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Robert Musil, Die Affeninsel
In der Villa
Borghese in Rom steht ein hoher Baum ohne Zweige und Rinde. Er ist so kahl
wie ein Schädel, den die Sonne und das Wasser blank geschält haben, und
gelb wie ein Skelett. Er steht ohne Wurzeln aufrecht und ist tot, und wie
ein Mast in den Zement einer ovalen Insel gepflanzt, die so groß ist wie
ein kleiner Flussdampfer und durch einen glatt betonierten Graben vom
Königreich Italien getrennt wird. Dieser Graben ist gerade so breit und an
der Außenwand so tief, dass ein Affe ihn weder durchklettern noch
überspringen kann. Von außen herein ginge es wohl; aber zurück geht es
nicht. Der Stamm in der Mitte bietet sehr gute Griffe dar und lässt sich,
wie Touristen so etwas ausdrücken, flott und genussfroh durchklettern.
Oben aber laufen waagrechte, lange, starke Äste von ihm aus; und wenn man
Schuhe und Strümpfe auszöge und mit einwärts gestellter Ferse die Sohlen
fest an die Rundung des Astes schmiegte und mit voreinander greifenden
Händen auch recht zugriffe, müsste man gut an das Ende eines dieser von
der Sonne gewärmten langen Äste gelangen können, die sich über den grünen
Straußfedern der Pinienwipfel hinausstrecken. Diese wundervolle Insel
wird von drei Familien von verschiedener Mitgliederzahl bewohnt. Den Baum
bevölkern etwa fünfzehn sehnige, bewegliche Burschen und Mädchen, die
ungefähr die Größe eines vierjährigen Kindes haben; am Fuße des Baumes
aber lebt in dem einzigen Gebäude der Insel, einem Palast von Form und
Größe einer Hundehütte, ein Ehepaar weit mächtigerer Affen mit einem ganz
kleinen Sohne. Das ist das Königspaar der Insel und der Kronprinz. Nie
kommt es vor, dass sich die Alten in der Ebene weit von ihm entfernen; wächterhaft regungslos sitzen sie rechts und links von ihm und blicken
geradeaus an ihren Schnauzen vorbei ins Weite. Nur einmal in der Stunde
erhebt sich der König und besteigt den Baum zu einem inspizierenden
Rundgang. Langsam schreitet er dann die Äste entlang, und es scheint
nicht, dass er bemerken will, wie ehrfürchtig und misstrauisch alles
zurückweicht und sich — um Hast und Aufsehen zu vermeiden — seitlings vor
ihm herschiebt, bis das Ende des Astes kein Entweichen mehr zulässt und
nur ein lebensgefährlicher Absprung auf den harten Zement übrig bleibt. So
schreitet der König, einen nach dem anderen, die Äste ab, und die
gespannteste Aufmerksamkeit kann nicht unterscheiden, ob sein Gesicht
dabei die Erfüllung einer Herrscherpflicht oder einer Terrainkur
ausdrückt, bis alle Äste entleert sind und er wieder zurückkehrt. Auf dem
Dache des Hauses sitzt inzwischen der Kronprinz allein, denn auch die
Mutter entfernt sich merkwürdigerweise jedes mal zur gleichen Zeit, und
durch seine dünnen, weit abstehenden Ohren scheint korallenrot die Sonne.
Selten kann man etwas so Dummes und Klägliches dennoch von einer
unsichtbaren Würde umwallt sehen wie diesen jungen Affen. Einer nach dem
anderen kommen die zur Erde gejagten Baumaffen vorbei und könnten ihm den
dünnen Hals mit einem Griff abdrehen, denn sie sind sehr missmutig, aber
sie machen einen Bogen um ihn und erweisen ihm alle Ehrerbietung und
Scheu, die seiner Familie zukommt.
Es braucht
eine längere Zeit, ehe man bemerkt, dass außer diesen ein geordnetes Leben
führenden Wesen noch andere von der Insel beherbergt werden. Verdrängt von
der Oberfläche und der Luft, lebt in dem Graben ein zahlreiches Volk
kleiner Affen. Wenn sich einer von ihnen oben auf der Insel zeigt, wird er
schon von den Baumaffen unter schmerzlichen Züchtigungen wieder in den
Graben gescheucht. Wenn das Mahl angerichtet wird, müssen sie scheu
beiseite sitzen, und erst wenn alle satt sind und die meisten schon auf
den Ästen ruhen, ist es ihnen erlaubt, sich zu den Küchenabfällen zu
stehlen. Selbst das, was ihnen zugeworfen wird, dürfen sie nicht berühren.
Denn es kommt vor, dass ein böser Bursche oder ein scherzhaftes Mädchen,
obgleich sie blinzelnd Verdauungsbeschwerden heucheln, nur darauf warten,
und vorsichtig von ihrem Ast heruntergleiten, sobald sie merken, dass die
Kleinen es sich ungebührlich wohl ergehen lassen. Schon huschen da die
wenigen, die sich auf die Insel gewagt haben, schreiend in den Graben
zurück und mengen sich zwischen die anderen; und das Klagen hebt an: und
jetzt drängt sich alles zusammen, so dass eine kleine Fläche von Haar und
Fleisch und irren, dunklen Augen sich an der abseitigen Wand emporhebt wie
Wasser in einem geneigten Bottich. Der Verfolger geht aber nur den Rand
entlang und schiebt die Woge von Entsetzen vor sich her. Da erheben sich
die kleinen schwarzen Gesichter und werfen die Arme in die Höhe und
strecken die Handflächen abwehrend vor den bösen fremden Blick, der vom
Rande herabsieht. Und allmählich heftet dieser Blick sich an einem fest;
der rückt vor und zurück und fünf andere mit ihm, die noch nicht
unterscheiden können, welcher das Ziel dieses langen Blicks ist; aber die
weiche, vom Schreck gelähmte Menge lässt sie nicht vom Platze. Dann nagelt
der lange gleichgültige Blick den zufälligen einen an; und nun wird es
ganz unmöglich, sich so zu beherrschen, dass man weder zuviel noch zu wenig
Angst zeigt: während sich ruhig eine Seele in eine andere bohrt, bis der
Hass da ist und der Sprung losschnellen kann und ein Geschöpf ohne Halt
und Scham unter Peinigungen wimmert. Mit befreitem Geschrei rasen da die
anderen auseinander, den Graben entlang; sie flackern lichtlos
durcheinander wie die besessenen Seelen im Fegefeuer und sammeln sich
freudig schnatternd an der entferntesten Stelle.
Wenn alles
vorbei ist, steigt der Verfolger mit federnden Griffen den großen Baum
hinan bis zum höchsten Ast, schreitet bis an dessen äußerstes Ende hinaus,
setzt sich ruhig zurecht und verharrt ernst, aufrecht und ewig lange, ohne
sich zu regen. Der Strahl seines Blickes ruht auf den Wipfeln des Pincio
und der Villa Borghese, quer darüber hin; und wo er die Gärten verlässt,
liegt hinter ihm die große gelbe Stadt, über der er, noch in die grüne,
schimmernde Wolke der Baumwipfel gehüllt, achtlos in der Luft schwebt.
(aus: Robert Musil, Nachlass zu Lebzeiten, 1936)
Terrainkur: ein Spaziergang zur Erholung in
der Umgebung eines Kurorts
Dieses Werk (Die Affeninsel von Robert Musil) das durch Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
*Robert Musil, geb. 6.11.1880, gest. 15.4.42; Tod durch Gehirnschlag;
Studium der Philosophie, Psychologie und Mathematik; ab 1922 freier
Schriftsteller; 1938 Emigration über Italien nach Zürich; lebte zuletzt
isoliert, einsam und fast mittellos in Genf; bekannteste Werke: Der Mann
ohne Eigenschaften (Roman, 1936); Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
(Novelle, 1906)
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