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Aspekte der Erzähltextanalyse

Komparativisches Erzählen

Thomas Mann - Buddenbrooks

 
FAChbereich Deutsch
Glossar
Literatur Literarische Gattungen Autorinnen und Autoren Thomas ManN (1875-1955) Buddenbrooks  Gesamttext/Rechercheversion Didaktische und methodische Aspekte Überblick Die Familiengeschichte der Buddenbrooks [ ASPEKTE DER ERZÄHLTEXTANALYSE Überblick Zeitgestaltung Raumgestaltung ErzählverhaltenDarbietungsformen Figurengestaltung ▪ Einzelne Figuren Komparativisches Erzählen ]Textauswahl Bausteine Links ins Internet Schreibformen Operatoren im Fach Deutsch
 

Figurengestaltung in erzählenden Texten
Überblick
Figurenkonzeption
Figurenkonstellation
Figurencharakterisierung

Baustein: Die komparativische Erzähltechnik bei d er Figurengestaltung untersuchen

Thomas Mann nutzt zur Darstellung der erzählten Welt in den • »Buddenbrooks« ein Erzählverfahren, das als komparativisches Erzählen bezeichnet wird.

Dabei geht es um die besondere erzählerische Gestaltung des im Untertitel des Romans als "Verfall einer Familie" bezeichneten Vorgangs, der sich über mehrere Generationen hinzieht. Der Untertitel zum Roman bezeichnet daher keinen  "Zustand, sondern einen Prozess [...], einen sich immer stärker beschleunigenden Vorgang als Absturz in das Ende und in den Tod" (Koopmann 1995, S.66).

Bei der Darstellung dieses Prozesses hat die komparativische Erzähltechnik besonderes Gewicht, denn "dieses komparativische Erzählverfahren schafft jenen Bezugsraum, in dem alles aufeinander zugeordnet ist." (vgl. Koopmann 1995, S.67) 

Im Unterschied zur bloßen Konstrastierung, bei der die miteinander in Kontrast stehenden Elemente vom Leser bei der Rezeption identifiziert werden müssen, werden bei diesem Verfahren bestimmte Elemente der erzählten Welt "vom Erzähler selbst in eine Beziehung zueinander gesetzt, und erst diese schafft nicht nur den Bedeutungszusammenhang innerhalb des ganzen Romans, sondern bringt auch die nötige Bewegung in den Erzählfluss, um den Verfall einer Familie als Prozess zu charakterisieren." (Koopmann 1995, S.67f.)

Wie das komparativische Erzählen in den •»Buddenbrooks« realisiert wird, zeigt sich vor allem bei der Figurengestaltung  des Romans und dabei besonders bei der Charakterisierung der Angehörigen verschiedener Generationen der Familie Buddenbrook.

Schon zu Beginn des Romans lässt es sich im Vergleich von Monsieur • Johann Buddenbrook, sen. (1765 - 1842), der die älteste Generation der Familie im Rahmen der • erzählten Zeit repräsentiert, und seinem erstgebornen Sohn aus zweiter Ehe, dem Konsul • Johann Buddenbrook, der Jüngere, (ca. 1800 - 1855) das Prinzip dieser Erzähltechnik erkennen.

Dabei gilt es zu beachten, dass die Bedeutung • Johann Buddenbrooks, sen. (1765 - 1842), dem im gesamten Roman ja nur eine untergeordnete Rolle zukommt, unter dem Aspekt komparativischen Erzählens besonders groß ist. Denn er "ist die Figur, an der alle nachfolgenden Gestalten der Familie gemessen werden. In ihm erreicht die Familie den Scheitelpunkt ihres Aufstiegs." (Keller 1988, S.173)

Das komparativische Erzählen wird in den »Buddenbrooks« von Thomas Mann bei der Charakterisierung von Johann Buddenbrook sen. und Jean Buddenbrook, dem Konsul sichtbar. 

Johann Buddenbrook, sen. (1765 - 1842)

Konsul Johann (Jean) Buddenbrook, der Jüngere, (ca. 1800 - 1855)

""Sein rundes, rosig überhauchtes und wohlmeinendes Gesicht [...] wurde von einem schneeweiß gepuderten Haar eingerahmt, und etwas wie ein ganz leise angedeutetes Zöpflein fiel auf den breiten Kragen seines mausgrauen »Rockes hinab. Er war, mit seinen siebenzig Jahren, der Mode seiner Jugend nicht untreu geworden; nur auf den Tressenbesatz* zwischen den Köpfen und den großen Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im Leben hatte er lange Beinkleider getragen. Sein Kinn ruhte breit, doppelt und mit einem Ausdruck von Behaglichkeit auf dem weißen Spitzen-Jabot.**"
(I, S.8/1) [...].

* ein aus Gold- und Silberfäden oder auch mit Seide, Lahn und Kantille gewebter Bandstreifen oder eine Borte zum Besatz von Kleidungsstücken, Tapetenbeschlägen und dergleichen. Der »Kettfaden besteht in der Regel aus gelber oder weißer Seide, der »Schussfaden aus einem Garngespinst aus Gold- oder Silberfäden.

** Spitzenrüsche, die am Hemd befestigt wird

Der Konsul "trug einen zimmetfarbenen »Rock mit breiten Aufschlägen und keulenförmigen Ärmeln, die sich erst unterhalb des Gelenks um die Hand schlossen. Seine anschließenden Beinkleider bestanden aus einem weißen, waschbaren Stoff und waren an den Außenseiten mit schwarzen Streifen versehen. Um die steifen Vatermörder*, in die sich sein Kinn schmiegte, war die seidene Krawatte geschlungen [...]. Er hatte die ein wenig tiefliegenden, blauen, aufmerksamen Augen seines Vaters, wenn ihr Ausdruck auch vielleicht träumerischer war; aber seine Gesichtszüge waren ernster und schärfer, und seine Nase sprang stark hervor, und die Wangen, bis zu deren Mitte blonde, lockige Bartstreifen liefen, waren viel weniger voll, als die des Alten." (I, S.9)

* ein steifer, vorne offener, hoher »Stehkragen des Herrenoberhemdes, dessen lose nach oben abstehenden spitzen Enden  bis über das Kinn reichen; im Biedermeier und im Vormärz, etwa zwischen 1815 und 1848 besonders beliebt;

  • hält trotz seines Alters an der Mode seiner Jugend fest, trägt die Kniebundhosen (Culettes), einen Spitzenjabot und pudert sich das Haar, d. h. er trägt wohl eine gepuderte Perücke, allesamt ein Kleidungsstil aus einer Zeit, in der sich das bürgerliche Selbstbewusstsein über die Imitation adeliger Lebensstilelemente herausbildete und auch zur sozialen Abgrenzung nach unten diente; so trug die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen angesichts ihres hohen Preises keine Perücken, sondern ihre natürliche, ungepuderte Haartracht

  • strahlt Lebensbehaglichkeit aus

  • vertritt Werte der Aufklärung (Vernunftglaube, Toleranz) 

Komparativik erkennbar am Vergleich von Aussehen und Habitus des Sohnes mit denen des Vaters 

  • trägt die aktuelle Mode seiner Zeit (lange Hosen (Pantalottes), den typischen Herrenrock, Krawatte und den für die biedermeierliche Empire-Mode in Deutschland typischen Vatermörder Halstuch und hoch stehende Kragen und die typischen langen Koteletten (Bartstreifen)

  • trägt sein natürliches Haar ungepudert, wie es der allgemeinen bürgerlichen Haarmode nach der französischen Revolution entspricht; Napoleon Bonaparte war hier wohl stilbildend und die Abkehr von der den Adel imitierenden Perückenkultur des aufstrebenden Bürgertums signalisierte wohl auch eine neue Epoche bürgerlicher Selbstdarstellung und bürgerlichen Selbstbewusstseins;

  • möglicherweise träumerischere Augen

  • ernstere und schärfere Gesichtszüge 

  • weniger volle Wangen 

Wirkung des komparativischen Erzählens
  • Porträt des Vaters gewinnt durch das nachgeschaltete Porträt des Sohnes an Plastizität und Individualität.

  • In den äußerlichen Veränderungen wird der Verfall sichtbar.

Was sich hier am Beispiel zeigt, kann auch für die ganze komparativische Figurengestaltung geltend gemacht werden: "Das eine Porträt erhält seine Glaubwürdigkeit durch das danebengehaltene Porträt des anderen" und erlangt damit "Plastizität und Individualität" (Koopmann 1995, S.67) Das gilt im Übrigen natürlich auch für die weiteren Generationen in ihrer komparativen Beziehung zueinander.

So weiß der Erzähler zu berichten, wie Habitus, Kleidungsstil und der ganze zur Schau gestellte Lebensstil von Thomas Buddenbrook (1826-1875) (3. Generation) auf die bürgerliche Öffentlichkeit in der Stadt wirkt und so manchen offenbar an einen englischen »Dandy erinnert, d. h. einen Gentleman, der besonders viel Wert darauf legt, makellos gekleidet zu sein. Ein Dandy trug gewöhnlich nur die feinsten Stoffe, dunkles Tuch oder Tweed, die von den besten Schneidern zu perfektem Sitz verarbeitet wurden. Darunter sah man meist blütenweiße Hemden, eine Krawatte oder ein Halstuch und andere elegante, dezente Accessoires. (vgl. Wikipedia):

"Über seinen Habitus und die Art, sich zu kleiden, die vielen in der Stadt offenbar bis hin zum Lebensstil im Allgemeinen den Gedanken an einen englischen »Dandy aufkommen lässt, munkelt man in der Stadt: "Ein bißchen prätentiös, dieser Thomas Buddenbrook, ein bißchen … anders: anders auch als seine Vorfahren. Man wußte, besonders der Tuchhändler Benthien wußte es, daß er nicht nur seine sämtlichen feinen und neumodischen Kleidungsstücke – und er besaß deren ungewöhnlich viele: »Pardessus, »Röcke, Hüte, Westen, Beinkleider und Krawatten – ja auch seine Wäsche aus Hamburg bezog. Man wußte sogar, daß er tagtäglich, manchmal zweimal am Tag das Hemd wechselte und sich das Taschentuch und den à la Napoleon III. ausgezogenen Schnurrbart parfümierte. Und das alles tat er nicht der Firma und der Repräsentation zuliebe – das Haus » Johann Buddenbrook« hatte das nicht nötig –, sondern aus einer persönlichen Neigung zum Superfeinen und Aristokratischen. [...] Und dann diese Zitate aus Heine und anderen Dichtern, die er manchmal bei den praktischsten Gelegenheiten, bei geschäftlichen oder städtischen Fragen in seine Rede einfließen ließ … [...] an Konsul Buddenbrook war »ein bißchen was Gewisses«  [...]“ (V,8 - S.294/176f.)  "

Die komparativischen Bezüge der Figuren zueinander reichen also auch über mehrere Generationen hinweg. So auch, wenn • Johann Buddenbrook sen. (1765-1842) kurz vor seinem Tod die Bilder seines Lebens mit dem Ausdruck "kurios" bezeichnet (vgl. S.71/39, Textauszug)  und damit im Ansatz die Reflexionen seines Enkels • Thomas Buddenbrook (1826-1875) im Rahmen des so genannten • "Schopenhauer-Erlebnisses" (vgl. S. 653-659/395-398) vorwegnimmt (vgl. Ernst Keller 1988, S.174)

Andere Akzente setzt hingegen Vogt (1995), der solchen Charakterisierungen eher eine typisierende Wirkung zuschreibt, die so angelegt sei, "dass sie Familienähnlichkeit einerseits, Generationsunterschiede andererseits herausstellen" (Vogt 1995, S.16) 

Wie dem auch sei, dass "die Rückbindung an das im Roman zentrale Thema der abgleichenden Erinnerung und Rückbesinnung auf die Vorväter, eingeflochten in das »Bauprinzip des Kontrasts« (Grawe 1988, 102)" ist, kann als unstrittig gelten und damit auch das komparative Erzählverfahren, bei dem "auf der Ebene der Figurenbeziehungen »im Porträt des Sohnes« [...]  stets auch »zugleich das des Vaters mit anwesend« (Koopmann 1975,12)" ist. (Blödorn/Zilles 2018, S.85)

So verdeutlicht der über vier Generationen dargestellte "Verfall einer Familie" zweierlei: "Das Bild des bürgerlichen Kaufmanns wird demontiert und entwertet: War Johann Buddenbrook d. Ä. auf selbstverständliche und naive Art Kaufmann, so ist es sein Sohn Jean willig, aber er reflektiert über die Moral seines Berufes aus wirtschaftlichen Gründen. Thomas Buddenbrooks Dasein kommt dem eines »Schauspielers« (677) gleich; er vollzieht eine erzwungene Anpassung, zu der sein Sohn Hanno nicht mehr in der Lage ist und sich den an ihn gestellten Forderungen als Stammhalter der Firma in spe entzieht  [...]
Die Veränderung Auffassung des Kaufmannberufs korreliert zugleich jener Verfallsgeschichte, die sich mit der sich wandelnden Haltung der Generationen zum Leben abzeichnet: Die Unbekümmertheit der ersten beiden Generationen wird mit der reflektorisch eingefärbten und religiös überhöhten Lebensauffassung Jeans und der mühsam aufrechterhaltenen 'Maske' Thomas Buddenbrooks kontrastiert und und mündet in der vierten Generation in der Selbstaufgabe." (Zilles 2018, S.83)

(Seitenangaben in der Reihenfolge a/b beziehen sich auf die folgenden Ausgaben des Textes: a) Thomas Mann, Buddenbrooks, Frankfurt; Fischer 1999/2008,; Mann, Thomas. Buddenbrooks: Verfall einer Familie (Fischer Klassik). b) FISCHER E-Books. Kindle-Version)

Baustein: Die komparativische Erzähltechnik bei der Figurengestaltung untersuchen

Figurengestaltung in erzählenden Texten
Überblick
Figurenkonzeption
Figurenkonstellation
Figurencharakterisierung

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 16.05.2024

 
 

 
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