeln, spicken oder schummeln genannt wird. Abschreiben beim
Vordermann, von einem "Spicker" oder Spickzettel oder vom Smartphone
wird noch immer, sofern man erwischt wird, mit Noten- oder Punktabzug,
einer glatten Sechs und, wenn's schlecht kommt, auch noch mit Arrest
oder mit der von einem Erziehungsberechtigten zu leistenden Unterschrift
bestraft. Allerdings nicht mehr überall. Insbesondere für demütigende
Elternunterschrift haben Schülerinnen und Schüler von heute kein
Verständnis mehr, sie sagen, das sei ihre Sache, etwas, was nur ihre
Lehrer und sie anginge, aber doch bitte nicht die Eltern. Dabei geht es
hier wohl mehr ums Prinzip als um die Tatsache, dass die Eltern sich zu
Hause wirklich auf die Seite der Lehrkraft schlagen würden. Anne spricht
es ganz unverblümt aus: "Mein Vater z. B. sagt dann: 'Kannst du dich
nicht schlauer anstellen? Du bist doch eigentlich intelligent genug."
Wenn sich Eltern und Kinder zusammentun, dann hat die Schule schlechte
Karten. Da kann es dann schon einmal vorkommen, dass die Lehrerin auf
dem Elternabend an den Pranger gestellt wird, weil sie "viel zu hart"
gegen ein im Grunde doch hochintelligentes Verhalten von Jugendlichen
vorgehe, die sich auf alle erdenkliche Art und Weise über neue
Spicktrends auf einschlägigen Webseiten informiert, die neuesten
YouTube-Videos angesehen und in ihrer Facebook-Gruppe eine Diskussion
darüber geführt hätten, was man nun wirklich für die kommende Klausur
wissen müsse, um sich entsprechend vorzubereiten. Und schließlich, so
heißt es dann, um den Sack zuzumachen, hätten es die Kids von heute doch
ohnehin so schwer: Stress, Stress und wieder Stress und dann noch so
viele Vokabeln aufgeben. "Merken die Lehrer denn gar nicht," meint Frau
Klistenburger, Elternbeiratsvorsitzende eines Konstanzer Gymnasiums,
"dass unsere Kinder am Anschlag sind?"
Das sehen
freilich viele Lehrer anders. Wer von ihnen nur einmal nach dem Wort
"spicken" gegoogelt hat, weiß inzwischen, dass er/sie als Lehrkraft,
während einer Klassenarbeit auf sich allein gestellt, auf verlorenem
Posten steht. Unzählige Webseiten listen eine Spickmethode nach der
anderen auf, beschreiben sie bis ins Detail und holen sich durch
interaktive Formulare auch noch das Feedback der Schummler ein, um den
Betrug immer weiter zu perfektionieren. Wer das Netzwerk der Spicker
einmal in Augenschein genommen hat, weiß, dass Lehrkräfte stets den
Entwicklungen hinterherlaufen werden. Und die Kluft zwischen den
digital natives, den Schülerinnen und Schülern, und den digital
immigrants, den Lehrerinnen und Lehrern, wird auch in punkto Spicken
immer größer. Die Schülerinnen und Schüler sind vernetzt mit Gott und
der Welt, sind allesamt auf Facebook (im Moment jedenfalls). Sie leben
auch in und mit diesen sozialen Netzwerken und arbeiten darin, mit mehr
oder weniger Geschick, an der Vergrößerung ihres Sozialkapitals. Das
ist, um es vereinfacht zu sagen, die Menge der Menschen, die ihnen, wenn
sie auf irgendeine Art und Weise Hilfe benötigen, ihre soziale
Unterstützung geben. Schülerinnen und Schüler haben ihr
Sozialkapital auch in punkto Spicken deutlich vergrößert, über das
Internet und die sozialen Netzwerke.
Und ihre Lehrerinnen und Lehrer? Nicht selten leben sie in einem
Pädagogen-Ghetto, können also gerade mal von den Erfahrungen ihrer
eigenen Leute profitieren, müssen in punkto Spicken auf ihre eigenen
Erfahrungen vergangener Schülertage zurückgreifen und bekommen an dieser
Front nur mit, was sich in einer Fünf-Minuten-Pause zwischen Kopierer
und Lehrerzimmer auf die Schnelle kommunizieren lässt..
Spicken ist in Deutschland eine weit verbreitete Unart. Laut Statistik
soll jeder fünfte Schüler Spickzettel basteln und, wenn es an Prüfungen
in der Sekundarstufe geht, bekennen dies sogar bis zu 60%.1
Schon in die Jahre gekommen sind die Zahlen, welche die Schweizerische
Bildungsforscherin Margit Stamm in einer Umfrage (1997) mit 189
Oberstufenschülern beiderlei Geschlechts ermittelt hat.2:
Von ihnen fanden immer nur ein vergleichsweise geringer Prozentsatz,
dass folgenden Handlungen überhaupt als Spicken bezeichnet werden
könnten: Abschreiben der Hausaufgaben (2,5 Prozent), Schulbanknotiz
benützen (11%), Spickzettel des Nachbarn lesen (7,5%), für jemand
anderen zu Hause einen Spickzettel verfassen (6,5%), während der Prüfung
für jemand anderen einen solchen schreiben (15%), sich einflüstern
lassen (18%), Formeln auf dem Deckel des Arbeitsheftes benützen (22%).
Wohlgemerkt, alles noch vor dem Internet, dem Web 2.0 und sozialen
Netzwerken. Ein Tor, wer glaubt, dass die digital natives von
heute mit ihren Smartphones, in einer Zeit von copy and paste,
anderes Schuldbewusstsein hätten. Denn wozu noch etwas lernen, wenn man
es doch einfach auch bei Wikipedia "nachschlagen" kann.
Dazu kommt dann noch, dass die Front derer, die dem Spicken einen
Heiligenschein verpassen, von etlichen Eltern haben wir schon
gesprochen, auch noch weit über die Schummler hinausreicht. Da hat doch
das Schulmuseum Nürnberg gar eine Schau mit 1.500 Spickzetteln aus aller
Herren Länder zusammengestellt, die in den letzten 100 Jahren von
prüfungsgeplagten, aber äußerst schöpferischen Schülerinnen und Schülern
angefertigt wurden. Und wer die Besprechungen liest, die zu dieser
Wanderausstellung in verschiedenen Zeitungen verfasst worden sind, muss
das Gefühl bekommen, dass Spickzettel nicht im entferntesten eine
Verfehlung im Sinne eines bewussten Täuschungsmanövers, sondern
eigentlich "berührende Geschichten" seien, so der Direktor des
Nürnberger Schulmuseums Mathias Rösch. Dabei ist er noch, wie die
Eltern, der Ansicht, dass Spicken gar nicht so schlecht wie sein Ruf
sein, denn schließlich müsse sich ein guter Spickzettelschreiber sehr
intensiv mit der Prüfüngsmaterie auseinandersetzen. Viel begriffen, so
scheint es, haben er und seine Ausstellungsmacher aber offenbar
von der schönen neuen Betrugswelt, die sich mit Smartphones und mobilem
Internet auftut, offenbar nicht. Denn der Spickzettel der letzten
hundert Jahre hat längst ausgedient.
Spike ist dagegen auf der Höhe der Zeit, er ist Netzwerker, ist
Entwickler in der Community derer, die dem" toten Wissen in der Schule",
wie sie sagen, den Kampf angesagt haben. Er ist, soviel sollte nun
klar sein, mit konventionellen Methoden der Spicker-Jagd im
Klassenzimmer von den Lehrern nicht mehr zu stellen. Zu raffiniert, zu
intelligent und ohne jeden Skrupel, sich auch auf Kosten der anderen
einen Vorteil zu verschaffen. Und genau hier liegt auch die Chance, dem
Übel, aller Netzwerkerei der Betrüger zum Trotz, entgegenzuwirken. Die
USA machen es vor, auch wenn vielleicht auch dort im Gefolge der
Zuckerbergs & Co der Zahn der Zeit daran schon nagt: Eltern, die viel
Schulgeld für ihre Kinder bezahlen, wollen nicht, dass ihr Sprößling
sein Wissen einfach mit einem x-beliebigen Faulpelz "sharet", die
Konkurrenz unter den Schülerinnen und Schülern ist sehr groß und auch
die Bezeichnung für den "Täuschungsversuch" hat dort einen anderen
Klang. Während es bei uns schlicht spicken heißt (von lateinisch spicere),
spricht man dort klar aus, worum es geht. Denn die Vokabel dort dafür
lautet to cheat, auf Deutsch; betrügen. Vielleicht gelingt es
diejenigen, die keine Cheater sein wollen, einmal Mut zu machen, sich
gemeinsam mit den Lehrern gegen die zu stellen, die um ihrer eigenen
Zukunft willen, im gnadenlosen Kampf um Lehrstellen, Studien- und
Arbeitsplätze einfach nur ihren persönlichen Vorteil suchen. Denn den
Cheatern haftet meistens noch ein weiterer Makel an, den man in
Deutschland an den Schulen unter Schülern schon immer geächtet hat: Das
Nicht-abschreiben-Lassen. Cheater sind nämlich meistens auch
schlechte Sharer.
1
Wetterauer Zeitung, 11.6.2010, 22.03.12
2 zit. n. Süddeutsche Zeitung v. 18.10.1997
Paul Kunder, www.teachsam.de,
22.03.2012, zuletzt bearbeitet:
14.01.2024
▪
Jens
Ludwig, Cheatah (Interpretation einer Kurzgeschichte)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.01.2024