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Auf der Jagd nach "Spike"

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Jens Ludwig, Cheatah (Interpretation einer Kurzgeschichte)

Auf der Jagd nach "Spike" - Spicken im Zeitalter von Smartphone und mobilem Internet
von Paul Kunder

Für Spike, wie ihn die anderen in der Klasse mit einer gewissen Bewunderung nennen, gilt in der Schule, was er auch als Fußballspieler in der B-Jugend, stets von seinem Trainer hört: "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel." Das Spiel freilich, das er in der Schule spielt, ist natürlich ein anderes als auf dem grünen Rasen. Aber viel mehr als noch auf dem Fußballplatz kommt es hier auf Strategie und Taktik an, vor allem dann, wenn man jedes Jahr gegen den Abstieg spielt. Sven (17), so heißt Spike in Wahrheit, ist ein grandioser Kicker, spielt auf der Doppel-Sechs, und mit seinem Verein fast jedes Jahr um die Meisterschaft, in der Schule aber geht es immer nur um die Frage: Komme ich dieses Jahr noch mal durch oder bleibe ich hängen? Seine Welt heißt Fußball, dafür gibt er alles, und mit seinen Freunden trifft er sich regelmäßig in echt und bei Facebook. In der Klasse weiß eigentlich jeder, wie er Jahr für Jahr die Versetzung schaffte: "Spike" mogelte sich durch, mehr als alle anderen und offenbar auch geschickter. "Spike" ist ein Spicker, der sämtliche Tricks kennt und noch nie erwischt wurde.
"Täuschungsversuch" nennt sich in offizieller Leseart, was bei Schülern gerne mal mogeln, spicken oder schummeln genannt wird. Abschreiben beim Vordermann, von einem "Spicker" oder Spickzettel oder vom Smartphone wird noch immer, sofern man erwischt wird, mit Noten- oder Punktabzug, einer glatten Sechs und, wenn's schlecht kommt, auch noch mit Arrest oder mit der von einem Erziehungsberechtigten zu leistenden Unterschrift bestraft. Allerdings nicht mehr überall. Insbesondere für demütigende Elternunterschrift haben Schülerinnen und Schüler von heute kein Verständnis mehr, sie sagen, das sei ihre Sache, etwas, was nur ihre Lehrer und sie anginge, aber doch bitte nicht die Eltern. Dabei geht es hier wohl mehr ums Prinzip als um die Tatsache, dass die Eltern sich zu Hause wirklich auf die Seite der Lehrkraft schlagen würden. Anne spricht es ganz unverblümt aus: "Mein Vater z. B. sagt dann: 'Kannst du dich nicht schlauer anstellen? Du bist doch eigentlich intelligent genug." Wenn sich Eltern und Kinder zusammentun, dann hat die Schule schlechte Karten. Da kann es dann schon einmal vorkommen, dass die Lehrerin auf dem Elternabend an den Pranger gestellt wird, weil sie "viel zu hart" gegen ein im Grunde doch hochintelligentes Verhalten von Jugendlichen vorgehe, die sich auf alle erdenkliche Art und Weise über neue Spicktrends auf einschlägigen Webseiten informiert, die neuesten YouTube-Videos angesehen und in ihrer Facebook-Gruppe eine Diskussion darüber geführt hätten, was man nun wirklich für die kommende Klausur wissen müsse, um sich entsprechend vorzubereiten. Und schließlich, so heißt es dann, um den Sack zuzumachen, hätten es die Kids von heute doch ohnehin so schwer: Stress, Stress und wieder Stress und dann noch so viele Vokabeln aufgeben. "Merken die Lehrer denn gar nicht," meint Frau Klistenburger, Elternbeiratsvorsitzende eines Konstanzer Gymnasiums, "dass unsere Kinder am Anschlag sind?"

Das sehen freilich viele Lehrer anders. Wer von ihnen nur einmal nach dem Wort "spicken" gegoogelt hat, weiß inzwischen, dass er/sie als Lehrkraft, während einer Klassenarbeit auf sich allein gestellt, auf verlorenem Posten steht. Unzählige Webseiten listen eine Spickmethode nach der anderen auf, beschreiben sie bis ins Detail und holen sich durch interaktive Formulare auch noch das Feedback der Schummler ein, um den Betrug immer weiter zu perfektionieren. Wer das Netzwerk der Spicker einmal in Augenschein genommen hat, weiß, dass Lehrkräfte stets den Entwicklungen hinterherlaufen werden. Und die Kluft zwischen den digital natives, den Schülerinnen und Schülern, und den digital immigrants, den Lehrerinnen und Lehrern, wird auch in punkto Spicken immer größer. Die Schülerinnen und Schüler sind vernetzt mit Gott und der Welt, sind allesamt auf Facebook (im Moment jedenfalls). Sie leben auch in und mit diesen sozialen Netzwerken und arbeiten darin, mit mehr oder weniger Geschick, an der Vergrößerung ihres Sozialkapitals. Das ist, um es vereinfacht zu sagen, die Menge der Menschen, die ihnen, wenn sie auf irgendeine Art und Weise Hilfe benötigen, ihre soziale Unterstützung geben. Schülerinnen und Schüler haben  ihr Sozialkapital auch in punkto Spicken deutlich vergrößert, über das Internet und die sozialen Netzwerke.

Und ihre Lehrerinnen und Lehrer? Nicht selten leben sie in einem Pädagogen-Ghetto, können also gerade mal von den Erfahrungen ihrer eigenen Leute profitieren, müssen in punkto Spicken auf ihre eigenen Erfahrungen vergangener Schülertage zurückgreifen und bekommen an dieser Front nur mit, was sich in einer Fünf-Minuten-Pause zwischen Kopierer und Lehrerzimmer auf die Schnelle kommunizieren lässt..

Spicken ist in Deutschland eine weit verbreitete Unart. Laut Statistik soll jeder fünfte Schüler Spickzettel basteln und, wenn es an Prüfungen in der Sekundarstufe geht, bekennen dies sogar bis zu 60%.1 Schon in die Jahre gekommen sind die Zahlen, welche die Schweizerische Bildungsforscherin Margit Stamm in einer Umfrage (1997) mit 189 Oberstufenschülern beiderlei Geschlechts ermittelt hat.2:  Von ihnen fanden immer nur ein vergleichsweise geringer Prozentsatz, dass folgenden Handlungen überhaupt als Spicken bezeichnet werden könnten: Abschreiben der Hausaufgaben (2,5 Prozent), Schulbanknotiz benützen (11%), Spickzettel des Nachbarn lesen (7,5%), für jemand anderen zu Hause einen Spickzettel verfassen (6,5%), während der Prüfung für jemand anderen einen solchen schreiben (15%), sich einflüstern lassen (18%), Formeln auf dem Deckel des Arbeitsheftes benützen (22%). Wohlgemerkt, alles noch vor dem Internet, dem Web 2.0 und sozialen Netzwerken. Ein Tor, wer glaubt, dass die digital natives von heute mit ihren Smartphones, in einer Zeit von copy and paste, anderes Schuldbewusstsein hätten. Denn wozu noch etwas lernen, wenn man es doch einfach auch bei Wikipedia "nachschlagen" kann.

Dazu kommt dann noch, dass die Front derer, die dem Spicken einen Heiligenschein verpassen, von etlichen Eltern haben wir schon gesprochen, auch noch weit über die Schummler hinausreicht. Da hat doch das Schulmuseum Nürnberg gar eine Schau mit 1.500 Spickzetteln aus aller Herren Länder zusammengestellt, die in den letzten 100 Jahren von prüfungsgeplagten, aber äußerst schöpferischen Schülerinnen und Schülern angefertigt wurden. Und wer die Besprechungen liest, die zu dieser Wanderausstellung in verschiedenen Zeitungen verfasst worden sind, muss das Gefühl bekommen, dass Spickzettel nicht im entferntesten eine Verfehlung im Sinne eines bewussten Täuschungsmanövers, sondern eigentlich "berührende Geschichten" seien, so der Direktor des Nürnberger Schulmuseums Mathias Rösch. Dabei ist er noch, wie die Eltern, der Ansicht, dass Spicken gar nicht so schlecht wie sein Ruf sein, denn schließlich müsse sich ein guter Spickzettelschreiber sehr intensiv mit der Prüfüngsmaterie auseinandersetzen. Viel begriffen, so scheint es, haben er und seine  Ausstellungsmacher aber offenbar von der schönen neuen Betrugswelt, die sich mit Smartphones und mobilem Internet auftut, offenbar nicht. Denn der Spickzettel der letzten hundert Jahre hat längst ausgedient.

Spike ist dagegen auf der Höhe der Zeit, er ist Netzwerker, ist Entwickler in der Community derer, die dem" toten Wissen in der Schule", wie sie sagen,  den Kampf angesagt haben. Er ist, soviel sollte nun klar sein, mit konventionellen Methoden der Spicker-Jagd im Klassenzimmer von den Lehrern nicht mehr zu stellen. Zu raffiniert, zu intelligent und ohne jeden Skrupel, sich auch auf Kosten der anderen einen Vorteil zu verschaffen. Und genau hier liegt auch die Chance, dem Übel, aller Netzwerkerei der Betrüger zum Trotz, entgegenzuwirken. Die USA machen es vor, auch wenn vielleicht auch dort im Gefolge der Zuckerbergs & Co der Zahn der Zeit daran schon nagt: Eltern, die viel Schulgeld für ihre Kinder bezahlen, wollen nicht, dass ihr Sprößling sein Wissen einfach mit einem x-beliebigen Faulpelz "sharet", die Konkurrenz unter den Schülerinnen und Schülern ist sehr groß und auch die Bezeichnung für den "Täuschungsversuch" hat dort einen anderen Klang. Während es bei uns schlicht spicken heißt (von lateinisch spicere), spricht man dort klar aus, worum es geht. Denn die Vokabel dort dafür lautet to cheat, auf Deutsch; betrügen. Vielleicht gelingt es diejenigen, die keine Cheater sein wollen, einmal Mut zu machen, sich gemeinsam mit den Lehrern gegen die zu stellen, die um ihrer eigenen Zukunft willen, im gnadenlosen Kampf um Lehrstellen, Studien- und Arbeitsplätze einfach nur ihren persönlichen Vorteil suchen. Denn den Cheatern haftet meistens noch ein weiterer Makel an, den man in Deutschland an den Schulen unter Schülern schon immer geächtet hat: Das Nicht-abschreiben-Lassen. Cheater sind nämlich meistens auch schlechte Sharer.

 

1 Wetterauer Zeitung, 11.6.2010, 22.03.12

2 zit. n. Süddeutsche Zeitung v. 18.10.1997

Paul Kunder, www.teachsam.de, 22.03.2012, zuletzt bearbeitet: 14.01.2024

Jens Ludwig, Cheatah (Interpretation einer Kurzgeschichte)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 14.01.2024

   
   Arbeitsanregungen
  1. Fassen Sie den Inhalt des Textes in Form einer strukturierten Textwiedergabe zusammen.
  2. Nehmen Sie zu den Aussagen des Textes in Form eines kommentierenden Leserbriefs Stellung.

Arbeitsanregungen zur Texterörterung

  1. Arbeiten Sie heraus, wie der Verfasser das Spicken generell beurteilt.

  2. Zeigen Sie dabei auf, mit welchen Positionen er sich auseinandersetzt.

  3. Erörtern Sie den Lösungsansatz, den der Verfasser vorschlägt, um das Spicken einzudämmen.

 
 
 

 
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