Der englische Philosoph John Locke (1632-1704)
ist einer der wichtigsten Vertreter der
Aufklärung. Seine Beiträge zur Erkenntnistheorie machten ihn neben »George
Berkeley (1684–1753) und »David
Hume (1711–1776) zu einem der wichtigsten Köpfe des britischen »Empirismus
seine Vorstellungen von Staat und Gesellschaft zu einem der
Begründer des »Liberalismus.
Wie Thomas Hobbes (1588–1679) und »Jean-Jacques
Rousseau (1712–1778) prägen seine Vorstellungen über den
Gesellschaftsvertrag die Vertragstheorie.
Besonderen Einfluss haben die
Vorstellungen von Jon Locke für die Unabhängigkeitsbewegung und die
Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten gehabt: Die »Unabhängigkeitserklärung
der Vereinigten Staaten und die
Verfassung der Vereinigten Staaten, aber auch die Verfassung des »revolutionären
Frankreichs sind ganz maßgeblich von Lockes politischer Philosophie
beeinflusst. An diesen Vorbildern orientiert gelangten seine
Vorstellungen auch darüber hinaus in zahlreiche liberale Verfassungen
unserer Zeit.
John Lockes politische Theorie - darin
besteht ihr neuer Denkansatz - legt in einer bis dahin nicht
bekannten Art und Weise dar, "wie sich die Gesellschaft als eigenes
Organisationsfeld vom Staat abspaltet und ein ökonomisches und
soziologisches Eigengewicht erhält, das erlaubt, sie als die eigentlich
staatstragende Basis zu verstehen."
(Schneider1995, S.516).
Das Entstehen des Staates auf der Basis eines Gesellschaftsvertrages
leitet auch Locke von einem vorstaatlichen Naturzustand
ab. In seiner reinen Form ist er
dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen anders als in einem
Kriegszustand miteinander zusammleben:
"Hierin liegt der
deutliche Unterschied zwischen dem Naturzustand und dem
Kriegszustand. [...] Das
Zusammenleben der Menschen nach ihrer Vernunft, ohne einen gemeinsamen
Oberherrn auf Erden mit der Macht, ihnen Recht zu sprechen, bedeutet den
reinen Naturzustand. Gewalt aber oder die erklärte Absicht, gegen die
Person eines anderen Gewalt zu gebrauchen, bedeutet, wo es keinen
gemeinsamen Oberherrn gibt auf Erden, den man um Hilfe anrufen könnte,
den Kriegszustand. Und gerade das Fehlen einer solchen
Berufungsmöglichkeit gibt dem Menschen das Recht, Krieg zu führen gegen
einen Angreifer, mag er auch in der Gesellschaft leben und gleich ihm
Untertan sein. [...]
Das Fehlen eines mit Autorität ausgestatteten gemeinsamen
Richters versetzt alle Menschen in den Naturzustand; Gewalt ohne Recht,
gegen jemandes Person gerichtet, erzeugt den Kriegszustand, ganz gleich,
ob es einen gemeinsamen Richter gibt oder nicht." (aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.144 - 148 )
Dieser Naturzustand
ist also nicht grundsätzlich Kriegszustand (vgl. dagegen • Hobbes!);
dieser tritt erst dann ein, wenn der Einzelne in die Freiheit des
anderen eingreift. Aber dieser reine Naturzustand hat auch nach Locke
ohne das positive Recht und ohne eine mit entsprechender Macht
ausgestatteten Autorität, die Recht sprechen und damit den Frieden unter
den Menschen garantieren kann, keine Aussicht auf Bestand. So ist der
"Kriegszustand", der stets einhergeht mit dem Fehlen des positiven
Rechts auch eher normal im Naturzustand.
Und um diesem Kriegszustand zu
entgehen, so die Schlussfolgerung Lockes, bliebe den Menschen bei den
naturgemäß und wegen der Vernunft zur Selbsterhaltung ständig
auftretenden Streitigkeiten nur zwei Möglichkeiten: Entweder "den Himmel anzurufen" oder
"sich zu einer Gesellschaft zu vereinigen und den Naturzustand zu
verlassen". (John Locke, ebd.)
Die Bedeutung des Eigentums
Voraussetzung für die Herausbildung eines Staates ist für ihn die Entstehung von Eigentum, das die
Menschen im Naturzustand durch ihre Arbeit – andere Mittel besitzen sie
nicht – hervorbringen. Dabei bezieht sich das Recht auf Eigentum
auch auf den Menschen selbst:
"26. Gott, der die Welt den Menschen gemeinsam gegeben hat, hat ihnen auch
Vernunft verliehen, sie zum größtmöglichen Vorteil und zur
Annehmlichkeit ihres Lebens zu nutzen. Die Erde und alles, was auf ihr
ist, ist den Menschen zum Unterhalt und zum Genuss ihres Daseins gegeben.
Alle Früchte, die sie auf natürliche Weise hervorbringt, und alle Tiere,
die sie ernährt, gehören den Menschen gemeinsam, weil sie wildwachsend
von der Natur hervorgebracht werden; und niemand hat über irgendetwas,
sowie es sich in einem natürlichen Zustand befindet,
ursprünglich ein
privates Herrschaftsrecht, welches das der übrigen Menschen ausschlösse.
Da die Früchte der Erde dennoch den Menschen zu ihrem Gebrauch gegeben
sind, muss es notwendigerweise, bevor sie dem einzelnen Menschen von
irgendwelchem Wert oder nützlich sein könnten, Wege geben, auf
irgendeine Weise in ihren Besitz zu gelangen. Die Frucht oder das
Wildbret, die den wild lebenden Indianer ernähren, der sich keinerlei
Land eingegrenzt hat und alles als Gemeingut besitzt, müssen sein Eigen
sein, und zwar so sein Eigen, d.h. Teil des Seinen, dass kein anderer mehr
ein Recht darauf haben kann. Erst dann vermögen sie ihm zur Erhaltung
seines Lebens von irgendwelchem Nutzen zu sein. 27. Wenn die Erde und alle niederen Lebewesen wohl allen Menschen
gemeinsam eignen, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen
Person. Über seine Person hat niemand ein Recht als nur er allein. Die
Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände, so können wir sagen,
sind im eigentlichen Sinne sein. Was immer er also jenem Zustand
entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er
mit seiner Arbeit gemischt und hat ihm etwas hinzugefügt, was sein eigen
ist - folglich zu seinem Eigentum gemacht. Da er es jenem Zustand des
gemeinsamen Besitzes enthoben, in den es die Natur gesetzt hat, hat er ihm
durch seine Arbeit etwas hinzugefügt, was das gemeinsame Recht der
anderen Menschen ausschließt. […] 30. [...] und kraft dieses Gesetzes wird der Fisch, den jemand im
Ozean fängt - jenem großen fortdauernden Gemeingut der Menschheit -,
oder der Bernstein, den jemand dort aufliest, durch seine Arbeit zum
Eigentum dessen, der sich dieser Mühe unterzieht: Diese Arbeit nämlich
enthebt ihn jenem Zustand des gemeinsamen Besitzes, in dem ihn die Natur
belassen hat. […]" (aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.21f., S.24, S.39 )
Um das vom einzelnen durch Arbeit gewonnene
Eigentum vor willkürlichen Angriffen anderer zu schützen, drängen die
Menschen nach einer Art vertraglichen Regelung zur Sicherung ihres
Eigentums und damit letzten Endes auch nach einer überindividuellen, auf
die Gemeinschaft gegründeten staatlichen Gewalt. Insofern beruht der
Staat in der Theorie Lockes auf dem Privateigentum, das als
Voraussetzung der Staatsbildung angesehen werden muss. Die Grundlegung
des Staates auf dem Eigentumsinteresse hat insbesondere die liberale
Theorie nachhaltig beeinflusst. Sie hat nämlich unter Berufung auf John
Locke "das Eigentumsinteresse des Bürgertums zu einem
allgemeinmenschlichen und allgemeingeschichtlichen Prinzip" gemacht,
"aus dem nicht nur der bürgerliche Staat, sondern der Staat überhaupt
und seine Aufgaben gemeinhin zu erklären sind." (Döhn 1997, S.29f.)
Dabei hat sich eine ideologische Betrachtung von Staat und Gesellschaft
entwickelt, mit der sich das Bürgertum angeblich zum "Anwalt der
gesamten Menschheit" stilisierte "und die liberale Theorie seine
gesellschaftlich-politische Herrschaft rechtfertigend verschleierte."“
(ebd.)
Wie konnte sich diese Auffassung durchsetzen? Zunächst einmal erklärt
die liberale oder, allgemeiner formuliert, die bürgerliche Theorie das
Interesse der besitzenden Bürger "zum allgemeinen und setzt es mit der
menschlichen Vernunft in eins." (ebd..) Auf der Grundlage solcher
anthropologischer und vernunftmäßig rationaler Festlegungen setzt sich
das Bürgertum mit seiner ganz spezifischen Interessenlage an die Stelle
der gesamten Menschheit und gewinnt mit dieser Gleichsetzung auf Grund
bestimmter politökonomisch und sozialer Rahmenbedingungen den Kampf um
die Deutungshoheit in diesen Fragen, so dass am Ende "die Geschichte des
bürgerlichen Staates zur Geschichte des Staates überhaupt" wird.
(ebd.) Das hat, wie
Döhn (1997) weiter ausführt, zur Folge, dass "alles,
was mit dem bürgerlichen Staat und seiner Geschichte nicht
übereinstimmt, nur abgelehnt und als eine falsche, dem
allgemeinmenschlichen Interesse und Glück zuwiderlaufende
Herrschaftsordnung hingestellt" werden kann und "der bürgerliche Mensch
(…) zum Menschen schlechthin (wird)."
Auch wenn das Bürgertum dies mit
entsprechenden Theorien und Konzepten begründet, bleibt, wie
Döhn (1997)
betont, das Ganze ideologisch. Eine Ideologie freilich, die, wie sich
schließlich auch in der Französischen Revolution gezeigt habe, "einen
mitreißenden Schwung und große Anziehungskraft" besessen und auch
tatsächlich befreiende Wirkung gehabt habe.
Auf John Locke gründet sich diese
bürgerlich-liberale Theorie in ganz besonderer Weise, weil dessen
Vorstellungen von Staat und Gesellschaft eng mit seiner Vorstellung vom
Eigentum verbunden sind. John Lockes Staats- und Gesellschaftstheorie
ist ein Konzept für die bürgerliche Eigentümergesellschaft, in
dem das "Gemeinwesen (…) vor allem ein Staat der Eigentümer (ist), die
allein Vollbürger sind und Vertreter ins Parlament entsenden können in
Relation zu ihrer Nützlichkeit für das Gemeinwesen." (Schmidt-Liebich
1977, S.62)
Mündig
ist für ihn der besitzende Bürger. Dieser
erwirbt im Gegensatz zur adeligen Feudalaristokratie sein "Recht auf
Eigentum durch selbständige Arbeit" und hebt sich "durch
Kapitalakkumulation [Verzinsung erworbenen Gutes als Teil sozialer
Verantwortung] nicht nur vom Adel sondern auch von der Klasse der
Besitzlosen, den Lohnabhängigen, ab."
(Schneider 1995, S.514).
So basiert auch Lockes Konzept des
Gesellschaftsvertrags und der damit verbundenen Forderung nach Teilung
der Gewalten in Exekutive und Legislative "auf einer
Klassengesellschaft, die gerade ihren puritanischen Kinderschuhen zu
entwachsen beginnt und Eigentum als ein »vernünftiges Gut«, als durch
»vernünftige Arbeit« erworbenes politisches Anrecht begreift. Wer nichts
hat, ist also an seiner politischen Unmündigkeit selbst schuld." (ebd.)
Dementsprechend ist die Bildung von Eigentum für Locke auch eine Frage
der Vernunft, die den Dingen ihren eigentlichen Wert durch die
menschliche Arbeit verleiht, welche "absolut persönliches Eigentum des
Menschen ist". Dadurch dass jeder vernünftig handelnde Mensch sein
Eigentum beansprucht und, indem er daran arbeitet, auch Besitz als
Mehrwert von Arbeit ansammelt, handelt der einzelne stets vernünftig,
wenn er Besitz anstrebt, ansammelt und mehrt. "Damit war", wie Schneider
betont, "jeder moralischer Makel, der dem Eigentum und der Verfügung
über Kapital anhaftete, beseitigt." Wer dementsprechend unvernünftig war
oder handelte, im Grunde waren das alle Besitzlosen, konnte auch nicht
erwarten, in politischen Fragen mitentscheiden zu können, welche die
Interessen der Besitzenden betrafen (vgl.
ebd.)
Gewalteilung in Legislative und Exekutive
Die Staatstheorie i. e. S., die John Locke
konzipiert, basiert auf der Gewaltenteilung in Legislative und
Exekutive.
"143. Die legislative Gewalt ist jene, die das Recht hat zu bestimmen, wie
die Macht des Staates zur Erhaltung der Gemeinschaft und ihrer Glieder
gebraucht werden soll. Da aber jene Gesetze, die laufend vollzogen und die
immer in Kraft bleiben sollen, während kurzer Zeit geschaffen werden
können, muss sich die Legislative nicht notwendig immer im Amt befinden,
weil sie nicht ständig beschäftigt ist. Bei der Schwäche der
menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen,
dürfte es jedoch eine zu große Versuchung darstellen, wenn dieselben
Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch die Macht in der
Hand hätten, sie zu vollstrecken [...]. In wohl geordneten Staatswesen, in denen nach Gebühr das Wohl des Ganzen berücksichtigt
wird, wird deshalb die legislative Gewalt in die Hände mehrerer Personen
gelegt, welche nach ordnungsgemäßer Versammlung selbst oder mit anderen
gemeinsam die Macht haben, Gesetze zu geben, sobald dies aber geschehen
ist, wieder auseinander gehen und selbst jenen Gesetzen unterworfen sind,
die sie geschaffen haben.[...] 144. Weil aber die Gesetze, die auf einmal und während kurzer Zeit
geschaffen worden sind, von beständiger und dauernder Gültigkeit sind
und fortwährend vollstreckt oder befolgt werden sollen, ist es notwendig,
dass es eine dauernd im Amte befindliche Gewalt gibt, die darauf zu achten
hat, dass die erlassenen und in Kraft bleibenden Gesetze vollzogen werden.
So geschieht es, dass die legislative und die exekutive Gewalt oftmals
getrennt sind. 145. Es gibt noch eine andere Gewalt in jedem Staat, die man natürlich
nennen könnte, weil sie jener Gewalt entspricht, die jeder Mensch von
Natur aus vor dem Eintritt in die Gesellschaft besaß. Obwohl nämlich in
einem Staatswesen die Mitglieder in ihrem Verhältnis zueinander immer
einzelne Personen bleiben und als solche auch kraft der Gesetze der
Gesellschaft regiert werden, bilden sie doch der übrigen Menschheit
gegenüber einen einzigen Körper, der sich, wie zuvor jedes seiner
Glieder, weiterhin der übrigen Menschheit gegenüber im Naturzustand
befindet. So kommt es, dass die Streitfälle, die zwischen den der
Gesellschaft Angehörigen und anderen auftreten, die sich außerhalb von
ihr befinden, von der Öffentlichkeit gehandhabt werden und das Unrecht
gegen eines der Glieder ihres Körpers die Gesamtheit zur Wiedergutmachung
verpflichtet. So betrachtet also, ist die ganze Gemeinschaft gegenüber
allen anderen Staaten oder Personen, die sich außerhalb ihrer
Gemeinschaft befinden, ein einziger Körper im Naturzustand. 146. Darin liegt deshalb die Gewalt über Krieg und Frieden, über
Bündnisse und alle Abmachungen mit allen Personen und Gemeinschaften
außerhalb des Staatswesens, und man kann, wenn man will, von einer
föderativen Gewalt sprechen. So man nur das Richtige darunter versteht,
soll mir der Name gleichgültig sein.
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.111-112 )
Die Legislative, die zugleich die oberste Gewalt
(Souveränität) im Staat darstellt, wird von den Häusern des Parlaments
und dem König gebildet. "»King in Parliament« nennt sich das Konzept,
bei dem beide um den Preis der Handlungsfähigkeit miteinander auskommen
müssen. Zwar kann das Volk an dieser Konstruktion rütteln, "wenn es mit
Mehrheit der Meinung ist, die Treuhänderschaft der Legislative sei
seines Vertrauens nicht länger würdig." Im politischen Ernstfall
freilich waren seine Möglichkeiten zu einer wirkungsvollen Intervention
jedoch als sehr gering einzuschätzen, zumal die exekutiven Machtmittel
in der Hand des Königs und seiner Beamten liegen. So besitzt er die
so genannte Prärogative, die ihm eine Art Notstandvollmacht erteilt,
sowie das Recht zum Schließen von Bündnissen und der Abgabe von Kriegs-
und Friedenserklärungen. (vgl.
Schmidt-Liebich
1977, S.62f.)
Im Gegensatz zur Gewaltenteilungslehre von
Montesquieu wirkt die
Gewaltenteilungslehre Lockes, die nur zwei Gewalten kennt, daher
"unvollkommen, »gebremst«" (ebd.)
Zugleich werden Legislative und Exekutive in Lockes,
auf dem Konzept der Eigentümergesellschaft beruhender Gewaltenteilung
"konsequent den beiden mächtigsten gesellschaftlichen Gruppierungen
zugeordnet, die sich gegenseitig kontrollieren sollen (System der checks
and balances): die Legislative liegt in der Hand des
frühkapitalistischen, liberalistischen Besitzbürgertums und des dazu
gehörenden verbürgerlichten, weil sozial abgestiegenen Landadels, der
Gentry; die Exekutive beim König, den Kronbeamten und Kronjuristen, die
zumeist dem mittleren und Hochadel angehörten; Krieg erklären konnte der
König nach Lockes System; ob er in führen konnte, war eine Frage der
Geld- und Steuerbewilligung seitens des Parlaments. Alles in allem schuf
Locke nicht, wie oft vereinfachend dargestellt, eine Art
parlamentarischer Demokratie mit monarchischer Spitze, sondern eine
modifizierte gemäßigte Monarchie, der zur »konstitutionellen Monarchie«
nicht nur die unabhängige Jurisdiktion fehlte." (ebd.)
Das Widerstandsrecht gegen die staatliche Gewalt
Während noch Hobbes als Anhänger der absoluten
Monarchie nicht im entferntesten an ein
Widerstandsrecht gegen die
staatliche Gewalt, den Leviathan, denkt, ist dies, zumindest für des
älteren Locke von grundlegender Bedeutung.
221. So gibt es zum zweiten noch einen anderen Weg, wie Regierungen
aufgelöst werden können - nämlich, wenn die Legislative oder der Fürst
wider das in sie gesetzte Vertrauen handelt. Zunächst handelt die Legislative dem in sie gelegten Vertrauen entgegen,
wenn sie versucht, sich an dem Eigentum der Untertanen zu vergreifen und
sich selbst oder irgendeinen Teil der Gemeinschaft zum Herrn oder
willkürlichen Gebieter über Leben, Freiheit und Vermögen des Volkes zu
machen. 222. Der Grund, aus dem die Menschen in die Gesellschaft eintreten, ist
die Erhaltung ihres Eigentums und das Ziel, um dessentwillen sie eine
Legislative wählen und ihr Autorität verleihen, ist, dass Gesetze und
Vorschriften geschaffen werden, um über das Eigentum aller Glieder der
Gesellschaft zu wachen und es zu schützen und so die Macht und die
Herrschaft jedes Teiles oder Gliedes der Gesellschaft zu beschränken und
zu mäßigen. [...] Wann immer deshalb die Gesetzgeber danach
trachten, dem Volk sein Eigentum zu nehmen oder zu zerstören oder es als
Sklaven in ihre willkürliche Gewalt zu bringen, versetzen sie sich dem
Volk gegenüber in den Kriegszustand. Dadurch ist es jeden weiteren
Gehorsams entbunden und der gemeinsamen Zuflucht überlassen, die Gott
für alle Menschen gegen Macht und Gewalt vorgesehen hat. Wann immer daher
die Legislative dieses grundlegende Gesetz der Gesellschaft überschreiten
und aus Ehrsucht, Furcht, Torheit oder Verderbtheit den Versuch
unternehmen sollte, entweder selbst absolute Gewalt über Leben, Freiheit
und Besitz des Volkes an sich zu reißen oder sie in die Hände eines
anderen zu legen, verwirkt sie durch einen solchen Vertrauensbruch jene
Macht, die das Volk mit weit anderen Zielen in ihre Hände gegeben hatte,
und die Macht fällt zurück an das Volk, das dann ein Recht hat, zu
seiner ursprünglichen Freiheit zurückzukehren und durch die Errichtung
einer neuen Legislative (wie sie ihm selbst am geeignetsten erscheint)
für seine eigene Sicherheit und seinen Schutz zu sorgen - denn zu diesem
Ziel befinden sie sich in der Gesellschaft. Was ich hier über die
Legislative im Allgemeinen gesagt habe, gilt auch von dem höchsten
Träger der Exekutive. Da man in ihn ein zweifaches Vertrauen gesetzt hat,
einmal als Teil der Legislative und zum anderen durch die höchste
Vollziehung der Gesetze, handelt er beidem zuwider, wenn er sich
unterfängt, den eigenen Willen nach Belieben zum Gesetz der Gesellschaft
zu erheben. Ebenfalls wider das in ihn gesetzte Vertrauen handelt er, wenn
er entweder die Staatsgewalt, den Staatsschatz oder die Ämter der
Gesellschaft dazu benützt, die Abgeordneten zu bestechen und für seine
Absichten zu gewinnen, oder aber wenn er offensichtlich die Wähler
beeinflusst und ihrer Wahl Männer vorschreibt, die er sich durch
dringende Vorstellungen, Drohungen, Versprechungen oder sonst wie
willfährig gemacht hat und die er gebraucht, um andere durchzubringen,
die ihm im Voraus versprochen haben, wofür sie stimmen und was sie
beschließen werden. [...] 223. Hier wird man vielleicht einwenden, dass das Volk unwissend sei und
immer unzufrieden; wenn man daher die Grundlage der Regierung in die
unbeständige Meinung und den Wankelmut des Volkes lege, so liefere man es
dem sicheren Verderben aus. Auch werde keine Regierung lange bestehen
können, wenn das Volk eine neue Legislative einsetzen darf, wann immer es
an der alten Anstoß nimmt. Darauf antworte ich: Ganz im Gegenteil, das
Volk lässt sich nicht so leicht aus seinen alten Formen lösen, wie
mancher uns gerne einreden möchte. Es lässt sich kaum dazu bewegen, den
anerkannten Missständen im Rahmen des Gewohnten Abhilfe zu schaffen.
[...] 224. Man wird jedoch sagen: Diese Hypothese enthält einen Gärstoff
häufiger Rebellion. Darauf ist meine Antwort: Zum ersten: Nicht mehr als irgendeine andere Hypothese. Denn wenn das Volk
ins Elend gebracht wird und sich dem Missbrauch willkürlicher Gewalt
ausgesetzt sieht, so mögt ihr seine Regierenden, so viel ihr wollt, die
Kinder des Jupiter nennen, lasst sie geheiligt und göttlich sein,
abstammend oder bevollmächtigt vom Himmel, gebt sie aus, für wen oder
was ihr wollt, es wird doch immer dasselbe geschehen. Das allgemein und
wider alles Recht misshandelte Volk wird bei jeder Gelegenheit bereit
sein, sich von der Bürde zu befreien, die schwer auf ihm lastet. [...] 225. Zum zweiten , antworte ich, kommt es zu solchen Revolutionen nicht
bei jeder kleinen Fehlhandlung in öffentlichen Angelegenheiten. […] 226. Zum dritten antworte ich: Diese Lehre von einer Gewalt im Volke,
durch eine neue Legislative wieder von Neuem für seine Sicherheit zu
sorgen, wenn seine Gesetzgeber auf sein Eigentum übergegriffen und damit
entgegen dem in sie gesetzten Vertrauen gehandelt haben, ist der beste
Schutz gegen Rebellion und das sicherste Mittel, sie zu verhindern.
(aus: John Locke, Über die Regierung (The Second
Treatise of Government, 1689), Stuttgart: Philipp Reclam 1981, übersetzt
von Dorothee Tidow, S.166-170 )
Allerdings muss bei der oft zu
unkritischen Verklärung des Widerstandsrechts bei Locke doch immer
wieder betont werden, dass auch das Widerstandsrecht in den sozialen
Strukturen der bürgerlichen Eigentümergesellschaft eingeschlossen ist.
So bleibt sein Widerstandsrecht für die große Mehrheit der Bevölkerung
eben "nur leere Theorie, denn die besitzlose Masse des Volkes, der
»Pöbel«, war nicht zur Revolution legitimiert. 50 bis 60% der
Bevölkerung konnten und durften sich also nicht wehren, mussten weiter
dumpf dahinleben und mit ihrer Situation als Objekte der Politik vorliebnehmen; Subjekt der Politik und zum Widerstand berechtigt waren -
wenn schon - die aufstrebenden »potenten« protestantisch-puritanischen
bankers, traders und merchants. Nicht auf dem Weg
über verfassungsrechtliche Institutionen war Widerstand möglich, sondern
durch die Umsetzung ökonomischer in politische Machtmittel.“ (Schmidt-Liebich
1977, S.62f.)
Abbildung: John Locke, Gemälde von
Gottfried Kneller, Geburtsname: Gottfried Kniller
(1697)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.01.2024
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