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Figurengestaltung
in erzählenden Texten
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Überblick
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Figurenkonzeption
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Figurenkonstellation
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Figurencharakterisierung
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Baustein: Die komparativische Erzähltechnik bei d er Figurengestaltung untersuchen
Thomas Mann
nutzt zur Darstellung der erzählten Welt in den • »Buddenbrooks«
ein Erzählverfahren, das als
komparativisches
Erzählen bezeichnet wird.
Dabei geht es um
die besondere erzählerische Gestaltung des im Untertitel des Romans
als "Verfall einer
Familie" bezeichneten Vorgangs, der sich über mehrere Generationen
hinzieht. Der Untertitel zum Roman bezeichnet daher keinen "Zustand, sondern einen Prozess [...], einen sich immer
stärker beschleunigenden Vorgang als Absturz in das Ende und in den Tod" (Koopmann
1995, S.66).
Bei der Darstellung dieses Prozesses hat die komparativische
Erzähltechnik besonderes Gewicht, denn "dieses komparativische Erzählverfahren schafft jenen Bezugsraum, in dem alles aufeinander zugeordnet ist." (vgl.
Koopmann 1995, S.67)
Im Unterschied zur bloßen
Konstrastierung, bei der die miteinander in Kontrast
stehenden Elemente vom Leser bei der Rezeption identifiziert werden
müssen, werden bei diesem Verfahren bestimmte Elemente der erzählten Welt
"vom Erzähler selbst in eine Beziehung zueinander gesetzt, und erst diese schafft nicht nur den Bedeutungszusammenhang
innerhalb des ganzen Romans, sondern bringt auch die nötige Bewegung in den Erzählfluss, um den Verfall einer Familie als
Prozess zu charakterisieren." (Koopmann
1995, S.67f.)
Wie das komparativische
Erzählen in den •»Buddenbrooks«
realisiert wird, zeigt sich vor allem bei der
• Figurengestaltung
des Romans
und dabei besonders bei der
Charakterisierung
der Angehörigen
verschiedener Generationen der Familie Buddenbrook.
Schon zu Beginn des
Romans lässt es sich im Vergleich von
Monsieur •
Johann Buddenbrook, sen. (1765 - 1842),
der die älteste Generation der Familie im Rahmen der •
erzählten Zeit repräsentiert,
und seinem erstgebornen Sohn aus zweiter Ehe, dem Konsul •
Johann Buddenbrook, der Jüngere, (ca. 1800 - 1855)
das Prinzip
dieser Erzähltechnik erkennen.
Dabei gilt es zu
beachten, dass die Bedeutung •
Johann Buddenbrooks, sen. (1765 - 1842), dem im gesamten Roman ja nur eine untergeordnete Rolle zukommt, unter dem
Aspekt komparativischen Erzählens besonders groß ist. Denn er "ist die Figur, an der alle nachfolgenden Gestalten der Familie
gemessen werden. In ihm erreicht die Familie den Scheitelpunkt ihres Aufstiegs."
(Keller 1988, S.173)
Das
komparativische
Erzählen wird in den »Buddenbrooks«
von
Thomas
Mann bei der Charakterisierung von Johann Buddenbrook sen. und Jean
Buddenbrook, dem Konsul sichtbar.
Johann Buddenbrook, sen. (1765 - 1842) |
Konsul
Johann (Jean) Buddenbrook, der Jüngere, (ca. 1800 - 1855) |
""Sein rundes, rosig überhauchtes und wohlmeinendes Gesicht [...] wurde von einem schneeweiß gepuderten Haar eingerahmt,
und etwas wie ein ganz leise angedeutetes Zöpflein fiel auf den
breiten Kragen seines mausgrauen »Rockes
hinab. Er war, mit seinen siebenzig Jahren, der Mode seiner Jugend nicht untreu geworden;
nur auf den Tressenbesatz* zwischen den Köpfen und den großen
Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im Leben hatte
er lange
Beinkleider getragen. Sein Kinn ruhte breit, doppelt und mit einem Ausdruck von Behaglichkeit auf dem weißen Spitzen-Jabot.**" (I, S.8/1) [...].
* ein aus Gold- und Silberfäden oder auch mit Seide, Lahn und
Kantille gewebter Bandstreifen oder eine Borte zum Besatz von
Kleidungsstücken, Tapetenbeschlägen und dergleichen. Der »Kettfaden
besteht in der Regel aus gelber oder weißer Seide, der »Schussfaden
aus einem Garngespinst aus Gold- oder Silberfäden.
** Spitzenrüsche, die am Hemd befestigt wird
|
Der Konsul "trug einen zimmetfarbenen
»Rock mit breiten Aufschlägen und keulenförmigen Ärmeln, die sich erst unterhalb des
Gelenks um die Hand schlossen. Seine anschließenden Beinkleider bestanden aus einem weißen, waschbaren Stoff und waren
an den Außenseiten mit schwarzen Streifen versehen. Um die steifen Vatermörder*, in die sich sein Kinn schmiegte, war die
seidene Krawatte geschlungen [...]. Er hatte die ein wenig tiefliegenden, blauen, aufmerksamen Augen seines Vaters, wenn ihr
Ausdruck auch vielleicht träumerischer war; aber seine Gesichtszüge waren ernster und schärfer, und seine Nase sprang stark
hervor, und die Wangen, bis zu deren Mitte blonde, lockige Bartstreifen liefen, waren viel weniger voll, als die des Alten." (I,
S.9) * ein steifer,
vorne offener, hoher »Stehkragen
des Herrenoberhemdes, dessen lose nach oben abstehenden spitzen
Enden bis über das Kinn reichen; im Biedermeier und im
Vormärz, etwa zwischen 1815 und 1848 besonders beliebt; |
-
hält trotz seines Alters an der Mode seiner Jugend fest,
trägt die Kniebundhosen (Culettes), einen Spitzenjabot und
pudert sich das Haar, d. h. er trägt wohl eine gepuderte
Perücke, allesamt ein Kleidungsstil aus einer Zeit, in der sich
das bürgerliche Selbstbewusstsein über die Imitation adeliger
Lebensstilelemente herausbildete und auch zur sozialen
Abgrenzung nach unten diente; so trug die ganz überwiegende
Mehrheit der Menschen angesichts ihres hohen Preises keine
Perücken, sondern ihre natürliche, ungepuderte Haartracht
-
strahlt Lebensbehaglichkeit aus
-
vertritt Werte der Aufklärung (Vernunftglaube, Toleranz)
|
Komparativik erkennbar am Vergleich von Aussehen und Habitus des Sohnes mit denen des Vaters
-
trägt die aktuelle
Mode seiner Zeit (lange Hosen (Pantalottes), den typischen
Herrenrock, Krawatte und den für die biedermeierliche
Empire-Mode
in Deutschland typischen Vatermörder Halstuch und hoch stehende
Kragen und die typischen langen Koteletten (Bartstreifen)
-
trägt sein
natürliches Haar ungepudert, wie es der allgemeinen bürgerlichen
Haarmode nach der französischen Revolution entspricht; Napoleon
Bonaparte war hier wohl stilbildend und die Abkehr von der den
Adel imitierenden Perückenkultur des aufstrebenden Bürgertums
signalisierte wohl auch eine neue Epoche bürgerlicher
Selbstdarstellung und bürgerlichen Selbstbewusstseins;
-
möglicherweise träumerischere Augen
-
ernstere und schärfere Gesichtszüge
-
weniger volle Wangen
|
Wirkung des komparativischen Erzählens
Was sich hier am
Beispiel zeigt, kann auch für die ganze komparativische
Figurengestaltung geltend gemacht werden: "Das eine Porträt erhält
seine Glaubwürdigkeit durch das danebengehaltene Porträt des
anderen" und erlangt damit "Plastizität und Individualität" (Koopmann
1995, S.67) Das gilt im Übrigen natürlich auch für die weiteren
Generationen in ihrer komparativen Beziehung zueinander.
So weiß der
Erzähler zu berichten, wie Habitus, Kleidungsstil und der ganze zur
Schau gestellte Lebensstil von •
Thomas Buddenbrook (1826-1875)
(3. Generation) auf die bürgerliche Öffentlichkeit in der Stadt
wirkt und so manchen offenbar an einen englischen »Dandy
erinnert, d. h. einen Gentleman, der besonders viel Wert darauf
legt, makellos gekleidet zu sein. Ein Dandy trug gewöhnlich nur die
feinsten Stoffe, dunkles Tuch oder Tweed, die von den besten
Schneidern zu perfektem Sitz verarbeitet wurden. Darunter sah man
meist blütenweiße Hemden, eine Krawatte oder ein Halstuch und andere
elegante, dezente Accessoires. (vgl.
Wikipedia):
"Über seinen
Habitus und die Art, sich zu kleiden, die vielen in der Stadt
offenbar bis hin zum Lebensstil im Allgemeinen den Gedanken an einen
englischen »Dandy
aufkommen lässt, munkelt man in der Stadt: "Ein bißchen prätentiös,
dieser Thomas Buddenbrook, ein bißchen … anders: anders auch als
seine Vorfahren. Man wußte, besonders der Tuchhändler Benthien wußte
es, daß er nicht nur seine sämtlichen feinen und neumodischen
Kleidungsstücke – und er besaß deren ungewöhnlich viele: »Pardessus,
»Röcke,
Hüte, Westen, Beinkleider und Krawatten – ja auch seine Wäsche aus
Hamburg bezog. Man wußte sogar, daß er tagtäglich, manchmal zweimal
am Tag das Hemd wechselte und sich das Taschentuch und den à la
Napoleon III. ausgezogenen Schnurrbart parfümierte. Und das
alles tat er nicht der Firma und der Repräsentation zuliebe – das
Haus » Johann Buddenbrook« hatte das nicht nötig –, sondern aus
einer persönlichen Neigung zum Superfeinen und Aristokratischen.
[...] Und dann diese Zitate aus
Heine und anderen Dichtern, die er manchmal bei den
praktischsten Gelegenheiten, bei geschäftlichen oder städtischen
Fragen in seine Rede einfließen ließ … [...] an Konsul Buddenbrook
war »ein bißchen was Gewisses« [...]“ (V,8 - S.294/176f.) "
Die komparativischen Bezüge der Figuren zueinander reichen
also
auch über
mehrere Generationen hinweg. So auch, wenn •
Johann
Buddenbrook sen. (1765-1842) kurz
vor seinem Tod die Bilder seines Lebens mit dem Ausdruck
"kurios" bezeichnet (vgl. S.71/39,
Textauszug) und damit im Ansatz die
Reflexionen seines Enkels •
Thomas Buddenbrook (1826-1875) im Rahmen des so genannten
• "Schopenhauer-Erlebnisses" (vgl.
S. 653-659/395-398) vorwegnimmt (vgl.
Ernst
Keller 1988, S.174)
Andere Akzente
setzt hingegen
Vogt
(1995), der solchen Charakterisierungen eher eine typisierende
Wirkung zuschreibt, die so angelegt sei, "dass sie
Familienähnlichkeit einerseits, Generationsunterschiede andererseits
herausstellen" (Vogt 1995, S.16)
Wie dem auch sei,
dass "die Rückbindung an das im Roman zentrale Thema der
abgleichenden Erinnerung und Rückbesinnung auf die Vorväter,
eingeflochten in das »Bauprinzip des Kontrasts« (Grawe 1988, 102)"
ist, kann als unstrittig gelten und damit auch das komparative
Erzählverfahren, bei dem "auf der Ebene der Figurenbeziehungen »im
Porträt des Sohnes« [...] stets auch »zugleich das des Vaters
mit anwesend« (Koopmann 1975,12)" ist.
(Blödorn/Zilles 2018, S.85)
So verdeutlicht
der über vier Generationen dargestellte "Verfall einer
Familie" zweierlei: "Das Bild des bürgerlichen Kaufmanns wird
demontiert und entwertet: War Johann Buddenbrook d. Ä. auf
selbstverständliche und naive Art Kaufmann, so ist es sein Sohn Jean
willig, aber er reflektiert über die Moral seines Berufes aus
wirtschaftlichen Gründen. Thomas Buddenbrooks Dasein kommt dem eines
»Schauspielers« (677) gleich; er vollzieht eine erzwungene
Anpassung, zu der sein Sohn Hanno nicht mehr in der Lage ist und
sich den an ihn gestellten Forderungen als Stammhalter der Firma in
spe entzieht [...]
Die Veränderung
Auffassung des Kaufmannberufs korreliert zugleich jener
Verfallsgeschichte, die sich mit der sich wandelnden Haltung der
Generationen zum Leben abzeichnet: Die Unbekümmertheit der ersten
beiden Generationen wird mit der reflektorisch eingefärbten und
religiös überhöhten Lebensauffassung Jeans und der mühsam
aufrechterhaltenen 'Maske' Thomas Buddenbrooks kontrastiert und und
mündet in der vierten Generation in der Selbstaufgabe." (Zilles
2018, S.83)
(Seitenangaben in der
Reihenfolge a/b beziehen sich auf die folgenden Ausgaben des Textes: a) Thomas Mann, Buddenbrooks, Frankfurt; Fischer 1999/2008,; Mann, Thomas. Buddenbrooks: Verfall einer Familie (Fischer
Klassik). b) FISCHER E-Books. Kindle-Version)
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Baustein: Die komparativische Erzähltechnik bei der Figurengestaltung untersuchen
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.05.2024
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