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Harald Müller
Distanzen
Er schaute in die gleißende Kunstsonne über sich. An ihren
Rändern verwandelte sich das weiße Licht und löste sich in seine bunten
Bestandteile auf. Sein Sessel war weit nach hinten gekippt. Die Brille hatte
er schon abgenommen. Eigentlich eine entspannte Lage: Liegen, ausruhen,
warten – was wollte er mehr? Im rechten Augenwinkel konnte er eine Ablage
aus hellem Resopal erkennen, auf der einige chromblitzende Instrumente
lagen. Vor sich sah er durch ein Fenster, konnte aber wegen seiner extremen
Schräglage die Straße nicht erkennen. Die Häuser begannen im dritten Stock
und endeten in einem blassblauen Himmel. Es würde ein sonniger Tag werden.
Links befand sich ein kleines Tischchen aus Metall, beweglich aufgehängt,
dahinter ein winziges Waschbecken mit Spülung. Hinter sich hörte er
Schritte. Sie näherten sich. Näherten sich und wurden wieder leiser. Er war
ruhig. Wunderte sich über seine fast schon fatalistische Ruhe. Er wusste,
dass ihm in spätestens einer halben Stunde die Gesichtsmuskeln schmerzen
würden. Den Mund lange und weit zu öffnen war nicht seine Stärke. Wenn er
nur etwas zu lesen hätte. Leider wurde man ja immer zu früh aus dem
Wartezimmer in den Behandlungsraum gelotst, gerade wenn man sich eingelesen
hatte. Hier war nun an lesen nicht zu denken. Er begann zu überlegen, wie
die Technik dieses Raumes funktionierte. Die Kraftübertragung des Bohrers
mittels einer flexiblen Welle, womöglich über Kardangelenke, Druckluft
vielleicht?. Dazu eine Wasserversorgung über einen Schlauch direkt in den
Kopf des Bohrers. Früher, erinnerte er sich, hatte man noch trocken gebohrt
mit dem charakteristischen Geruch von verbranntem Menschenmaterial.
Die Schritte wurden wieder lauter. Sie verebbten links neben ihm. Ein
zartes, braungebranntes Gesicht beugte sich über ihn, Augenbrauen und
Wimpern in Großaufnahme. Dann die streng nach hinten gekämmten braunen
Haare, eine kleine, etwas vorwitzig nach oben stehende Nase und ein Mund,
der mit seinen vollen Lippen einladend und spöttisch zugleich wirkte.
Der Doktor kommt gleich, begann sie die Konversation. Er: Dann bringen wir‘s hinter uns, bevor er sich's anders überlegt und in Urlaub fährt. Wir
machen erst nächste Woche zu-. Dann hoffe ich, dass Sie schönes Wetter
haben, es soll ja wohl wechselhaft bleiben-. Das ist mir ganz egal, ich
fliege in die Dominikanische Republik. Oh! Er überlegte, warum er das
eigentlich noch nie gemacht hatte, schließlich verdiente er sicher doppelt
so viel wie eine Zahnarztgehilfin.
Von rechts näherte sich jetzt eine massige Gestalt und streckte ihm ihre
Hand entgegen. Er drückte sie fest, er wollte auf keinen Fall jetzt schon
Schwäche zeigen. So, Herr Reichle, dann wollen wir mal. - Eva! Injektion
vorbereiten! schnarrte es. Eva zuckte zusammen und beeilte sich, dem Befehl
zu entsprechen. Max schloss die Augen. Die Spritze wollte er lieber nicht
sehen. Sein Pulsschlag war etwas erhöht, die Muskeln angespannt. Er merkte,
wie er sich verkrampfte. Den Einstich fühlte er nur einen Moment, dann
begann die linke Gesichtshälfte pelzig zu werden. Nach kurzer Zeit spürte
er, wenn er die Zunge bewegte, überhaupt keine Berührung mehr in der linken
Mundhälfte. Eva beugte sich jetzt weit über ihn, um den Absaugschlauch an
seinen Unterkiefer zu halten. Er sah ihre makellose Haut, den klaren
Kontrast ihrer Pupillen. War das natürlich oder waren das besonders
raffinierte Kontaktlinsen? Unter der grünen Arbeitskleidung zeichnete sich
im Profil die Rundung ihrer rechten Brust ab. Sie roch leicht nach Parfum.
Als sie ihre Hand auf seine Wange legte, wünschte er, dieser Zustand möge
ewig dauern. Aber Dr. Mangold war unerbittlich, drängte sich zwischen das
Licht und Eva mit seiner porigen, rötlichen Haut und seinen rotgeränderten
Augen. Seine Linke hatte sich mit dem Daumen im Kiefer eingehakt. Max hätte
ihn beißen können, aber dieser kleine taktische Vorsprung wäre schnell
verspielt. Man kämpft besser nicht mit seinem Zahnarzt. Als der Bohrer die
Drehzahl erhöhte, krampften sich Maxens Hände um die Sessellehne. Er wartete
auf einen Schmerz, der nicht kommen wollte. Lediglich eine Vibration
übertrug sich vom Bohrer über den Kiefer auf seinen Knochenbau. Der Schmerz
kam langsam über die Wangenmuskulatur, die sich von der Anstrengung des
Öffnens verkrampfte. Er setzte sich fort in den Lippen, die Mangolds
Klammergriff – auch er verkrampfte sich – auf die untere Zahnreihe drückte.
Max fürchtete, dass der Bohrer auf dem Grund des Zahns doch noch zu spüren
sein würde. Auch die Vorstellung, an seinem eigenen Speichel ersticken zu
müssen, machte ihm zeitweilig zu schaffen. Da beides nicht eintraf, lockerte
er den Griff um die Armlehne wieder ein wenig und wandte seine Gedanken
wieder Eva zu. Sie wirkte unendlich sanftmütig, während Mangold langsam zu
schwitzen begann , noch röter wurde und etwas Berserkerhaftes bekam. Oh Eva,
so nah und doch so unerreichbar, wann hatte er je diese Distanz
ausgehalten? War sie überhaupt auszuhalten, war es nicht dumm, sie einfach
zu ertragen, die Gelegenheit verstreichen zu lassen und womöglich am Glück
seines Lebens vorbeizuschlittern? In amerikanischen Filmen würde man
wenigstens flirten und damit das Happy End vorbereiten, vielleicht Mangold
aus dem Feld schlagen. Aber er lag da, hatte die Kontrolle über seinen
Gesichtsausdruck längst verloren und offenbarte sich Eva von seiner kariösen
und schleimigen Seite. Konnten Zahnarzthelferinnen überhaupt noch küssen,
ohne sich zu ekeln?
Helga! Jetzt fiel ihm ein, woher er dieses Gefühl der nicht
überbrückbaren Nähe kannte. Seinen ersten Körperkontakt mit Helga hatte er
gehabt, als er sie – das musste schon 30 Jahre her sein – mit seinem
Schlauchboot auf den Engrazhofer Weiher mitgenommen hatte. Man saß hinter
einander. Sie vorn , er paddelte hinten, um den Überblick zu behalten. Er
berührte sie nur mit seinen Füßen. Dabei erregte ihn ihre Nähe so, dass von
Überblick keine Rede sein konnte. Er war froh, dass er nicht selbst zum
Objekt ihrer oder – noch schlimmer – fremder Blicke wurde. Ihre langen,
glatten, braunen Haare, die bis zu seinen Füßen reichten. Warum hatte er die
Gelegenheit damals nicht genutzt? Weil sie erst 14 war, weil er Angst hatte?
Wovor? Helga gab es wahrscheinlich gar nicht mehr. Nicht dass er an ihren
Tod geglaubt hätte, aber was wäre eine Helga ohne diese Haare, die sie
garantiert geschnitten hatte, ohne diese Jugend, die mit Sicherheit vorbei
war, ohne ihr breites, offenes Lächeln, das mit einiger Wahrscheinlichkeit
verkniffen und schmallippig geworden war? Eigentlich ist eine Substanz ohne
Akzidentien völlig belanglos. Selbst die Substanz, das Material erneuerte
sich ja beständig. Von Helga war demnach keine einzige Körperzelle mehr
übrig.
Dafür war Eva real und leibhaftig. Er hätte sie am liebsten gefragt, ob
sie nicht die Helga von damals spielen könnte. Sie hätte sich über den
perversen Alten entrüstet. Helga war, so hatte Max jedenfalls gehört, mit
Otto Maurus verheiratet. Dem roten Otto mit den unzähligen Sommersprossen
und dem Bürstenhaarschnitt. Früher hatte man das einen Mecki genannt. Meckis
waren in Engrazhofen damals sehr gefragt gewesen. Damals, das hieß vor
nunmehr 38 Jahren, als er mit Otto, Franz, Franz-Xaver, Franz-Eberhart,
Josef, Peter und den anderen, deren Namen er vergessen hatte, die
Grundschule besuchte. Grundschule hieß damals Volksschule. Meckis waren
praktisch, weil einen der Lehrer nicht an den Haaren ziehen konnte.
Jedenfalls hatte ihn eine Unbekannte namens Marlene Schmid zum 45er Treffen
nach Engrazhofen geladen. Und das sollte heute Abend sein.
Doktor Mangold stand mittlerweile der Schweiß in Perlen auf der Stirn.
Seine Hand drückte immer stärker auf die Lippe, die Zähne bohrten sich
tiefer ein. Max empfand seine Wangenmuskulatur als einen einzigen
schmerzenden Klumpen. Das Bohrloch spürte er immer noch nicht, obwohl es
schon ziemlich tief sein musste. Sein Blick suchte den linken, oberen
Horizont nach Eva ab, die von Mangold gerade in barschem Ton weggeschickt
worden war, weil der Bohrer offenbar am Ende war. Max freute sich heimlich,
immerhin hatte sein Zahn diesem Bohrer den Rest gegeben. Als Eva wieder
erschien und sich über ihn beugte, merkte er, dass sie geweint hatte. Diese
Trauer in 50cm Entfernung war kaum auszuhalten. Mangold, der grobe Klotz,
schien davon nichts zu merken oder nichts merken zu wollen. So etwas
überprüft man vorher! Spiegel! Absaugen! Langsam begann Max Mangold zu
hassen.
In genau 10 Stunden würde er den Ochsen betreten und erfahren, ob Helga
noch Helga und Otto noch ihr Mann wäre. Falls sie kämen.
Es kam dann alles ganz anders. Er hatte bereits alle Anwesenden mit
Handschlag begrüßt, als Otto, unverkennbar trotz Bart, den Raum betrat.
Betrat war eigentlich nicht ganz richtig. Otto schlich in gebückter Haltung
wie ein geprügelter Hund auf seinen Platz zu, als sei er zu einer längeren
Galeerenstrafe verurteilt. Sah so der glückliche Gewinner von Helga aus? Von
Helga war nichts zu sehen.
Während der Doktor auf die Aushärtung eines Abdrucks wartete und sich für
einen Moment entfernt hatte, konnte Max wieder Blickkontakt mit Eva
aufnehmen. In ihrer stummen Trauer erschien sie ihm geradezu unverschämt
anziehend. Leider war er wegen der klebrigen Masse in seinem Mund so sehr
mit der Abwendung seines Erstickungstodes beschäftigt, dass keinerlei Trost
über seine Lippen kam.
Auf der Rückfahrt von Engrazhofen wunderte er sich dann später, wie er
die Namen seiner Kameraden – das Wort erinnerte ihn an die Kriegserzählungen
der älteren Generation, aber vielleicht war das ja sein Kriegserlebnis
gewesen – hatte vergessen können: Albert Bischofberger, Laurentius Gmelch,
Fifi Dunst, Remig Loritz... wo sonst außer in Engrazhofen gab es noch so
kernige Namen? Er hatte sie auch nicht eigentlich vergessen. Sobald er sie
sah, erinnerte er sich.. Irgend etwas Charakteristisches hatten sie alle
behalten: Die Art, wie einer den Kopf drehte, hängen ließ oder schüttelte
blieb einem offenbar erhalten. Dabei hatten sich Physiognomie und Körperbau
durchaus verändert. Sie waren sämtlich ins Breitformat übergegangen,
sozusagen gestaucht. Max überlegte sich, dass das auf dem obligaten
Klassenfoto leicht wieder zu korrigieren wäre, sofern einer sich mit
digitaler Bildbearbeitung auskannte. Was ihn erstaunte, war, dass sie alle
seine Nähe zu suchen schienen. Obwohl er sich doch am weitesten von ihnen
entfernt hatte, suchten sie geradezu den Platz neben ihm. Er war mit 11 auf
das Gymnasium in der Kreisstadt (damals noch) und mit 18 in die nächst
größere Stadt (heute Kreisstadt) gegangen und hatte sich seit seinem Wegzug
nie mehr länger als drei Tage am Stück in Engrazhofen aufgehalten. Mehr
meinte er sich nicht zumuten zu können. Am dritten Tag verspürte er immer
einen Drang entweder mit seinen Eltern zu streiten oder sich zu
verabschieden. Die Kameraden schienen ihm das nicht als Arroganz
auszulegen, seine Befürchtung, er sei hier völlig überflüssig, weil fremd,
erwies sich als gegenstandslos.
Eine ähnlich distanzierte Vertrautheit hatte er bisher erst einmal
erlebt. Als er nach 20 Jahren zufällig einmal in Frankreich in der Nähe von
Cheny vorbeikam. Das war der Ort, in dem er als Austauschschüler einige
Wochen bei einer Arztfamilie verbracht hatte. In den besseren Kreisen war
man hier katholisch, konservativ und klassenbewusst gewesen. Monsieur
Cazassus, der Herr der Hauses und als Doktor Träger des Status, musste
damals so um die 40 gewesen sein. Jünger als Max heute, erschrak er. Mit
diesem Monsieur hatte Max, vom fernen Widerschein der Studentenbewegung via
Mattscheibe entzündet, seinerzeit politisch diskutiert. Jedenfalls soweit
sein Französisch das zuließ. Monsieur war vom Algerienkrieg geprägt und
hielt es mit der französischen Devise: Die Deutschen sollten immer stärker
als die Russen und schwächer als Frankreich sein. In den Zeiten des Kalten
Krieges eine, wie man zugeben wird, nicht ganz leicht zu erfüllende
Forderung. Max lieferte sich mit Monsieur leidenschaftliche Diskussionen
über den Wehrbeitrag der Deutschen im Allgemeinen und Maxens im Besonderen
zur Sicherung der Ostfront. Max plädierte für Wehrdienstverweigerung , aus
der Sicht Monsieurs also für die kampflose Aufgabe. Und dafür hatte Monsieur
im Süden das Abendland verteidigt - wenn auch nicht gerettet.
Als Max an jenem Sonntag das Kaff Cheny wieder aufsuchte, um seine
Erinnerung zu prüfen, fand er das Haus scheinbar unverändert. Auf sein
Klingeln hin öffnete eine korpulente blond ondulierte Dame, die dreist
behauptete, Madame Cazassus zu sein, welche er aber als reife
südfranzösische Schönheit mit olivfarbenem Teint, blendend weißen Zähnen und
schwarzen Haaren in Erinnerung hatte. Sein Schreck ließ erst nach, als ihm
Monsieur erklärte, dass ihn seine Frau verlassen habe. Er selbst litt an
Parkinson, erinnerte sich aber gut an Max. Nach kaum einer halben Stunde war
die alte Gemeinsamkeit wieder hergestellt: Max und Monsieur stritten sich
über die richtige Jugoslawienpolitik. Man musste nur ein paar Feindbilder
austauschen und die alte Schlachtordnung war wiederhergestellt. Statt der
Kommunisten waren es nun die Islamisten, statt aus dem Osten kamen sie aus
dem Südosten. Nur der Kampfauftrag war dieses Mal eher abstrakt formuliert:
Nous devons – womit ihm endlich der gemeinsame Veteranenstatus zugebilligt
wurde!
Die Feindbilder der Engrazhofer waren da viel unpolitischer. Max ließ
sich von den alten Kameraden bestätigen, dass an der Volksschule das Prügeln
zu den Hauptfächern gehört hatte, ja wahrscheinlich war es das Hauptfach
schlechthin gewesen. Nach seinem Weggang sei alles noch viel schlimmer
geworden, der hinkende Boneberger habe blindwütig mit dem Stock nach allem
geschlagen, was sich bewegte. Max konnte sich kaum vorstellen, dass das
blindwütige Schlagen des Boneberger schlimmer gewesen sein sollte als die
gezielten Züchtigungsrituale des Lehrers Vögel, die man noch gemeinsam
erlebt hatte. Vögel hatte, nachdem seine Prügelstrafen mit dem
Haselnussstock häufiger zu Passantenstaus am Klassenzimmerfenster geführt
hatten und auch ein Abkleben der Fenster bis zur Sichthöhe der außen
Vorbeigehenden nichts geholfen hatte, ein exquisites Prügelritual
eingeführt. Der Delinquent wurde in die ans Klassenzimmer angrenzende dunkle
Besenkammer geführt und dort über einen Tisch gelegt, so dass sein
Hinterteil bequem mit dem Stock zu bearbeiten war. Ein fingerdicker
Haselnussstock reichte dabei gewöhnlich für eine Woche, dann war er
abgearbeitet und wurde durch einen neuen ersetzt, den diensteifrige Schüler
auch noch selbst mitbrachten. Einmal hatte Fifi Dunst einen wunderbar
stabilen Stock mitgebracht. Vögel legte ihn zwischen zwei Bänke und stellte
die außergewöhnliche Belastbarkeit durch eine Sitzprobe fest. Danach wandte
er sich an Fifi und fragte nach den Hausaufgaben. Fifi beteuerte, wegen des
Steckensuchens keine Zeit gehabt zu haben und wurde daraufhin zum ersten
Opfer seines eigenen Stockes. Das war in der Zeit, als noch öffentlich
geprügelt wurde. Später, zur Zeit des Besenkammerrituals, gab es die
Institution des Zeugen. Irgend ein Schüler, mehrfach war es Max gewesen,
musste mit in die Besenkammer und im Hintergrund zuschauen, wie sein
Kamerad geprügelt wurde. Schon damals war es Max nicht gelungen, hinter das
System zu kommen, nach dem der Zeuge ausgewählt wurde, dass es eines gab,
setzte er einfach voraus. War es eine Warnung an den Zeugen, er sei der
nächste Delinquent? War es eine Auszeichnung für die besonders Braven?
Fifi jedenfalls war am Abend des Ehemaligentreffens der Fotograf, also
Zeuge, nicht Opfer. Max konnte gut verstehen, warum keine Lehrer geladen
waren. Verständlich auch, dass die Bauernsöhne von damals, heute
Landmaschinenmechaniker, Werkzeugmacher, Verkäufer usw. ungern über die
Schule redeten. Dass man gemeinsam dort gewesen war, sie ertragen hatte,
genügte. Es war das Merkmal der Zusammengehörigkeit, man hatte es überlebt,
wie frühere Generationen die Kriegsgefangenschaft. Man redete zwar von ihr,
aber nicht über sie. Die eigentlichen Demütigungen wurden ausgespart und
durch ein Vieldeutiges Ich kenne den Iwan! ersetzt.
Max stellte sich vor, wie dieser dickliche, freundliche Rupert Pfänder,
heute Landmaschinenmechaniker, reagieren würde, wenn man ihn daran
erinnerte, wie er beim Vögelschen Hausaufgabenappell sitzen blieb, wie sich
eine stechend riechende, gelbliche Lache unter seinem Stuhl bildete, wie er
sich an der Tischplatte festklammerte, wie das alles nichts half...
Erstaunlich, dass diese Steinzeit-Pädagogik zumindest auf den ersten
Blick keine Schäden hinterlassen hatte. Vielleicht waren das wirklich nicht
mehr dieselben, an Körper und Seele sozusagen runderneuert. Albert Häge zum
Beispiel präsentierte sich als überaus erfolgreicher Unternehmer. Er hatte
den Maschinenbau-Betrieb seines Vaters zum Global Player gemacht. Woischt
morga muss i scho widr z Florida sei. Do hommr an Deal vor. Wie er das mit
der Sprache mache, wollte Max wissen, vom Hauptschul- oder gar
Volksschulenglisch sprach er taktvoller Weise lieber nicht. Des isch koi
Problem, dodrfier honn i moin Knecht. Albert bemühte sich rundherum
zufrieden zu wirken, wie man es von einem erfolgreichen Unternehmer erwarten
konnte: Woischt i bin dohanne dr weltweit bekannteschte Engrazhofer. HME-
Häge Metallbau Engrazhofen - sei ein Begriff auf der Welt von China bis
Australien.
Dr. Mangold war mit dem ersten Abdruck offenbar noch nicht zufrieden. Max
musste erneut in die bunte Knete beißen. Nach kurzer Zeit verhärtete sich
die Masse und er fühlte sich wie einbetoniert, von Luft und Nahrung
abgeschnitten, zu einem langsamen Tod verurteilt. Glücklicherweise kam Eva
nach wenigen Minuten zurück. Eva, Engel der Drangsalierten und Ge-schundenen,
schenkte ihm ein Lächeln. Der langsame Tod rückte in die Ferne, das schöne
Leben war ganz nah. Wenigstens so lange, bis Mangold zurückkam. Schnell,
schnell! verdarb er die Stimmung. Wenigstens durfte sie ihn jetzt von der
Knetmasse erlösen.
Als der Zug in den Bahnhof von Lindau einfuhr, überlegte sich Max, ob
seine Schwierigkeiten mit Frauen, sofern man davon reden konnte, mit seiner
Volksschulzeit zusammenhingen. Er war in einer reinen Jungenklasse gewesen.
Die Mädchen waren ihm bis heute fast alle fremd geblieben. Die über 40
Mädchen – Mädla – aus der Parallelklasse kannte er nicht mit Namen. Selbst
eine Sammelbezeichnung, die ihren heutigen Zustand beschrieb, war kaum
aufzutreiben: Damen? Weiber? – Frauen war wohl korrekt, aber reichlich
farblos. Insgeheim blieb er bei Weiber, so hatte man früher schon gesagt und
je länger das Treffen dauerte, je mehr getrunken wurde desto häufiger fiel
das Wort. War gefallen, schließlich befand sich Max schon wieder auf dem Weg
nach Hause.
Beruhigend war: Ein Blick auf die Teilnehmerliste hatte ihn überzeugt,
dass die zeitliche Distanz nicht unbedingt der Legendenbildung, der
Übertreibung Vorschub leistete. In seiner Erinnerung hatte der Jahrgang aus
80 Kindern, verteilt auf zwei Klassen, bestanden. Tatsächlich war es noch
viel schlimmer gewesen: 95 standen auf der Liste, davon waren gewiss weniger
als 10 Evangelische. Das bedeutete, sie mussten im koedukativen
Religionsunterricht, wo man nach Konfessionen eingeteilt war, über 80
gewesen sein. In einem Raum! Er hatte also nicht übertrieben, wenn er die
Religionsstunden als Massenveranstaltungen beschrieben hatte. Er hatte
offenbar wirklich im 50cm-Abstand von der Tafel auf dem Boden gehockt und
den Speichelregen des jähzornigen und altersstarrsinnigen Alten über sich
ergehen lassen, den allein die Tatsache zum Religionslehrer qualifizierte,
dass sein Sohn Kaplan war. Er war übrigens auch ein Prügler, allerdings
eher von der Bonebergerschen , weil unkontrollierten Sorte. Er hatte sogar
in der Kirche zugeschlagen, wenn die Kinder seinem Sohn nicht die rechte
Aufmerksamkeit schenkten. Möglicherweise war die katholische Überlieferung
in dieser Ecke des Landes etwas einseitig. Die Vertreibung der Händler aus
dem Tempel war offenbar präsenter als die Bergpredigt. Auch am Gymnasium
waren die Religionslehrer sich treu geblieben, hatten den
Verweichlichungstendenzen der Pädagogik als letzte widerstanden und noch bis
in die Mittelstufe geschlagen.
Beißen Sie fester zu! Mangold kommandierte seinen Patienten wie seine
Gehilfin. Er hatte Max eine Matrize in den Mund geschoben, wohl weil er
sehen wollte, ob das Provisorium richtig saß. Max gehorchte und biss. Aber
seine erschlaffte Kaumuskulatur gab offenbar nicht viel her. Fester! So geht
das nicht! Als sich die Gelegenheit ergab, schielte er nach Eva. Er sah, wie
sie verstohlen nach ihrer Armbanduhr schaute. Wahrscheinlich war der nächste
Patient schon vorgesehen und der Perfektionist Mangold brauchte wieder
länger als vorgesehen. Wahrscheinlich war Max für sie ein Patient wie jeder
andere. Wahrscheinlich bildete sich der nächste schon ein, dass Eva nur
wegen ihm freundlich sei, obwohl sie es berufsmäßig war. Max fand, dass es
viel verlangt war, wegen solch einer unklaren Beziehung jedes Mal die
Mangoldschen Torturen zu ertragen. Immerhin war das nicht der erste Termin
in diesem Quartal und es würde auch nicht der letzte sein, soviel stand
fest. Sollte er sich vielleicht nach einer Friseuse umschauen? Aber nein.
Eva legte ihre Hand auf seine Schulter, ein Hauch ihres Parfums erreichte
seine Nase und Max fühlte deutlich, dass er, allein er damit gemeint war.
Nach zwei Fehlversuchen war Mangold mit dem Abdruck zufrieden. So, fertig
für heute, lassen Sie sich von Eva einen Termin geben! Max verabschiedete
sich von Mangold mit einem schlappen Händedruck. Als Eva ihm den Termin gab,
bemühte er sich um ein gewinnendes Lächeln. Allein, es wollte nicht glücken,
die Spritze wirkte noch. Max verschob den Flirt auf den nächsten Besuch.
Nachdem er sich schon ein Dutzend Geschichten vom beruflichen und
familiären Werdegang seiner ehemaligen Mitschüler angehört und auch schon
drei Viertel Trollinger getrunken hatte, setzte sich Franz Pfänder neben
ihn an den Tisch. Max hatte etwas Mühe, ihn wieder zu erkennen.
Seltsamerweise erinnerte er sich immer zuerst an den Nachnamen, ohne es sich
erklären zu können. Sie hatten sich schließlich früher doch auch mit
Vornamen angeredet. Oder hatten sie gar nicht geredet und die Lehrer immer
die Nachnamen benutzt? Pfänder war ein Riese mit Handtellern wie Klodeckel
und trotzdem wirkte er gutmütig, fast kindlich. Er erzählte von Kindern,
Musikverein und Schweinezucht, alles auf die gleiche, behäbig freundliche
Art. I bin dohanne dr letzschte Rancher sagte er resigniert. Max war
überrascht, wie sinnfällig der Strukturwandel in der Wirtschaft, das Höfesterben sich an diesem Abend dokumentierte. Zwei Drittel der Klasse
kamen von Bauernhöfen und nun war der Pfänder der letzte Rancher, der
einzige, der mit Milchquote, Agenda 2000 und all dem direkt zu tun hatte.
Und das auf dem Land. Gerade als sie die Frage vertiefen wollten, ob die
Zukunft des Bauern nicht mehr in der Pferdehaltung für den Reitbetrieb lag
als in Milchwirtschaft und Schweinezucht, ging die Tür auf .
Herein trat – nein, damit war nun wirklich nicht mehr zu rechnen – ohne
Zweifel Helga! Max erkannte sie sofort. Ihr breites Lächeln, ihre großen
Augen. Sie war nicht besonders groß, wirkte aber durch ihren aufrechten
Gang, ihr erhobenes Haupt sehr bestimmt. Einen Moment zögerte sie. Erkannte
ihn wohl. Ihr Lächeln gefror. Sie steuerte auf Otto zu, der mittlerweile
genug getrunken hatte. Er hielt sich krampfhaft an seiner Halben fest. Man
konnte den Eindruck haben, dass er mehr hing als saß. Als Helga auf ihn
einredete, senkte er den Kopf noch mehr und zog die Schultern ein, als
erwarte er Schläge. Nach einigem Hin und Her entfernte sich Helga von ihm
und sprach nacheinander zwei Männer und drei Frauen an, wobei immer ein
kurzer Blick zur Seite verriet, dass sie eigentlich auf dem Weg zu Max war,
aber noch nicht recht wusste, wie sie die Distanz überbrücken sollte.
Endlich kam sie an seinen Tisch und setzte sich wie zufällig ihm gegenüber.
Sagte Hallo, wie geht’s? und schaute ihm geradewegs in die Augen, wie das
früher schon ihre Art gewesen war.
Der Zug näherte sich Friedrichshafen. Max spürte ein Brummen im Schädel,
eigentlich spürte er vor lauter Brummen überhaupt keinen Schädel mehr. Oder
nur noch Schädel und nichts sonst. Selbst der See bereitete ihm Schmerzen,
indem er das gleißende Abendlicht reflektierte. Max versuchte sich zu
erinnern. Wie war es dazu gekommen, dass er gestern Abend plötzlich mit
Helga allein war. Er konnte sich nicht mehr sagen, ob, geschweige denn wie,
sich die andern alle verabschiedet hatten. Mit Helga zusammen musste er
wohl noch einige Viertel getrunken haben. Helga dazwischen auch noch
Schnäpse, erinnerte er sich. Helga hatte ihm von ihrem Glück mit Otto und
den beiden Töchtern erzählt. So inständig hatte sie von ihrem Glück im
Eigenheim erzählt, dass beiden klar war: Es war nicht auszuhalten. Später
wurde sie immer direkter: Du, du hast mir gefehlt. Warum hast du unsere
Geschichte einfach so beendet? Du bist kalt wie eine Hundeschnauze.
Schließlich dann: Wenn du willst, verlasse ich Otto sofort. Max erschrak und
verwies auf ihre Kinder. Helga antwortete mit einem derart entrückten
Lächeln, dass Max nicht mehr zu diskutieren wagte. Er merkte, dass sie ihm
an Entschlossenheit weit überlegen war. Sie schien geradezu auf den
Gedanken fixiert, dass er ihre Rettung sein könnte. Da er sich schuldig
fühlte, nahm er sie in den Arm. Sie bestellten Wein. Später küssten sie
sich. Noch später mussten sie sich auf dem Boden gewälzt haben. Ob sie sich
absichtlich – zu welchem Zweck? – auf den Boden gelegt hatten, ob sie im
Ringkampf – Infight – gestürzt waren oder ob der Alkohol für die nötige
Schwerkraft gesorgt hatte, war nicht mehr festzustellen. Jedenfalls hatte
die Bedienung sie übereinander liegend in einer Lache gefunden. Am Morgen
nach dem Fest! Wahrscheinlich waren sie der abendlichen Kontrolle
entgangen, da sie schon unter dem Tisch gelegen hatten. Sie waren ja die
letzten gewesen. Seine Kratzer im Gesicht und die abgerissenen Hosenknöpfe
ließen verschiedene Deutungen zu. Hatten Sie tatsächlich mitten im Ochsen
in einer Bier- und Weinlache miteinander geschlafen? Konnte man das,
angenommen es wäre so, überhaupt so nennen oder sollte man nicht lieber
analog zur Tierwelt von Paarung sprechen. Passten die Hinweise auf Aggressivität dazu?
Der Skandal in Engrazhofen war jedenfalls perfekt. Eine verheiratete
Frau! Mutter von zwei schulpflichtigen Töchtern! Wie die Tiere! Max wusste,
dass die Ochsenwirtin eine bekannte Tratschtante war. In einem Tag würde es
halb Engrazhofen wissen. Am hellen Tag hatte er sich in derangiertem Zustand
aus der Wirtschaft zum Haus seiner Eltern geschlichen, wo er eigentlich
hatte übernachten wollen. Helga hatte er liegen gelassen. Die Wirtin würde
Otto schon alarmieren. Der treue Otto würde sich wundern. Vielleicht ärgern,
aber dann wurde er sie wieder aufnehmen wie eine verlorene Tochter. Was
blieb ihm anderes übrig. Max wimmelte die Fragen seiner Eltern so knapp wie
möglich ab. Er erzähle etwas von einer Rauferei, in die er - nur schlichtend
versteht sich – eingegriffen habe. Sein Zug gehe nun leider schon bald, aber
beim nächsten Mal werde er sicher länger bleiben. Und schon war er weg. Saß
frierend auf dem Bahnhof und wartete zwei Stunden auf den Bummelzug, den
man neuerdings Regionalexpress nannte.
Friedrichshafen. In einer Stunde würde er zu Hause sein. Hatte sich etwas
geklärt? Er könnte nicht einmal sagen, ob sich Helga äußerlich sehr
verändert hatte. Wahrscheinlich hatte sie Tränensäcke und ihre Haare wären
eigentlich grau, wenn nicht gefärbt. Er war ihr in jeder Hinsicht zu nahe
gekommen. So nah, dass keine Wahrnehmung möglich war. Wie wenn man eine
Kamera zu dicht ans Objekt hält und keine Makroeinstellung vornimmt.
Gerochen hatte sie gut, aber wie geschmeckt? Genauso wie er – nach Wein.
Was, wenn sie nicht geschlafen hatte, als er sie verließ? Wenn sie bewusstlos
oder gar tot war? Unsinn, soweit kannte er sich, dass er kein Gewalttäter
war. Sicherheitshalber würde er von zu Hause einen Kontrollanruf machen.
Wenn Sie am Telefon wäre, wäre alles klar, aber wenn nicht?
Er musste an Eva denken. War sie im tiefsten Inneren auch so wie Helga?
Hatte er sie betrogen? Nein, Eva war ganz anders. Obwohl, sie hatte so
etwas im Blick, ihre Augen waren denen von Helga ähnlich. Selbst als er im
Vollrausch schon mit Helga unter dem Tisch lag – so erinnerte er sich jetzt
– hatte er noch an Eva gedacht. Er nahm sich vor, ihr beim nächsten
Zahnarzttermin die Wahrheit zu sagen. Aber welche? Die einfache, die reine
oder die volle? Max merkte, dass ihm die Adenauerschen Kriterien hier nicht
weiter halfen.
In einer halben Stunde würde er zu Hause sein.
Sophie würde ihn am Bahnhof abholen. Sie würde erschrocken nach seiner
Verletzung fragen. Sie würde sich mit der linken Hand an die Stirn fassen
und vor Aufregung das Auto abwürgen. Sie würde von den Untaten der
Zwillinge berichten und sich Fingernägel kauend über die Verkehrsregeln
hinwegsetzen. Wenn er sie daran erinnerte, würde sie ungehalten reagieren.
Sie würde ihm vorwerfen, dass er sie vernachlässige, dass er ein Egoist, ein
Besserwisser, ein Träumer sei. Später würde sie schluchzend an seiner
Schulter hängen und ihm sagen, dass sie das alles nicht mehr ertrage.
Als der Zug hielt, sah er, wie sich Sophie aus einer Gruppe am Bahnsteig
löste. Um Gottes Willen, wie siehst du denn aus! Sie fasste sich mit der
Hand an die Stirn. Max beruhigte, er habe einen kleinen Unfall gehabt, nicht
der Rede wert, im Übrigen sei er nur übernächtigt. Als sie die Tasche im
Auto verstaut hatten, setzte er sich auf den Beifahrersitz. Sophie legte den
dritten Gang ein und versuchte zu starten.
Max sagte nichts.
(veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors
2002, aus einem bis dahin unveröffentlichten Manuskript)
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