Albert Einstein (1950)
Eine Botschaft an die italienischen Atomforscher
Sollen wir die Erkenntnis der Wahrheit oder - bescheidener
ausgedrückt - das Begreifen der erfahrbaren Welt durch konstruktives
Denken als ein selbständiges Ziel unseres Strebens wählen? Oder soll
dies Streben nach vernünftiger Erkenntnis irgendwelcher Sorte von
andersartigen, z.B. "praktischen" Zielen untergeordnet werden?
Das bloße Denken hat kein Mittel, diese Frage zu entscheiden. Die
Entscheidung hat aber erheblichen Einfluss auf unser
Denken und Werten,
vorausgesetzt, dass sie den Charakter unerschütterlicher Überzeugung
hat. Lassen Sie mich also bekennen: Für mich ist das Streben nach
Erkenntnis eines von denjenigen selbstverständlichen Zielen, ohne welche
für denkende Menschen eine bewusste Bejahung des Daseins nicht möglich
erscheint.
Wie steht nun der wissenschaftliche Mensch von heute im sozialen Körper
der Menschheit? Er ist wohl irgendwie stolz darauf, dass die Arbeit von
seinesgleichen, wenn auch zumeist indirekt, das wirtschaftliche Leben der
Menschen durch die nahezu totale Eliminierung der Muskelarbeit total
umgestaltet hat. Er ist auch wohl bedrückt darüber, dass seine
Forschungsergebnisse eine akute Bedrohung der Menschheit mit sich gebracht
haben, nachdem die Früchte dieser Forschung in die Hände seelenblinder
Träger der politischen Gewalt gefallen sind. Er ist sich des Umstand bewusst,
dass die auf seinen Forschungen fußenden technischen Methoden zu einer
Konzentration der wirtschaftlichen und damit auch der politischen Macht in
die Hände kleiner Minoritäten geführt haben, von deren Manipulationen
das Schicksal des immer noch amorph erscheinenden Haufens der Individuen
völlig abhängig geworden ist. Noch mehr: Jene Konzentration der
wirtschaftlichen und politischen Macht in wenigen Händen hat nicht nur
eine äußere materielle Abhängigkeit auch des wissenschaftlichen
Menschen mit sich gebracht; sie bedroht auch seine Existenz von innen,
indem sie durch die Schaffung raffinierter Mittel geistiger und seelischer
Beeinflussung den Nachwuchs unabhängiger Persönlichkeiten unterbindet.
So sehen wir an dem wissenschaftlichen Menschen ein wahrhaft tragisches
Schicksal sich vollziehen. Getragen von dem Streben nach Klarheit und
innerer Unabhängigkeit, hat er durch seine schier übermenschlichen
Anstrengungen die Mittel zu seiner äußeren Versklavung und seiner
Vernichtung von innen her geschaffen. Von den Trägern der politischen
Macht muss er sich einen Maulkorb umhängen lassen. Er wird gezwungen, als
Soldat sein eigenes Leben zu opfern und fremdes Leben zu zerstören, auch
wenn er von der Sinnlosigkeit des Opfers überzeugt ist. Er sieht zwar mit
aller Klarheit, dass der historisch bedingte Umstand, dass die
Nationalstaaten die Träger der wirtschaftlichen, politischen und damit
auch der militärischen Macht sind, zur Vernichtung aller führen muss. Er
weiß, dass nur die Ablösung der Methoden der nackten Gewalt durch eine
übernationale Rechtsordnung die Menschen retten kann. Aber es ist schon
so weit damit gekommen, dass er die von den Nationalstaaten über ihn
verhängte Sklaverei als unabwendbares Schicksal hinnimmt. Er erniedrigt
sich sogar so weit, dass er auf Befehl die Mittel für die allgemeine
Vernichtung der Menschen vervollkommnen hilft.
Muss der wissenschaftliche Mensch wirklich alle diese Erniedrigungen über
sich ergehen lassen?
Ist die Zeit vorbei, in der seine innere Freiheit und die Selbständigkeit
seines Denkens und Forschens das Leben der Menschen hat erhellen und
bereichern dürfen? Hat er nicht in einem nur aufs Intellektuelle
eingestellten Streben seine Verantwortlichkeit und Würde vergessen? Einen
innerlich freien und gewissenhaften Menschen kann man zwar vernichten,
aber nicht zum Sklaven oder zum blinden Werkzeug machen.
Wenn der wissenschaftliche Mensch unserer Tage Zeit und Mut fände, seine
Situation und Aufgabe ruhig und kritisch zu erwägen und entsprechend zu
handeln, so würden die Aussichten auf eine vernünftige und befriedigende
Lösung der gegenwärtigen gefahrvollen internationalen Situation
wesentlich verbessert werden.
(zit. n.: Charles Noel Martin: Hat die Stunde X
geschlagen?
Die wissenschaftlichen Tatsachen über die Wirkung der Wasserstoffbombe,
Frankfurt 1955, S. 8-10)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.12.2023
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