Sie wollen mir also vergönnen, Ihnen die Resultate meiner
Untersuchungen über das Schöne und die Kunst in einer Reihe von Briefen
vorzulegen. Lebhaft empfinde ich das Gewicht, aber auch den Reiz und die
Würde dieser Unternehmung. Ich werde von einem Gegenstande sprechen, der
mit dem besten Teil unsrer Glückseligkeit in einer unmittelbaren, und
mit dem moralischen Adel der menschlichen Natur in keiner sehr
entfernten Verbindung steht. Ich werde die Sache der Schönheit vor einem
Herzen führen, das ihre ganze Macht empfindet und ausübt und bei einer
Untersuchung, wo man ebenso oft genötigt ist, sich auf Gefühle als auf
Grundsätze zu berufen, den schwersten Teil meines Geschäfts auf sich
nehmen wird.
Was ich mir als eine Gunst von Ihnen erbitten wollte, machen Sie
großmütigerweise mir zur Pflicht und lassen mir da den Schein eines
Verdienstes, wo ich bloß meiner Neigung nachgebe. Die Freiheit des
Ganges, welche Sie mir vorschreiben, ist kein Zwang, vielmehr ein
Bedürfnis für mich. Wenig geübt im Gebrauche schulgerechter Formen,
werde ich kaum in Gefahr sein, mich durch Missbrauch derselben an dem
guten Geschmack zu versündigen. Meine Ideen, mehr aus dem einförmigen
Umgange mit mir selbst als aus einer reichen Welterfahrung geschöpft
oder durch Lektüre erworben, werden ihren Ursprung nicht verleugnen,
werden sich eher jedes andern Fehlers als der Sektiererei schuldig
machen und eher aus eigner Schwäche fallen, als durch Autorität und
fremde Stärke sich aufrechterhalten.
Zwar will ich Ihnen nicht verbergen,
dass es größtenteils Kantische
Grundsätze sind, auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen werden;
aber meinem Unvermögen, nicht jenen Grundsätzen schreiben Sie es zu,
wenn Sie im Lauf dieser Untersuchungen an irgendeine besondre
philosophische Schule erinnert werden sollten. Nein, die Freiheit Ihres
Geistes soll mir unverletzlich sein. Ihre eigne Empfindung wird mir die
Tatsachen hergeben, auf die ich baue, Ihre[570] eigene freie Denkkraft
wird die Gesetze diktieren, nach welchen verfahren werden soll.
Über diejenigen Ideen, welche in dem praktischen Teil des Kantischen
Systems die herrschenden sind, sind nur die Philosophen entzweit, aber
die Menschen, ich getraue mir es zu beweisen, von jeher einig gewesen.
Man befreie sie von ihrer technischen Form, und sie werden als die
verjährten Ansprüche der gemeinen Vernunft und als Tatsachen des
moralischen Instinktes erscheinen, den die weise Natur dem Menschen zum
Vormund setzte, bis die helle Einsicht ihn mündig macht. Aber eben diese
technische Form, welche die Wahrheit dem Verstande versichtbart,
verbirgt sie wieder dem Gefühl; denn leider muss der Verstand das Objekt
des innern Sinns erst zerstören, wenn er es sich zu eigen machen will.
Wie der Scheidekünstler, so findet auch der Philosoph nur durch
Auflösung die Verbindung und nur durch die Marter der Kunst das Werk der
freiwilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muss er sie
in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe
zerfleischen und in einem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist
aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem
solchen Abbild nicht wiederfindet und die Wahrheit in dem Berichte des
Analysten als ein Paradoxon erscheint?
Lassen Sie daher auch mir einige Nachsicht zustatten kommen, wenn die
nachfolgenden Untersuchungen ihren Gegenstand, indem sie ihn dem
Verstande zu nähern suchen, den Sinnen entrücken sollten. Was dort von
moralischen Erfahrungen gilt, muss in einem noch höhern Grade von der
Erscheinung der Schönheit gelten. Die ganze Magie derselben beruht auf
ihrem Geheimnis, und mit dem notwendigen Bund ihrer Elemente ist auch
ihr Wesen aufgehoben.
[571] Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ihnen verstattet
wird, nicht vielleicht einen bessern Gebrauch machen können, als Ihre
Aufmerksamkeit auf dem Schauplatz der schönen Kunst zu beschäftigen? Ist
es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die
ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen [571]
ein soviel näheres Interesse darbieten und der philosophische
Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert
wird, sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer
wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?
Ich möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben und für ein
andres gearbeitet haben. Man ist ebensogut Zeitbürger, als man
Staatsbürger ist; und wenn es unschicklich, ja unerlaubt gefunden wird,
sich von den Sitten und Gewohnheiten des Zirkels, in dem man lebt,
auszuschließen, warum sollte es weniger Pflicht sein, in der Wahl seines
Wirkens dem Bedürfnis und dem Geschmack des Jahrhunderts eine Stimme
einzuräumen?
Diese Stimme scheint aber keineswegs zum Vorteil der Kunst
auszufallen; derjenigen wenigstens nicht, auf welche allein meine
Untersuchungen gerichtet sein werden. Der Lauf der Begebenheiten hat dem
Genius der Zeit eine Richtung gegeben, die ihn je mehr und mehr von der
Kunst des Ideals zu entfernen droht. Diese muss die Wirklichkeit
verlassen und sich mit anständiger Kühnheit über das Bedürfnis erheben;
denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit
der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift
empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene
Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol
der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf
dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht,
und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden
Markt des Jahrhunderts. Selbst der philosophische Untersuchungsgeist
entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der andern, und die
Grenzen der Kunst verengen sich, je mehr die Wissenschaft ihre Schranken
erweitert.
Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmanns auf
den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große
Schicksal der Menschheit verhandelt wird. Verrät es nicht eine
tadelnswerte Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesellschaft, dieses
allgemeine Gespräch nicht zu teilen? So nahe dieser große Rechtshandel,
seines Inhalts und seiner Folgen wegen, jeden, der sich Mensch nennt,
angeht, so sehr muss er, seiner Verhandlungsart[572] wegen, jeden
Selbstdenker insbesondere interessieren. Eine Frage, welche sonst nur
durch das blinde Recht des Stärkern beantwortet wurde, ist nun, wie es
scheint, vor dem Richterstuhl reiner Vernunft anhängig gemacht, und wer
nur immer fähig ist, sich in das Zentrum des Ganzen zu versetzen und
sein Individuum zur Gattung zu steigern, darf sich als einen Beisitzer
jenes Vernunftgerichts betrachten, so wie er als Mensch und Weltbürger
zugleich Partei ist und näher oder entfernter in den Erfolg sich
verwickelt sieht. Es ist also nicht bloß seine eigene Sache, die in
diesem großen Rechtshandel zur Entscheidung kommt, es soll auch nach
Gesetzen gesprochen werden, die er als vernünftiger Geist selbst zu
diktieren fähig und berechtiget ist.
Wie anziehend müsste es für mich sein, einen solchen Gegenstand mit
einem ebenso geistreichen Denker als liberalen Weltbürger in
Untersuchung zu nehmen und einem Herzen, das mit schönem Enthusiasmus
dem Wohl der Menschheit sich weiht, die Entscheidung heimzustellen! Wie
angenehm überraschend, bei einer noch so großen Verschiedenheit des
Standorts und bei dem weiten Abstand, den die Verhältnisse in der
wirklichen Welt nötig machen, Ihrem vorurteilfreien Geist auf dem Felde
der Ideen in dem nämlichen Resultat zu begegnen! Dass ich dieser
reizenden Versuchung widerstehe und die Schönheit der Freiheit
vorangehen lasse, glaube ich nicht bloß mit meiner Neigung
entschuldigen, sondern durch Grundsätze rechtfertigen zu können. Ich
hoffe, Sie zu überzeugen, dass diese Materie weit weniger dem Bedürfnis
als dem Geschmack des Zeitalters fremd ist, ja dass man, um jenes
politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den
Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der
Freiheit wandert. Aber dieser Beweis kann nicht geführt werden, ohne
dass ich Ihnen die Grundsätze in Erinnerung bringe, durch welche sich
die Vernunft überhaupt bei einer politischen Gesetzgebung leitet.
[573] Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an als mit ihren
übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Intelligenz noch
nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen,[573]
dass er bei dem nicht stillesteht, was die bloße Natur aus ihm machte,
sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm
antizipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu tun, das Werk der Not
in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen und die physische
Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.
Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als
Mensch, blickt um sich her und findet sich – in dem Staate. Der Zwang
der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freiheit diesen Stand
wählen konnte; die Not richtete denselben nach bloßen Naturgesetzen ein,
ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte. Aber mit diesem Notstaat, der
nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen und auch nur auf diese
berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden
sein – und schlimm für ihn, wenn er es könnte! Er verlässt also, mit
demselben Rechte, womit er Mensch ist, die Herrschaft einer blinden
Notwendigkeit, wie er in so vielen andern Stücken durch seine Freiheit
von ihr scheidet, wie er, um nur ein Beispiel zu geben, den gemeinen
Charakter, den das Bedürfnis der Geschlechtsliebe aufdrückte, durch
Sittlichkeit auslöscht und durch Schönheit veredelt. So holt er, auf
eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit nach,
bildet sich einen Naturstand in der Idee, der ihm zwar durch keine
Erfahrung gegeben, aber durch seine Vernunftbestimmung notwendig gesetzt
ist, leiht sich in diesem idealischen Stand einen Endzweck, den er in
seinem wirklichen Naturstand nicht kannte, und eine Wahl, deren er
damals nicht fähig war, und verfährt nun nicht anders, als ob er von
vorn anfinge und den Stand der Unabhängigkeit aus heller Einsicht und
freiem Entschluss mit dem Stand der Verträge vertauschte. Wie kunstreich
und fest auch die blinde Willkür ihr Werk gegründet haben, wie anmaßend
sie es auch behaupten und mit welchem Scheine von Ehrwürdigkeit es
umgeben mag – er darf es, bei dieser Operation, als völlig ungeschehen
betrachten, denn das Werk blinder Kräfte besitzt keine Autorität, vor
welcher die Freiheit sich zu beugen brauchte, und alles muss sich dem
höchsten Endzwecke fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit
aufstellt. Auf diese Art entsteht und rechtfertigt sich der Versuch
eines mündig gewordenen Volks, seinen Naturstaat in einen sittlichen
umzuformen.[574]
Dieser Naturstaat (wie jeder politische Körper heißen kann, der seine
Einrichtung ursprünglich von Kräften, nicht von Gesetzen ableitet)
widerspricht nun zwar dem moralischen Menschen, dem die bloße
Gesetzmäßigkeit zum Gesetz dienen soll, aber er ist doch gerade
hinreichend für den physischen Menschen, der sich nur darum Gesetze
gibt, um sich mit Kräften abzufinden. Nun ist aber der physische Mensch
wirklich, und der sittliche nur problematisch. Hebt also die Vernunft
den Naturstaat auf, wie sie notwendig muss, wenn sie den ihrigen an die
Stelle setzen will, so wagt sie den physischen und wirklichen Menschen
an den problematischen sittlichen, so wagt sie die Existenz der
Gesellschaft an ein bloß mögliches (wenngleich moralisch notwendiges)
Ideal von Gesellschaft. Sie nimmt dem Menschen etwas, das er wirklich
besitzt, und ohne welches er nichts besitzt, und weist ihn dafür an
etwas an, das er besitzen könnte und sollte; und hätte sie zuviel auf
ihn gerechnet, so würde sie ihm für eine Menschheit, die ihm noch
mangelt und unbeschadet seiner Existenz mangeln kann, auch selbst die
Mittel zur Tierheit entrissen haben, die doch die Bedingung seiner
Menschheit ist. Ehe er Zeit gehabt hätte, sich mit seinem Willen an dem
Gesetz festzuhalten, hätte sie unter seinen Füßen die Leiter der Natur
weggezogen.
Das große Bedenken also ist,
dass die physische Gesellschaft in der
Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee
sich bildet, dass um der Würde des Menschen willen seine Existenz nicht
in Gefahr geraten darf. Wenn der Künstler an einem Uhrwerk zu bessern
hat, so lässt er die Räder ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des
Staats muss gebessert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das
rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen. Man muss also für
die Fortdauer der Gesellschaft eine Stütze aufsuchen, die sie von dem
Naturstaate, den man auflösen will, unabhängig macht.
Diese Stütze findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des
Menschen, der, selbstsüchtig und gewalttätig, vielmehr auf Zerstörung
als auf Erhaltung der Gesellschaft zielt; sie findet sich ebenso wenig in
seinem sittlichen Charakter, der, nach der Voraussetzung, erst gebildet
werden soll, und auf den, weil er frei ist und weil er nie erscheint,
von dem Gesetzgeber nie gewirkt und nie mit Sicherheit gerechnet[575]
werden könnte. Es käme also darauf an, von dem physischen Charakter die
Willkür und von dem moralischen die Freiheit abzusondern – es käme
darauf an, den erstern mit Gesetzen übereinstimmend, den letztern von
Eindrücken abhängig zu machen – es käme darauf an, jenen von der Materie
etwas weiter zu entfernen, diesen ihr um etwas näher zu bringen – um
einen dritten Charakter zu erzeugen, der, mit jenen beiden verwandt, von
der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen
Übergang bahnte und, ohne den moralischen Charakter an seiner
Entwicklung zu verhindern, vielmehr zu einem sinnlichen Pfand der
unsichtbaren Sittlichkeit diente
[576] Soviel ist gewiss: nur das Übergewicht eines solchen Charakters
bei einem Volk kann eine Staatsverwandlung nach moralischen Prinzipien
unschädlich machen, und auch nur ein solcher Charakter kann ihre Dauer
verbürgen. Bei Aufstellung eines moralischen Staats wird auf das
Sittengesetz als auf eine wirkende Kraft gerechnet, und der freie Wille
wird in das Reich der Ursachen gezogen, wo alles mit strenger
Notwendigkeit und Stetigkeit aneinanderhängt. Wir wissen aber, dass die
Bestimmungen des menschlichen Willens immer zufällig bleiben und dass nur
bei dem absoluten Wesen die physische Notwendigkeit mit der moralischen
zusammenfällt. Wenn also auf das sittliche Betragen des Menschen wie auf
natürliche Erfolge gerechnet werden soll, so muss es Natur sein, und er
muss schon durch seine Triebe zu einem solchen Verfahren geführt werden,
als nur immer ein sittlicher Charakter zur Folge haben kann. Der Wille
des Menschen steht aber vollkommen frei zwischen Pflicht und Neigung,
und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische
Nötigung greifen. Soll er also dieses Vermögen der Wahl beibehalten und
nichtsdestoweniger ein zuverlässiges Glied in der Kausalverknüpfung der
Kräfte sein, so kann dies nur dadurch bewerkstelligt werden, dass die
Wirkungen jener beiden Triebfedern im Reich der Erscheinungen vollkommen
gleich ausfallen und, bei aller Verschiedenheit in der Form, die Materie
seines Wollens dieselbe bleibt; dass also seine Triebe mit seiner
Vernunft übereinstimmend[576] genug sind, um zu einer universellen
Gesetzgebung zu taugen.
Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und
Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen
unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen
die große Aufgabe seines Daseins ist1. Dieser reine Mensch, der sich
mehr oder weniger deutlich in jedem Subjekt zu erkennen gibt, wird
repräsentiert durch den Staat; die objektive und gleichsam kanonische
Form, in der sich die Mannigfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen
trachtet. Nun lassen sich aber zwei verschiedene Arten denken, wie der
Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen, mithin
ebenso viele, wie der Staat in den Individuen sich behaupten kann:
entweder dadurch, dass der reine Mensch den empirischen unterdrückt,
dass
der Staat die Individuen aufhebt; oder dadurch, dass das Individuum Staat
wird, dass der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt.
Zwar in der einseitigen moralischen Schätzung fällt dieser
Unterschied hinweg; denn die Vernunft ist befriedigt, wenn ihr Gesetz
nur ohne Bedingung gilt: aber in der vollständigen anthropologischen
Schätzung, wo mit der Form auch der Inhalt zählt und die lebendige
Empfindung zugleich eine Stimme hat, wird derselbe desto mehr in
Betrachtung kommen. Einheit fodert zwar die Vernunft, die Natur aber
Mannigfaltigkeit, und von beiden Legislationen wird der Mensch in
Anspruch genommen. Das Gesetz der erstern ist ihm durch ein
unbestechliches Bewusstsein, das Gesetz der andern durch ein
unvertilgbares Gefühl eingeprägt. Daher wird es jederzeit von einer noch
mangelhaften Bildung zeugen, wenn der sittliche Charakter nur mit
Aufopferung des natürlichen sich behaupten kann; und eine
Staatsverfassung wird noch sehr unvollendet sein, die nur durch
Aufhebung der Mannigfaltigkeit Einheit zu bewirken imstande ist. Der
Staat soll nicht bloß den objektiven und generischen, er soll auch den
subjektiven und spezifischen Charakter in den Individuen ehren und,[577]
indem er das unsichtbare Reich der Sitten ausbreitet, das Reich der
Erscheinung nicht entvölkern.
Wenn der mechanische Künstler seine Hand an die gestaltlose Masse
legt, um ihr die Form seiner Zwecke zu geben, so trägt er kein Bedenken,
ihr Gewalt anzutun; denn die Natur, die er bearbeitet, verdient für sich
selbst keine Achtung, und es liegt ihm nicht an dem Ganzen um der Teile
willen, sondern an den Teilen um des Ganzen willen. Wenn der schöne
Künstler seine Hand an die nämliche Masse legt, so trägt er ebenso wenig
Bedenken, ihr Gewalt anzutun, nur vermeidet er, sie zu zeigen. Den
Stoff, den er bearbeitet, respektiert er nicht im geringsten mehr als
der mechanische Künstler; aber das Auge, welches die Freiheit dieses
Stoffes in Schutz nimmt, wird er durch eine scheinbare Nachgiebigkeit
gegen denselben zu täuschen suchen. Ganz anders verhält es sich mit dem
pädagogischen und politischen Künstler, der den Menschen zugleich zu
seinem Material und zu seiner Aufgabe macht. Hier kehrt der Zweck in den
Stoff zurück, und nur weil das Ganze den Teilen dient, dürfen sich die
Teile dem Ganzen fügen. Mit einer ganz andern Achtung, als diejenige
ist, die der schöne Künstler gegen seine Materie vorgibt, muss der
Staatskünstler sich der seinigen nahen, und nicht bloß subjektiv und für
einen täuschenden Effekt in den Sinnen, sondern objektiv und für das
innre Wesen muss er ihrer Eigentümlichkeit und Persönlichkeit schonen.
Aber eben deswegen, weil der Staat eine Organisation sein soll, die
sich durch sich selbst und für sich selbst bildet, so kann er auch nur
insoferne wirklich werden, als sich die Teile zur Idee des Ganzen
hinaufgestimmt haben. Weil der Staat der reinen und objektiven
Menschheit in der Brust seiner Bürger zum Repräsentanten dient, so wird
er gegen seine Bürger das selbe Verhältnis zu beobachten haben, in
welchem sie zu sich selber stehen, und ihre subjektive Menschheit auch
nur in dem Grade ehren können, als sie zur objektiven veredelt ist. Ist
der innere Mensch mit sich einig, so wird er auch bei der höchsten
Universalisierung seines Betragens seine Eigentümlichkeit retten, und
der Staat wird bloß der Ausleger seines schönen Instinkts, die
deutlichere Formel seiner innern Gesetzgebung sein. Setzt sich hingegen
in dem Charakter eines Volks der subjektive Mensch dem objektiven noch
so kontradiktorisch entgegen, dass nur die Unterdrückung[578] des erstern
dem letztern den Sieg verschaffen kann, so wird auch der Staat gegen den
Bürger den strengen Ernst des Gesetzes annehmen, und, um nicht ihr Opfer
zu sein, eine so feindselige Individualität ohne Achtung darniedertreten
müssen.
Der Mensch kann sich aber auf eine doppelte Weise entgegengesetzt
sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze
herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle
zerstören. Der Wilde verachtet die Kunst und erkennt die Natur als
seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die
Natur, aber verächtlicher als der Wilde fährt er häufig genug fort, der
Sklave seines Sklaven zu sein. Der gebildete Mensch macht die Natur zu
seinem Freund und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügelt.
Wenn also die Vernunft in die physische Gesellschaft ihre moralische
Einheit bringt, so darf sie die Mannigfaltigkeit der Natur nicht
verletzen. Wenn die Natur in dem moralischen Bau der Gesellschaft ihre
Mannigfaltigkeit zu behaupten strebt, so darf der moralischen Einheit
dadurch kein Abbruch geschehen; gleich weit von Einförmigkeit und
Verwirrung ruht die siegende Form. Totalität des Charakters muss also bei
dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat
der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen.
[579] Ist es dieser Charakter, den uns das jetzige Zeitalter, den die
gegenwärtigen Ereignisse zeigen? Ich richte meine Aufmerksamkeit
sogleich auf den hervorstechendsten Gegenstand in diesem weitläuftigen
Gemälde.
Wahr ist es, das Ansehen der Meinung ist gefallen, die Willkür ist
entlarvt, und, obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch
keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und
Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmenmehrheit
fodert er die Wiederherstellung in seine unverlierbaren Rechte. Aber er
fodert sie nicht bloß, jenseits und diesseits steht er auf, sich
gewaltsam zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung mit Unrecht verweigert
wird. Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben[ 579] Fundamente
weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf
den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und
wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen.
Vergebliche Hoffnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der
freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht.
In seinen Taten malt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die
sich in dem Drama der jetzigen Zeit
abbildet!
Hier Verwilderung, dort
Erschlaffung: die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls, und beide in
einem Zeitraum vereinigt!
In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe
gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen
Ordnung entfesseln und
mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen
Befriedigung eilen. Es mag also sein, dass die objektive Menschheit
Ursache gehabt hätte, sich über den Staat zu beklagen; die subjektive
muss seine Anstalten ehren. Darf man ihn tadeln, dass er die Würde der
menschlichen Natur aus den Augen setzte, solange es noch galt, ihre
Existenz zu verteidigen? Dass er eilte, durch die Schwerkraft zu scheiden
und durch die Kohäsionskraft zu binden, wo an die bildende noch nicht zu
denken war? Seine Auflösung enthält seine Rechtfertigung. Die
losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zu
eilen, fällt in das Elementarreich zurück.
Auf der andern Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch
widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters,
die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist. Ich
erinnere mich nicht mehr, welcher alte oder neue Philosoph die Bemerkung
machte, dass das Edlere in seiner Zerstörung das Abscheulichere sei, aber
man wird sie auch im Moralischen wahr finden. Aus dem Natursohne wird,
wenn er ausschweift, ein Rasender; aus dem Zögling der Kunst ein
Nichtswürdiger. Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die
verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im ganzen so
wenig einen veredelnden Einfluss auf die Gesinnungen, dass sie vielmehr
die Verderbnis durch Maximen befestigt. Wir verleugnen die Natur auf
ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem moralischen ihre Tyrannei zu
erfahren, und indem wir ihren Eindrücken widerstreben, nehmen wir unsre
Grundsätze von ihr an.[580] Die affektierte Dezenz unsrer Sitten
verweigert ihr die verzeihliche erste Stimme, um ihr, in unsrer
materialistischen Sittenlehre, die entscheidende letzte einzuräumen.
Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein
System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit herauszubringen,
erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft.
Unser freies Urteil unterwerfen wir ihrer despotischen Meinung, unser
Gefühl ihren bizarren Gebräuchen, unsern Willen ihren Verführungen, nur
unsre Willkür behaupten wir gegen ihre heiligen Rechte. Stolze
Selbstgenügsamkeit zieht das Herz des Weltmanns zusammen, das in dem
rohen Naturmenschen noch oft sympathetisch schlägt, und wie aus einer
brennenden Stadt sucht jeder nur sein elendes Eigentum aus der
Verwüstung zu flüchten. Nur in einer völligen Abschwörung der
Empfindsamkeit glaubt man gegen ihre Verirrungen Schutz zu finden, und
der Spott, der den Schwärmer oft heilsam züchtigt, lästert mit gleich
wenig Schonung das edelste Gefühl. Die Kultur, weit entfernt, uns in
Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns
ausbildet, nur ein neues Bedürfnis, die Bande des Physischen schnüren
sich immer beängstigender zu, so dass die Furcht, zu verlieren, selbst
den feurigen Trieb nach Verbesserung erstickt und die Maxime des
leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt. So sieht
man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen
Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem
Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen,
was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.
[581] Sollte ich mit dieser Schilderung dem Zeitalter wohl zuviel
getan haben? Ich erwarte diesen Einwurf nicht, eher einen andern: dass
ich zuviel dadurch bewiesen habe. Dieses Gemälde, werden Sie mir sagen,
gleicht zwar der gegenwärtigen Menschheit, aber es gleicht überhaupt
allen Völkern, die in der Kultur begriffen sind, weil alle ohne
Unterschied durch Vernünftelei von der Natur abfallen müssen, ehe sie
durch Vernunft zu ihr zurückkehren können.
Aber bei einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter
muss uns[581]
der Kontrast in Verwundrung setzen, der zwischen der heutigen Form der
Menschheit und zwischen der ehemaligen, besonders der griechischen,
angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und Verfeinerung, den wir mit
Recht gegen jede andre bloße Natur geltend machen, kann uns gegen die
griechische Natur nicht zustatten kommen, die sich mit allen Reizen der
Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die
unsrige, das Opfer derselben zu sein. Die Griechen beschämen uns nicht
bloß durch eine Simplizität, die unserm Zeitalter fremd ist; sie sind
zugleich unsre Nebenbuhler, ja oft unsre Muster in den nämlichen
Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu
trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich
philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie
die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer
herrlichen Menschheit vereinigen.
Damals, bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten die
Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch
hatte kein Zwiespalt sie gereizt, miteinander feindselig abzuteilen und
ihre Markung zu bestimmen. Die Poesie hatte noch nicht mit dem Witze
gebuhlt und die Spekulation sich noch nicht durch Spitzfindigkeit
geschändet. Beide konnten im Notfall ihre Verrichtungen tauschen, weil
jedes, nur auf seine eigene Weise, die Wahrheit ehrte. So hoch die
Vernunft auch stieg, so zog sie doch immer die Materie liebend nach, und
so fein und scharf sie auch trennte, so verstümmelte sie doch nie. Sie
zerlegte zwar die menschliche Natur und warf sie in ihrem herrlichen
Götterkreis vergrößert auseinander, aber nicht dadurch, dass sie sie in
Stücken riss, sondern dadurch, dass sie sie verschiedentlich mischte, denn
die ganze Menschheit fehlte in keinem einzelnen Gott. Wie ganz anders
bei uns Neuern! Auch bei uns ist das Bild der Gattung in den Individuen
vergrößert auseinandergeworfen – aber in Bruchstücken, nicht in
veränderten Mischungen, dass man von Individuum zu Individuum herumfragen
muss, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen. Bei uns, möchte man
fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die Gemütskräfte auch in
der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung
scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze
Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten,
während [582] dass die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit
matter Spur angedeutet sind.
Ich verkenne nicht die Vorzüge, welche das gegenwärtige Geschlecht,
als Einheit betrachtet und auf der Waage des Verstandes, vor dem besten
in der Vorwelt behaupten mag; aber in geschlossenen Gliedern muss es den
Wettkampf beginnen und das Ganze mit dem Ganzen sich messen. Welcher
einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen Mann mit dem einzelnen
Athenienser um den Preis der Menschheit zu streiten?
Woher wohl dieses nachteilige Verhältnis der Individuen bei allem
Vorteil der Gattung? Warum qualifizierte sich der einzelne Grieche zum
Repräsentanten seiner Zeit, und warum darf dies der einzelne Neuere
nicht wagen? Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles
trennende Verstand seine Formen erteilten.
Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde
schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das
bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der
andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung
der Stände und Geschäfte notwendig machte, so zerriss auch der innere
Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweite ihre
harmonischen Kräfte. Der intuitive und der spekulative Verstand
verteilten sich jetzt feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern,
deren Grenzen sie jetzt anfingen mit Misstrauen und Eifersucht zu
bewachen, und mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt,
hat man sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben, der nicht selten
mit Unterdrückung der übrigen Anlagen zu endigen pflegt. Indem hier die
luxurierende Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes
verwüstet, verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das
Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen.
Diese Zerrüttung, welche Kunst und Gelehrsamkeit in dem innern
Menschen anfingen, machte der neue Geist der Regierung vollkommen und
allgemein. Es war freilich nicht zu erwarten, dass die einfache
Organisation der ersten Republiken die Einfalt der ersten Sitten und
Verhältnisse überlebte, aber anstatt zu einem höhern animalischen Leben
zu steigen, sank sie zu einer gemeinen und groben Mechanik[583] herab.
Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines
unabhängigen Lebens genoss und, wenn es Not tat, zum Ganzen werden
konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der
Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein
mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden
jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genus
wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der
Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruckstück des
Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruckstück aus,
ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre,
entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit
in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines
Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische
Anteil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht
von Formen ab, die sie sich selbsttätig geben (denn wie dürfte man ihrer
Freiheit ein so künstliches und lichtscheues Uhrwerk vertrauen?),
sondern wird ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular
vorgeschrieben, in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält. Der
tote Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes
Gedächtnis leitet sicherer als Genie und Empfindung.
Wenn das gemeine Wesen das Amt zum Maßstab des Mannes macht, wenn es
an dem einen seiner Bürger nur die Memorie, an einem andern den
tabellarischen Verstand, an einem dritten nur die mechanische Fertigkeit
ehrt, wenn es hier, gleichgültig gegen den Charakter, nur auf Kenntnisse
dringt, dort hingegen einem Geiste der Ordnung und einem gesetzlichen
Verhalten die größte Verfinsterung des Verstandes zugut hält – wenn es
zugleich diese einzelnen Fertigkeiten zu einer ebenso großen Intensität
will getrieben wissen, als es dem Subjekt an Extensität erlässt – darf es
uns da wundern, dass die übrigen Anlagen des Gemüts vernachlässigt
werden, um der einzigen, welche ehrt und lohnt, alle Pflege zuzuwenden?
Zwar wissen wir, dass das kraftvolle Genie die Grenzen seines Geschäfts
nicht zu Grenzen seiner Tätigkeit macht, aber das mittelmäßige Talent
verzehrt in dem Geschäfte, das ihm zum Anteil fiel, die ganze karge
Summe seiner Kraft, und es muss schon kein gemeiner Kopf sein, um,
unbeschadet seines[584] Berufs, für Liebhabereien übrigzubehalten. Noch
dazu ist es selten eine gute Empfehlung bei dem Staat, wenn die Kräfte
die Aufträge übersteigen, oder wenn das höhere Geistesbedürfnis des
Mannes von Genie seinem Amt einen Nebenbuhler gibt. So eifersüchtig ist
der Staat auf den Alleinbesitz seiner Diener, dass er sich leichter dazu
entschließen wird (und wer kann ihm unrecht geben?), seinen Mann mit
einer Venus Cytherea als mit einer Venus Urania zu teilen?
Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt,
damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig
bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends
findet. Genötigt, sich die Mannigfaltigkeit seiner Bürger durch
Klassifizierung zu erleichtern und die Menschheit nie anders als durch
Repräsentation aus der zweiten Hand zu empfangen, verliert der
regierende Teil sie zuletzt ganz und gar aus den Augen, indem er sie mit
einem bloßen Machwerk des Verstandes vermengt; und der regierte kann
nicht anders als mit Kaltsinn die Gesetze empfangen, die an ihn selbst
so wenig gerichtet sind. Endlich überdrüssig, ein Band zu unterhalten,
das ihr von dem Staate so wenig erleichtert wird, fällt die positive
Gesellschaft (wie schon längst das Schicksal der meisten europäischen
Staaten ist) in einen moralischen Naturstand auseinander, wo die
öffentliche Macht nur eine Partei mehr ist, gehasst und hintergangen von
dem, der sie nötig macht, und nur von dem, der sie entbehren kann,
geachtet.
Konnte die Menschheit bei dieser doppelten Gewalt, die von innen und
außen auf sie drückte, wohl eine andere Richtung nehmen, als sie
wirklich nahm? Indem der spekulative Geist im Ideenreich nach
unverlierbaren Besitzungen strebte, musste er ein Fremdling in der
Sinnenwelt werden und über der Form die Materie verlieren. Der
Geschäftsgeist, in einen einförmigen Kreis von Objekten eingeschlossen
und in diesem noch mehr durch Formeln eingeengt, musste das freie Ganze
sich aus den Augen gerückt sehen und zugleich mit seiner Sphäre
verarmen. So wie ersterer versucht wird, das Wirkliche nach dem
Denkbaren zu modeln und die subjektiven Bedingungen seiner
Vorstellungskraft zu konstitutiven Gesetzen für das Dasein der Dinge zu
erheben, so stürzte letzterer in das entgegenstehende Extrem, alle
Erfahrung überhaupt nach einem besondern Fragment von Erfahrung[585] zu
schätzen und die Regeln seines Geschäfts jedem Geschäft ohne Unterschied
anpassen zu wollen. Der eine musste einer leeren Subtilität, der andre
einer pedantischen Beschränktheit zum Raube werden, weil jener für das
Einzelne zu hoch, dieser zu tief für das Ganze stand. Aber das
Nachteilige dieser Geistesrichtung schränkte sich nicht bloß auf das
Wissen und Hervorbringen ein; es erstreckte sich nicht weniger auf das
Empfinden und Handeln. Wir wissen, dass die Sensibilität des Gemüts ihrem
Grade nach von der Lebhaftigkeit, ihrem Umfange nach von dem Reichtum
der Einbildungskraft abhängt. Nun muss aber das Übergewicht des
analytischen Vermögens die Phantasie notwendig ihrer Kraft und ihres
Feuers berauben und eine eingeschränktere Sphäre von Objekten ihren
Reichtum vermindern. Der abstrakte Denker hat daher gar oft ein kaltes
Herz, weil er die Eindrücke zergliedert, die doch nur als ein Ganzes die
Seele rühren; der Geschäftsmann hat gar oft ein enges Herz, weil seine
Einbildungskraft, in den einförmigen Kreis seines Berufs eingeschlossen,
sich zu fremder Vorstellungsart nicht erweitern kann.
Es lag auf meinem Wege, die nachteilige Richtung des Zeitcharakters
und ihre Quellen aufzudecken, nicht die Vorteile zu zeigen, wodurch die
Natur sie vergütet. Gerne will ich Ihnen eingestehen, dass, so wenig es
auch den Individuen bei dieser Zerstückelung ihres Wesens wohl werden
kann, doch die Gattung auf keine andere Art hätte Fortschritte machen
können. Die Erscheinung der griechischen Menschheit war unstreitig ein
Maximum, das auf dieser Stufe weder verharren noch höher steigen konnte.
Nicht verharren; weil der Verstand durch den Vorrat, den er schon hatte,
unausbleiblich genötigt werden musste, sich von der Empfindung und
Anschauung abzusondern und nach Deutlichkeit der Erkenntnis zu streben:
auch nicht höher steigen; weil nur ein bestimmter Grad von Klarheit mit
einer bestimmten Fülle und Wärme zusammen bestehen kann. Die Griechen
hatten diesen Grad erreicht, und wenn sie zu einer höhern Ausbildung
fortschreiten wollten, so mussten sie, wie wir, die Totalität ihres
Wesens aufgeben und die Wahrheit auf getrennten Bahnen verfolgen.
Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein
anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser
Antagonism[586] der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber
auch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf
dem Wege zu dieser. Dadurch allein, dass in dem Menschen einzelne Kräfte
sich isolieren und einer ausschließenden Gesetzgebung anmaßen, geraten
sie in Widerstreit mit der Wahrheit der Dinge und nötigen den
Gemeinsinn, der sonst mit träger Genügsamkeit auf der äußern Erscheinung
ruht, in die Tiefen der Objekte zu dringen. Indem der reine Verstand
eine Autorität in der Sinnenwelt usurpiert und der empirische
beschäftigt ist, ihn den Bedingungen der Erfahrung zu unterwerfen,
bilden beide Anlagen sich zu möglichster Reife aus und erschöpfen den
ganzen Umfang ihrer Sphäre. Indem hier die Einbildungskraft durch ihre
Willkür die Weltordnung aufzulösen wagt, nötiget sie dort die Vernunft,
zu den obersten Quellen der Erkenntnis zu steigen und das Gesetz der
Notwendigkeit gegen sie zu Hülfe zu rufen.
Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das Individuum
unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit. Dadurch
allein, dass wir die ganze Energie unsers Geistes in einem Brennpunkt
versammeln und unser ganzes Wesen in eine einzige Kraft zusammenziehen,
setzen wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an und führen sie
künstlicherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr
gesetzt zu haben scheint. So gewiss es ist, dass alle menschliche
Individuen, zusammengenommen, mit der Sehkraft, welche die Natur ihnen
erteilt, nie dahin gekommen sein würden, einen Trabanten des Jupiter
auszuspähn, den der Teleskop dem Astronomen entdeckt; ebenso ausgemacht
ist es, dass die menschliche Denkkraft niemals eine Analysis des
Unendlichen oder eine Kritik der reinen Vernunft würde aufgestellt
haben, wenn nicht in einzelnen dazu berufnen Subjekten die Vernunft sich
vereinzelt, von allem Stoff gleichsam losgewunden und durch die
angestrengteste Abstraktion ihren Blick ins Unbedingte bewaffnet hätte.
Aber wird wohl ein solcher, in reinen Verstand und reine Anschauung
gleichsam aufgelöster Geist dazu tüchtig sein, die strengen Fesseln der
Logik mit dem freien Gange der Dichtungskraft zu vertauschen und die
Individualität der Dinge mit treuem und keuschem Sinn zu ergreifen? Hier
setzt die Natur auch dem Universalgenie eine Grenze, die es nicht[587]
überschreiten kann, und die Wahrheit wird so lange Märtyrer machen, als
die Philosophie noch ihr vornehmstes Geschäft daraus machen muss,
Anstalten gegen den Irrtum zu treffen.
Wie viel also auch für das Ganze der Welt durch diese getrennte
Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu
leugnen, dass die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluch dieses
Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar
athletische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichförmige Spiel
der Glieder die Schönheit. Ebenso kann die Anspannung einzelner
Geisteskräfte zwar außerordentliche, aber nur die gleichförmige
Temperatur derselben glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und
in welchem Verhältnis stünden wir also zu dem vergangenen und kommenden
Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches Opfer
notwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir
hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben und
unsrer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit
eingedrückt – damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggange
seiner moralischen Gesundheit warten und den freien Wuchs seiner
Menschheit entwickeln könnte!
Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke
sich selbst zu versäumen? Sollte uns die Natur durch ihre Zwecke eine
Vollkommenheit rauben können, welche uns die Vernunft durch die ihrigen
vorschreibt? Es muss also falsch sein, dass die Ausbildung der einzelnen
Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das
Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muss es bei uns stehen,
diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch
eine höhere Kunst wiederherzustellen.
[588] Sollte diese Wirkung vielleicht von dem Staat zu erwarten sein?
Das ist nicht möglich, denn der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, hat
das Übel veranlasst, und der Staat, wie ihn die Vernunft in der Idee sich
aufgibt, anstatt diese bessere Menschheit begründen zu können, müsste
selbst erst darauf gegründet werden. Und so hätten mich denn[588] die
bisherigen Untersuchungen wieder auf den Punkt zurückgeführt, von dem
sie mich eine Zeitlang entfernten. Das jetzige Zeitalter, weit entfernt,
uns diejenige Form der Menschheit aufzuweisen, welche als notwendige
Bedingung einer moralischen Staatsverbesserung erkannt worden ist, zeigt
uns vielmehr das direkte Gegenteil davon. Sind also die von mir
aufgestellten Grundsätze richtig, und bestätigt die Erfahrung mein
Gemälde der Gegenwart, so muss man jeden Versuch einer solchen
Staatsveränderung so lange für unzeitig und jede darauf gegründete
Hoffnung so lange für schimärisch erklären, bis die Trennung in dem
innern Menschen wieder aufgehoben und seine Natur vollständig genug
entwickelt ist, um selbst die Künstlerin zu sein und der politischen
Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbürgen.
Die Natur zeichnet uns in ihrer physischen Schöpfung den Weg vor, den
man in der moralischen zu wandeln hat. Nicht eher, als bis der Kampf
elementarischer Kräfte in den niedrigern Organisationen besänftiget ist,
erhebt sie sich zu der edeln Bildung des physischen Menschen. Ebenso
muss
der Elementenstreit in dem ethischen Menschen, der Konflikt blinder
Triebe, fürs erste beruhigt sein, und die grobe Entgegensetzung muss in
ihm aufgehört haben, ehe man es wagen darf, die Mannigfaltigkeit zu
begünstigen. Auf der andern Seite muss die Selbständigkeit seines
Charakters gesichert sein und die Unterwürfigkeit unter fremde
despotische Formen einer anständigen Freiheit Platz gemacht haben, ehe
man die Mannigfaltigkeit in ihm der Einheit des Ideals unterwerfen darf.
Wo der Naturmensch seine Willkür noch so gesetzlos missbraucht, da darf
man ihm seine Freiheit kaum zeigen; wo der künstliche Mensch seine
Freiheit noch so wenig gebraucht, da darf man ihm seine Willkür nicht
nehmen. Das Geschenk liberaler Grundsätze wird Verräterei an dem Ganzen,
wenn es sich zu einer noch gärenden Kraft gesellt und einer schon
übermächtigen Natur Verstärkung zusendet; das Gesetz der Übereinstimmung
wird Tyrannei gegen das Individuum, wenn es sich mit einer schon
herrschenden Schwäche und physischen Beschränkung verknüpft und so den
letzten glimmenden Funken von Selbsttätigkeit und Eigentum auslöscht.
Der Charakter der Zeit
muss sich also von seiner tiefen Entwürdigung
erst aufrichten, dort der blinden Gewalt der Natur sich entziehen[589]
und hier zu ihrer Einfalt, Wahrheit und Fülle zurückkehren; eine Aufgabe
für mehr als ein Jahrhundert. Unterdessen, gebe ich gerne zu, kann
mancher Versuch im einzelnen gelingen, aber am Ganzen wird dadurch
nichts gebessert sein, und der Widerspruch des Betragens wird stets
gegen die Einheit der Maximen beweisen. Man wird in andern Weltteilen in
dem Neger die Menschheit ehren und in Europa sie in dem Denker schänden.
Die alten Grundsätze werden bleiben, aber sie werden das Kleid des
Jahrhunderts tragen, und zu einer Unterdrückung, welche sonst die Kirche
autorisierte, wird die Philosophie ihren Namen leihen. Von der Freiheit
erschreckt, die in ihren ersten Versuchen sich immer als Feindin
ankündigt, wird man dort einer bequemen Knechtschaft sich in die Arme
werfen und hier, von einer pedantischen Kuratel zur Verzweiflung
gebracht, in die wilde Ungebundenheit des Naturstands entspringen. Die
Usurpation wird sich auf die Schwachheit der menschlichen Natur, die
Insurrektion auf die Würde derselben berufen, bis endlich die große
Beherrscherin aller menschlichen Dinge, die blinde Stärke,
dazwischentritt und den vorgeblichen Streit der Prinzipien wie einen
gemeinen Faustkampf entscheidet.
[590] Soll sich also die Philosophie, mutlos und ohne Hoffnung, aus
diesem Gebiete zurückziehen? Während dass sich die Herrschaft der Formen
nach jener andern Richtung erweitert, soll dieses wichtigste aller Güter
dem gestaltlosen Zufall preisgegeben sein? Der Konflikt blinder Kräfte
soll in der politischen Welt ewig dauern und das gesellige Gesetz nie
über die feindselige Selbstsucht siegen?
Nichts weniger! Die Vernunft selbst wird zwar mit dieser
rauen
Macht, die ihren Waffen widersteht, unmittelbar den Kampf nicht
versuchen und so wenig, als der Sohn des Saturns in der Ilias,
selbsthandelnd auf den finstern Schauplatz heruntersteigen. Aber aus der
Mitte der Streiter wählt sie sich den würdigsten aus, bekleidet ihn, wie
Zeus seinen Enkel, mit göttlichen Waffen und bewirkt durch seine
siegende Kraft die große Entscheidung.
Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das
Gesetz[590] findet und aufstellt; vollstrecken muss es der mutige Wille
und das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den
Sieg erhalten soll, so muss sie selbst erst zur Kraft werden und zu ihrem
Sachführer im Reich der Erscheinungen einen Trieb, aufstellen; denn
Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Hat
sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dies
nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleiern wusste, sondern an
dem Herzen, das sich ihr verschloss, und an dem Triebe, der nicht für sie
handelte.
Denn woher diese noch so allgemeine Herrschaft der Vorurteile und
diese Verfinsterung der Köpfe bei allem Licht, das Philosophie und
Erfahrung aufsteckten? Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die
Kenntnisse sind gebunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen
würden, wenigstens unsre praktischen Grundsätze zu berichtigen. Der
Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe zerstreut, welche
lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit verwehrten, und den Grund
unterwühlt, auf welchem Fanatismus und Betrug ihren Thron erbauten. Die
Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer
betrüglichen Sophistik gereinigt, und die Philosophie selbst, welche uns
zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und dringend in den Schoß
der Natur zurück – woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?
Es muss also, weil es nicht in den Dingen liegt, in den Gemütern der
Menschen etwas vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn
sie noch so hell leuchtete, und der Annahme derselben, auch wenn sie
noch so lebendig überzeugte, im Wege steht. Ein alter Weiser hat es
empfunden, und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdrucke versteckt:
sapere aude.
Erkühne dich, weise zu sein. Energie des Muts gehört dazu, die
Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die
Feigheit des Herzens der Belehrung entgegensetzen. Nicht ohne Bedeutung
lässt der alte Mythus die Göttin der Weisheit in voller Rüstung aus
Jupiters Haupte steigen; denn schon ihre erste Verrichtung ist
kriegerisch. Schon in der Geburt hat sie einen harten Kampf mit den
Sinnen zu bestehen, die aus ihrer süßen Ruhe nicht gerissen sein wollen.
Der zahlreichere Teil der Menschen wird durch den[591] Kampf mit der Not
viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als dass er sich zu einem neuen und
härtern Kampf mit dem Irrtum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst
der sauren Mühe des Denkens entgeht, lässt er andere gern über seine
Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, dass sich höhere
Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die
Formeln, welche der Staat und das Priestertum für diesen Fall in
Bereitschaft halten. Wenn diese unglücklichen Menschen unser Mitleiden
verdienen, so trifft unsre gerechte Verachtung die andern, die ein
besseres Los von dem Joch der Bedürfnisse frei macht, aber eigene Wahl
darunter beugt. Diese ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man
lebhafter fühlt und die Phantasie sich nach eignem Belieben bequeme
Gestalten bildet, den Strahlen der Wahrheit vor, die das angenehme
Blendwerk ihrer Träume verjagen. Auf eben diese Täuschungen, die das
feindselige Licht der Erkenntnis zerstreuen soll, haben sie den ganzen
Bau ihres Glücks gegründet, und sie sollten eine Wahrheit so teuer
kaufen, die damit anfängt, ihnen alles zu nehmen, was Wert für sie
besitzt? Sie müssten schon weise sein, um die Weisheit zu lieben: eine
Wahrheit, die derjenige schon fühlte, der der Philosophie ihren Namen
gab.
Nicht genug also, dass alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne
Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch
gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das
Herz muss geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also
das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird,
die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst
darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt.
[592] Aber ist hier nicht vielleicht ein Zirkel? Die theoretische
Kultur soll die praktische herbeiführen und die praktische doch die
Bedingung der theoretischen sein? Alle Verbesserung im Politischen soll
von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den
Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?
Man müsste also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, [592] welches der
Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller
politischen Verderbnis rein und lauter erhalten.
Jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, zu welchem alle meine
bisherigen Betrachtungen hingestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die
schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.
Von allem, was positiv ist und was menschliche Konventionen
einführten, ist die Kunst wie die Wissenschaft losgesprochen, und beide
erfreuen sich einer absoluten Immunität von der Willkür der Menschen.
Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen
kann er nicht. Er kann den Wahrheitsfreund ächten, aber die Wahrheit
besteht; er kann den Künstler erniedrigen, aber die Kunst kann er nicht
verfälschen. Zwar ist nichts gewöhnlicher, als dass beide, Wissenschaft
und Kunst, dem Geist des Zeitalters huldigen und der hervorbringende
Geschmack von dem beurteilenden das Gesetz empfängt. Wo der Charakter
straff wird und sich verhärtet, da sehen wir die Wissenschaft streng
ihre Grenzen bewachen und die Kunst in den schweren Fesseln der Regel
gehn; wo der Charakter erschlafft und sich auflöst, da wird die
Wissenschaft zu gefallen und die Kunst zu vergnügen streben. Ganze
Jahrhunderte lang zeigen sich die Philosophen wie die Künstler
geschäftig, Wahrheit und Schönheit in die Tiefen gemeiner Menschheit
hinabzutauchen; jene gehen darin unter, aber mit eigner unzerstörbarer
Lebenskraft ringen sich diese siegend empor.
Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn,
wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine
wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter
Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters und lasse ihn unter
fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann
geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert
zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern
furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen. Den Stoff zwar wird er
von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja
jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines
Wesens entlehnen. Hier aus dem reinen Äther seiner dämonischen Natur
rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbnis
der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln
sich wälzen. Seinen Stoff kann die Laune[593] entehren, wie sie ihn
geadelt hat, aber die keusche Form ist ihrem Wechsel entzogen. Der Römer
des ersten Jahrhunderts hatte längst schon die Knie vor seinen Kaisern
gebeugt, als die Bildsäulen noch aufrecht standen, die Tempel blieben
dem Auge heilig, als die Götter längst zum Gelächter dienten, und die
Schandtaten eines Nero und Commodus beschämte der edle Stil des
Gebäudes, das seine Hülle dazu gab. Die Menschheit hat ihre Würde
verloren, aber die Kunst hat sie gerettet und aufbewahrt in bedeutenden
Steinen; die Wahrheit lebt in der Täuschung fort, und aus dem Nachbilde
wird das Urbild wiederhergestellt werden. So wie die edle Kunst die edle
Natur überlebte, so schreitet sie derselben auch in der Begeisterung,
bildend und erweckend, voran. Ehe noch die Wahrheit ihr siegendes Licht
in die Tiefen der Herzen sendet, fängt die Dichtungskraft ihre Strahlen
auf, und die Gipfel der Menschheit werden glänzen, wenn noch feuchte
Nacht in den Tälern liegt.
Wie verwahrt sich aber der Künstler vor den Verderbnissen seiner
Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urteil verachtet.
Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz, nicht niederwärts
nach dem Glück und nach dem Bedürfnis. Gleich frei von der eitlen
Geschäftigkeit, die in den flüchtigen Augenblick gern ihre Spur drücken
möchte, und von dem ungeduldigen Schwärmergeist, der auf die dürftige
Geburt der Zeit den Maßstab des Unbedingten anwendet, überlasse er dem
Verstande, der hier einheimisch ist, die Sphäre des Wirklichen; er aber
strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu
erzeugen. Dieses präge er aus in Täuschung und Wahrheit, präge es in die
Spiele seiner Einbildungskraft und in den Ernst seiner Taten, präge es
aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in
die unendliche Zeit.
Aber nicht jedem, dem dieses Ideal in der Seele glüht, wurde die
schöpferische Ruhe und der große geduldige Sinn verliehen, es in den
verschwiegnen Stein einzudrücken oder in das nüchterne Wort auszugießen
und den treuen Händen der Zeit zu vertrauen. Viel zu ungestüm, um durch
dieses ruhige Mittel zu wandern, stürzt sich der göttliche Bildungstrieb
oft unmittelbar auf die Gegenwart und auf das handelnde Leben und
unternimmt, den formlosen Stoff der moralischen Welt umzubilden.
Dringend spricht das Unglück seiner Gattung[594] zu dem fühlenden
Menschen, dringender ihre Entwürdigung, der Enthusiasmus entflammt sich,
und das glühende Verlangen strebt in kraftvollen Seelen ungeduldig zur
Tat. Aber befragte er sich auch, ob diese Unordnungen in der moralischen
Welt seine Vernunft beleidigen oder nicht vielmehr seine Selbstliebe
schmerzen? Weiß er es noch nicht, so wird er es an dem Eifer erkennen,
womit er auf bestimmte und beschleunigte Wirkungen dringt. Der reine
moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine
Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der
Gegenwart notwendig entwickeln muss. Vor einer Vernunft ohne Schranken
ist die Richtung zugleich die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt,
sobald er eingeschlagen ist.
Gib also, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und Schönheit zur
Antwort geben, der von mir wissen will, wie er dem edlen Trieb in seiner
Brust, bei allem Widerstande des Jahrhunderts, Genüge zu tun habe, gib
der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige
Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen. Diese Richtung hast du ihr
gegeben, wenn du, lehrend, ihre Gedanken zum Notwendigen und Ewigen
erhebst, wenn du, handelnd oder bildend, das Notwendige und Ewige in
einen Gegenstand ihrer Triebe verwandelst. Fallen wird das Gebäude des
Wahns und der Willkürlichkeit, fallen muss es, es ist schon gefallen,
sobald du gewiss bist, dass es sich neigt; aber in dem innern, nicht bloß
in dem äußern Menschen muss es sich neigen. In der schamhaften Stille
deines Gemüts erziehe die siegende Wahrheit, stelle sie aus dir heraus
in der Schönheit, dass nicht bloß der Gedanke ihr huldige, sondern auch
der Sinn ihre Erscheinung liebend ergreife. Und damit es dir nicht
begegne, von der Wirklichkeit das Muster zu empfangen, das du ihr geben
sollst, so wage dich nicht eher in ihre bedenkliche Gesellschaft, bis du
eines idealischen Gefolges in deinem Herzen versichert bist. Lebe mit
deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen
Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben. Ohne ihre
Schuld geteilt zu haben, teile mit edler Resignation ihre Strafen und
beuge dich mit Freiheit unter das Joch, das sie gleich schlecht
entbehren und tragen. Durch den standhaften Mut, mit dem du ihr Glück
verschmähest, wirst du ihnen beweisen, dass nicht deine Feigheit
sich[595] ihren Leiden unterwirft. Denke sie dir, wie sie sein sollten,
wenn du auf sie zu wirken hast, aber denke sie dir, wie sie sind, wenn
du für sie zu handeln versucht wirst. Ihren Beifall suche durch ihre
Würde, aber auf ihren Unwert berechne ihr Glück, so wird dein eigener
Adel dort den ihrigen aufwecken und ihre Unwürdigkeit hier deinen Zweck
nicht vernichten. Der Ernst deiner Grundsätze wird sie von dir
scheuchen, aber im Spiel ertragen sie sie noch; ihr Geschmack ist
keuscher als ihr Herz, und hier musst du den scheuen Flüchtling
ergreifen. Ihre Maximen wirst du umsonst bestürmen, ihre Taten umsonst
verdammen, aber an ihrem Müßiggange kannst du deine bildende Hand
versuchen. Verjage die Willkür, die Frivolität, die Rohigkeit aus ihren
Vergnügungen, so wirst du sie unvermerkt auch aus ihren Handlungen,
endlich aus ihren Gesinnungen verbannen. Wo du sie findest, umgib sie
mit edeln, mit großen, mit geistreichen Formen, schließe sie ringsum mit
den Symbolen des Vortrefflichen ein, bis der Schein die Wirklichkeit und
die Kunst die Natur überwindet.
[596] Sie sind also mit mir darin einig und durch den Inhalt meiner
vorigen Briefe überzeugt, dass sich der Mensch auf zwei entgegengesetzten
Wegen von seiner Bestimmung entfernen könne, dass unser Zeitalter
wirklich auf beiden Abwegen wandle und hier der Rohigkeit, dort der
Erschlaffung und Verkehrtheit zum Raub geworden sei. Von dieser
doppelten Verwirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden.
Wie kann aber die schöne Kultur beiden entgegengesetzten Gebrechen
zugleich begegnen und zwei widersprechende Eigenschaften in sich
vereinigen? Kann sie in dem Wilden die Natur in Fesseln legen und in dem
Barbaren dieselbe in Freiheit setzen? Kann sie zugleich anspannen und
auflösen – und wenn sie nicht wirklich beides leistet, wie kann ein so
großer Effekt, als die Ausbildung der Menschheit ist, vernünftigerweise
von ihr erwartet werden?
Zwar hat man schon zum
Überdruss die Behauptung hören müssen, dass das
entwickelte Gefühl für Schönheit die Sitten verfeinere, so dass es hiezu
keines neuen Beweises mehr zu bedürfen scheint. Man stützt sich auf die
alltägliche Erfahrung, welche fast durchgängig mit[596] einem gebildeten
Geschmacke Klarheit des Verstandes, Regsamkeit des Gefühls, Liberalität
und selbst Würde des Betragens, mit einem ungebildeten gewöhnlich das
Gegenteil verbunden zeigt. Man beruft sich, zuversichtlich genug, auf
das Beispiel der gesittetsten aller Nationen des Altertums, bei welcher
das Schönheitsgefühl zugleich seine höchste Entwicklung erreichte, und
auf das entgegengesetzte Beispiel jener teils wilden, teils barbarischen
Völker, die ihre Unempfindlichkeit für das Schöne mit einem rohen oder
doch austeren Charakter büßen. Nichtsdestoweniger fällt es zuweilen
denkenden Köpfen ein, entweder das Faktum zu leugnen, oder doch die
Rechtmäßigkeit der daraus gezogenen Schlüsse zu bezweifeln. Sie denken
nicht ganz so schlimm von jener Wildheit, die man den ungebildeten
Völkern zum Vorwurf macht, und nicht ganz so vorteilhaft von dieser
Verfeinerung, die man an den gebildeten preist. Schon im Altertum gab es
Männer, welche die schöne Kultur für nichts weniger als eine Wohltat
hielten und deswegen sehr geneigt waren, den Künsten der
Einbildungskraft den Eintritt in ihre Republik zu verwehren.
Nicht von denjenigen rede ich, die bloß darum die Grazien schmähn,
weil sie nie ihre Gunst erfuhren. Sie, die keinen andern Maßstab des
Wertes kennen als die Mühe der Erwerbung und den handgreiflichen Ertrag
– wie sollten sie fähig sein, die stille Arbeit des Geschmacks an dem
äußern und innern Menschen zu würdigen, und über den zufälligen
Nachteilen der schönen Kultur nicht ihre wesentlichen Vorteile aus den
Augen setzen? Der Mensch ohne Form verachtet alle Anmut im Vortrage als
Bestechung, alle Feinheit im Umgang als Verstellung, alle Delikatesse
und Großheit im Betragen als Überspannung und Affektation. Er kann es
dem Günstling der Grazien nicht vergeben, dass er als Gesellschafter alle
Zirkel aufheitert, als Geschäftsmann alle Köpfe nach seinen Absichten
lenkt, als Schriftsteller seinem ganzen Jahrhundert vielleicht seinen
Geist aufdrückt, während dass er, das Schlachtopfer des Fleißes, mit all
seinem Wissen keine Aufmerksamkeit erzwingen, keinen Stein von der
Stelle rücken kann. Da er jenem das genialische Geheimnis, angenehm zu
sein, niemals abzulernen vermag, so bleibt ihm nichts anders übrig, als
die Verkehrtheit der menschlichen Natur zu bejammern, die mehr dem
Schein als dem Wesen huldigt.[597]
Aber es gibt achtungswürdige Stimmen, die sich gegen die Wirkungen
der Schönheit erklären und aus der Erfahrung mit furchtbaren Gründen
dagegen gerüstet sind. »Es ist nicht zu leugnen«, sagen sie, »die Reize
des Schönen können in guten Händen zu löblichen Zwecken wirken, aber es
widerspricht ihrem Wesen nicht, in schlimmen Händen gerade das Gegenteil
zu tun und ihre seelenfesselnde Kraft für Irrtum und Unrecht zu
verwenden. Eben deswegen, weil der Geschmack nur auf die Form und nie
auf den In halt achtet, so gibt er dem Gemüt zuletzt die gefährliche
Richtung, alle Realität überhaupt zu vernachlässigen und einer reizenden
Einkleidung Wahrheit und Sittlichkeit aufzuopfern. Aller Sachunterschied
der Dinge verliert sich, und es ist bloß die Erscheinung, die ihren Wert
bestimmt. Wie viele Menschen von Fähigkeit«, fahren sie fort, »werden
nicht durch die verführerische Macht des Schönen von einer ernsten und
anstrengenden Wirksamkeit abgezogen, oder wenigstens verleitet, sie
oberflächlich zu behandeln! Wie mancher schwache Verstand wird bloß
deswegen mit der bürgerlichen Einrichtung uneins, weil es der Phantasie
der Poeten beliebte, eine Welt aufzustellen, worin alles ganz anders
erfolgt, wo keine Konvenienz die Meinungen bindet, keine Kunst die Natur
unterdrückt. Welche gefährliche Dialektik haben die Leidenschaften nicht
erlernt, seitdem sie in den Gemälden der Dichter mit den glänzendsten
Farben prangen und im Kampf mit Gesetzen und Pflichten gewöhnlich das
Feld behalten? Was hat wohl die Gesellschaft dabei gewonnen, dass jetzt
die Schönheit dem Umgang Gesetze gibt, den sonst die Wahrheit regierte,
und dass der äußere Eindruck die Achtung entscheidet, die nur an das
Verdienst gefesselt sein sollte. Es ist wahr, man sieht jetzt alle
Tugenden blühen, die einen gefälligen Effekt in der Erscheinung machen
und einen Wert in der Gesellschaft verleihen, dafür aber auch alle
Ausschweifungen herrschen und alle Laster im Schwange gehn, die sich mit
einer schönen Hülle vertragen.« In der Tat muss es Nachdenken erregen,
dass man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und
der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein
einziges Beispiel aufweisen kann, dass ein hoher Grad und eine große
Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer
Freiheit und bürgerlicher Tugend, daß[598] schöne Sitten mit guten
Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand
gegangen wäre.
Solange Athen und Sparta ihre Unabhängigkeit behaupteten und Achtung
für die Gesetze ihrer Verfassung zur Grundlage diente, war der Geschmack
noch unreif, die Kunst noch in ihrer Kindheit, und es fehlte noch viel,
dass die Schönheit die Gemüter beherrschte. Zwar hatte die Dichtkunst
schon einen erhabenen Flug getan, aber nur mit den Schwingen des Genies,
von dem wir wissen, dass es am nächsten an die Wildheit grenzt und ein
Licht ist, das gern aus der Finsternis schimmert; welches also vielmehr
gegen den Geschmack seines Zeitalters als für denselben zeugt. Als unter
dem Perikles und Alexander das goldne Alter der Künste herbeikam und die
Herrschaft des Geschmacks sich allgemeiner verbreitete, findet man
Griechenlands Kraft und Freiheit nicht mehr, die Beredsamkeit
verfälschte die Wahrheit, die Weisheit beleidigte in dem Mund eines
Sokrates, und die Tugend in dem Leben eines Phocion. Die Römer, wissen
wir, mussten erst in den bürgerlichen Kriegen ihre Kraft erschöpfen und,
durch morgenländische Üppigkeit entmannt, unter das Joch eines
glücklichen Dynasten sich beugen, ehe wir die griechische Kunst über die
Rigidität ihres Charakters triumphieren sehen. Auch den Arabern ging die
Morgenröte der Kultur nicht eher auf, als bis die Energie ihres
kriegerischen Geistes unter dem Szepter der Abbassiden erschlafft war.
In dem neuern Italien zeigte sich die schöne Kunst nicht eher, als
nachdem der herrliche Bund der Lombarden zerrissen war, Florenz sich den
Mediceern unterworfen und der Geist der Unabhängigkeit in allen jenen
mutvollen Städten einer unrühmlichen Ergebung Platz gemacht hatte. Es
ist beinahe überflüssig, noch an das Beispiel der neuern Nationen zu
erinnern, deren Verfeinerung in demselben Verhältnisse zunahm, als ihre
Selbständigkeit endigte. Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsre
Augen richten, da finden wir, dass Geschmack und Freiheit einander
fliehen und dass die Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden
ihre Herrschaft gründet.
Und doch ist gerade diese Energie des Charakters, mit welcher die
ästhetische Kultur gewöhnlich erkauft wird, die wirksamste Feder alles
Großen und Trefflichen im Menschen, deren Mangel kein anderer,[599] wenn
auch noch so großer Vorzug ersetzen kann. Hält man sich also einzig nur
an das, was die bisherigen Erfahrungen über den Einfluss der Schönheit
lehren, so kann man in der Tat nicht sehr aufgemuntert sein, Gefühle
auszubilden, die der wahren Kultur des Menschen so gefährlich sind; und
lieber wird man, auf die Gefahr der Rohigkeit und Härte, die schmelzende
Kraft der Schönheit entbehren, als sich bei allen Vorteilen der
Verfeinerung ihren erschlaffenden Wirkungen überliefert sehen. Aber
vielleicht ist die Erfahrung der Richterstuhl nicht, vor welchem sich
eine Frage wie diese ausmachen lässt, und ehe man ihrem Zeugnis Gewicht
einräumte, müsste erst außer Zweifel gesetzt sein, dass es dieselbe
Schönheit ist, von der wir reden und gegen welche jene Beispiele zeugen.
Dies scheint aber einen Begriff der Schönheit vorauszusetzen, der eine
andere Quelle hat als die Erfahrung, weil durch denselben erkannt werden
soll, ob das, was in der Erfahrung schön heißt, mit Recht diesen Namen
führe.
Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich
aufzeigen ließe, müsste also – weil er aus keinem wirklichen Falle
geschöpft werden kann, vielmehr unser Urteil über jeden wirklichen Fall
erst berichtigt und leitet – auf dem Wege der Abstraktion gesucht und
schon aus der Möglichkeit der sinnlich- vernünftigen Natur gefolgert
werden können: mit einem Wort: die Schönheit müsste sich als eine
notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen. Zu dem reinen
Begriff der Menschheit müssen wir uns also nunmehr erheben, und da uns
die Erfahrung nur einzelne Zustände einzelner Menschen, aber niemals die
Menschheit zeigt, so müssen wir aus diesen ihren individuellen und
wandelbaren Erscheinungsarten das Absolute und Bleibende zu entdecken
und durch Wegwerfung aller zufälligen Schranken uns der notwendigen
Bedingungen ihres Daseins zu bemächtigen suchen. Zwar wird uns dieser
transzendentale Weg eine Zeitlang aus dem traulichen Kreis der
Erscheinungen und aus der lebendigen Gegenwart der Dinge entfernen und
auf dem nackten Gefild abgezogener Begriffe verweilen, aber wir streben
ja nach einem festen Grund der Erkenntnis, den nichts mehr erschüttern
soll, und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie
die Wahrheit erobern.[600]
[601] Wenn die Abstraktion so hoch, als sie immer kann, hinaufsteigt,
so gelangt sie zu zwei letzten Begriffen, bei denen sie stille stehen
und ihre Grenzen bekennen muss. Sie unterscheidet in dem Menschen etwas,
das bleibt, und etwas, das sich unaufhörlich verändert. Das Bleibende
nennt sie seine Person, das Wechselnde seinen Zustand.
Person und Zustand – das Selbst und seine Bestimmungen – die wir uns
in dem notwendigen Wesen als eins und dasselbe denken, sind ewig zwei in
dem endlichen. Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei
allem Wechsel des Zustands beharret die Person. Wir gehen von der Ruhe
zur Tätigkeit, vom Affekt zur Gleichgültigkeit, von der Übereinstimmung
zum Widerspruch, aber wir sind doch immer, und was unmittelbar aus uns
folgt, bleibt. In dem absoluten Subjekt allein beharren mit der
Persönlichkeit auch alle ihre Bestimmungen, weil sie aus der
Persönlichkeit fließen. Alles, was die Gottheit ist, ist sie deswegen,
weil sie ist; sie ist folglich alles auf ewig, weil sie ewig ist.
Da in dem Menschen, als endlichem Wesen, Person und Zustand
verschieden sind, so kann sich weder der Zustand auf die Person, noch
die Person auf den Zustand gründen. Wäre das letztere, so müsste die
Person sich verändern; wäre das erstere, so müsste der Zustand beharren;
also in jedem Fall entweder die Persönlichkeit oder die Endlichkeit
aufhören. Nicht weil wir denken, wollen, empfinden, sind wir; nicht weil
wir sind, denken, wollen, empfinden wir. Wir sind, weil wir sind; wir
empfinden, denken und wollen, weil außer uns noch etwas anderes ist.
Die Person also muss ihr eigener Grund sein, denn das Bleibende kann
nicht aus der Veränderung fließen; und so hätten wir denn fürs erste die
Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seins, d.i. die Freiheit.
Der Zustand muss einen Grund haben; er muss, da er nicht durch die Person,
also nicht absolut ist, erfolgen; und so hätten wir fürs zweite die
Bedingung alles abhängigen Seins oder Werdens, die Zeit. Die Zeit ist
die Bedingung alles Werdens: ist ein identischer Satz, denn er sagt
nichts anders als: die Folge ist die Bedingung, dass etwas erfolgt.[601]
Die Person, die sich in dem ewig beharrenden ICH und nur in diesem
offenbart, kann nicht werden, nicht anfangen in der Zeit, weil vielmehr
umgekehrt die Zeit in ihr anfangen, weil dem Wechsel ein Beharrliches
zum Grund liegen muss. Etwas muss sich verändern, wenn Veränderung sein
soll; dieses Etwas kann also nicht selbst schon Veränderung sein. Indem
wir sagen, die Blume blühet und verwelkt, machen wir die Blume zum
Bleibenden in dieser Verwandlung und leihen ihr gleichsam eine Person,
an der sich jene beiden Zustände offenbaren. Dass der Mensch erst wird,
ist kein Einwurf, denn der Mensch ist nicht bloß Person überhaupt,
sondern Person, die sich in einem bestimmten Zustand befindet. Aller
Zustand aber, alles bestimmte Dasein entsteht in der Zeit, und so muss
also der Mensch, als Phänomen, einen Anfang nehmen, obgleich die reine
Intelligenz in ihm ewig ist. Ohne die Zeit, das heißt, ohne es zu
werden, würde er nie ein bestimmtes Wesen sein; seine Persönlichkeit
würde zwar in der Anlage, aber nicht in der Tat existieren. Nur durch
die Folge seiner Vorstellungen wird das beharrliche Ich sich selbst zur
Erscheinung.
Die Materie der Tätigkeit also oder die Realität, welche die höchste
Intelligenz aus sich selber schöpft, muss der Mensch erst empfangen, und
zwar empfängt er dieselbe als etwas außer ihm Befindliches im Raume und
als etwas in ihm Wechselndes in der Zeit auf dem Wege der Wahrnehmung.
Diesen in ihm wechselnden Stoff begleitet sein niemals wechselndes Ich –
und in allem Wechsel beständig er selbst zu bleiben, alle Wahrnehmungen
zur Erfahrung, d.h. zur Einheit der Erkenntnis, und jede seiner
Erscheinungsarten in der Zeit zum Gesetz für alle Zeiten zu machen, ist
die Vorschrift, die durch seine vernünftige Natur ihm gegeben ist. Nur
indem er sich verändert, existiert er; nur indem er unveränderlich
bleibt, existiert er. Der Mensch, vorgestellt in seiner Vollendung, wäre
demnach die beharrliche Einheit, die in den Fluten der Veränderung ewig
dieselbe bleibt.
Ob nun gleich ein unendliches Wesen, eine Gottheit, nicht werden
kann, so muss man doch eine Tendenz göttlich nennen, die das
eigentlichste Merkmal der Gottheit, absolute Verkündigung des Vermögens
(Wirklichkeit alles Möglichen) und absolute Einheit des Erscheinens
(Notwendigkeit alles Wirklichen) zu ihrer unendlichen [602] Aufgabe hat.
Die Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner
Persönlichkeit in sich; der Weg zu der Gottheit, wenn man einen Weg
nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm aufgetan in den
Sinnen.
Seine Persönlichkeit, für sich allein und unabhängig von allem
sinnlichen Stoffe betrachtet, ist bloß die Anlage zu einer möglichen
unendlichen Äußerung; und solange er nicht anschaut und nicht empfindet,
ist er noch weiter nichts als Form und leeres Vermögen. Seine
Sinnlichkeit, für sich allein und abgesondert von aller Selbsttätigkeit
des Geistes betrachtet, vermag weiter nichts, als dass sie ihn, der ohne
sie bloß Form ist, zur Materie macht, aber keineswegs, dass sie die
Materie mit ihm vereinigt. Solange er bloß empfindet, bloß begehrt, und
aus bloßer Begierde wirkt, ist er noch weiter nichts als Welt, wenn wir
unter diesem Namen bloß den formlosen Inhalt der Zeit verstehen. Seine
Sinnlichkeit ist es zwar allein, die sein Vermögen zur wirkenden Kraft
macht, aber nur seine Persönlichkeit ist es, die sein Wirken zu dem
seinigen macht. Um also bloß Welt zu sein, muss er der Materie Form
erteilen; um nicht bloß Form zu sein, muss er der Anlage, die er in sich
trägt, Wirklichkeit geben. Er verwirklichet die Form, wenn er die Zeit
erschafft und dem Beharrlichen die Veränderung, der ewigen Einheit
seines Ichs die Mannigfaltigkeit der Welt gegenüberstellt; er formt die
Materie, wenn er die Zeit wieder aufhebt, Beharrlichkeit im Wechsel
behauptet und die Mannigfaltigkeit der Welt der Einheit seines Ichs
unterwürfig macht.
Hieraus fließen nun zwei entgegengesetzte Anforderungen an den
Menschen, die zwei Fundamentalgesetze der sinnlich-vernünftigen Natur.
Das erste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen,
was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen: das
zweite dringt auf absolute Formalität: er soll alles in sich vertilgen,
was bloß Welt ist, und Übereinstimmung in alle seine Veränderungen
bringen; mit andern Worten: er soll alles Innere veräußern und alles
Äußere formen. Beide Aufgaben, in ihrer höchsten Erfüllung gedacht,
führen zu dem Begriff der Gottheit zurücke, von dem ich ausgegangen
bin.[603]
[604] Zur Erfüllung dieser doppelten Aufgabe, das Notwendige in uns
zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche außer uns dem Gesetz der
Notwendigkeit zu unterwerfen, werden wir durch zwei entgegengesetzte
Kräfte gedrungen, die man, weil sie uns antreiben, ihr Objekt zu
verwirklichen, ganz schicklich Triebe nennt. Der erste dieser Triebe,
den ich den sinnlichen nennen will, geht aus von dem physischen Dasein
des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur und ist beschäftigt, ihn
in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen: nicht ihm
Materie zu geben, weil dazu schon eine freie Tätigkeit der Person
gehört, welche die Materie aufnimmt und von sich, dem Beharrlichen,
unterscheidet. Materie aber heißt hier nichts als Veränderung oder
Realität, die die Zeit erfüllt; mithin fodert dieser Trieb, dass
Veränderung sei, dass die Zeit einen Inhalt habe. Dieser Zustand der bloß
erfüllten Zeit heißt Empfindung, und er ist es allein, durch den sich
das physische Dasein verkündigt.
Da alles, was in der Zeit ist, nacheinander ist, so wird dadurch,
dass
etwas ist, alles andere ausgeschlossen. Indem man auf einem Instrument
einen Ton greift, ist unter allen Tönen, die es möglicherweise angeben
kann, nur dieser einzige wirklich; indem der Mensch das Gegenwärtige
empfindet, ist die ganze unendliche Möglichkeit seiner Bestimmungen auf
diese einzige Art des Daseins beschränkt. Wo also dieser Trieb
ausschließend wirkt, da ist notwendig die höchste Begrenzung vorhanden;
der Mensch ist in diesem Zustande nichts als eine Größeneinheit, ein
erfüllter Moment der Zeit – oder vielmehr er ist nicht, denn seine
Persönlichkeit ist solange aufgehoben, als ihn die Empfindung beherrscht
und die Zeit mit sich fortreißt2.
Soweit der Mensch endlich ist, erstreckt sich das Gebiet dieses
Triebs; und da alle Form nur an einer Materie, alles Absolute nur durch
das Medium der Schranken erscheint, so ist es freilich der[604]
sinnliche Trieb, an dem zuletzt die ganze Erscheinung der Menschheit
befestigt ist. Aber obgleich er allein die Anlagen der Menschheit weckt
und entfaltet, so ist er es doch allein, der ihre Vollendung unmöglich
macht. Mit unzerreißbaren Banden fesselt er den höher strebenden Geist
an die Sinnenwelt, und von ihrer freiesten Wanderung ins Unendliche ruft
er die Abstraktion in die Grenzen der Gegenwart zurücke. Der Gedanke
zwar darf ihm augenblicklich entfliehen, und ein fester Wille setzt sich
seinen Foderungen sieghaft entgegen; aber bald tritt die unterdrückte
Natur wieder in ihre Rechte zurück, um auf die Realität des Daseins, auf
einen Inhalt unsrer Erkenntnisse und auf einen Zweck unsers Handelns zu
dringen.
Der zweite jener Triebe, den man den Formtrieb nennen kann, geht aus
von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur
und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die
Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen und bei allem Wechsel des
Zustands seine Person zu behaupten. Da nun die letztere als absolute und
unteilbare Einheit mit sich selbst nie im Widerspruch sein kann, da wir
in alle Ewigkeit wir sind, so kann derjenige Trieb, der auf Behauptung
der Persönlichkeit dringt, nie etwas anders fodern, als was er in alle
Ewigkeit fodern muss; er entscheidet also für immer, wie er für jetzt
entscheidet, und gebietet für jetzt, was er für immer gebietet. Er
umfasst mithin die ganze Folge der Zeit, das ist soviel als: er hebt die
Zeit, er hebt die Veränderung auf, er will, dass das Wirkliche notwendig
und ewig, und dass das Ewige und Notwendige wirklich sei: mit andern
Worten: er dringt auf Wahrheit und auf Recht.
Wenn der erste nur Fälle macht, so gibt der andre Gesetze; Gesetze
für jedes Urteil, wenn es Erkenntnisse, Gesetze für jeden Willen, wenn
es Taten betrifft. Es sei nun, dass wir einen Gegenstand erkennen, dass
wir einem Zustande unsers Subjekts objektive Gültigkeit beilegen, oder
dass wir aus Erkenntnissen handeln, dass wir das Objektive[605] zum
Bestimmungsgrad unsers Zustandes machen – in beiden Fällen reißen wir
diesen Zustand aus der Gerichtsbarkeit der Zeit und gestehen ihm
Realität für alle Menschen und alle Zeiten, d.i. Allgemeinheit und
Notwendigkeit zu. Das Gefühl kann bloß sagen: das ist wahr für dieses
Subjekt und in diesem Moment, und ein anderer Moment, ein anderes
Subjekt kann kommen, das die Aussage der gegenwärtigen Empfindung
zurücknimmt. Aber wenn der Gedanke einmal ausspricht: das ist, so
entscheidet er für immer und ewig, und die Gültigkeit seines Ausspruchs
ist durch die Persönlichkeit selbst verbürgt, die allem Wechsel Trotz
bietet. Die Neigung kann bloß sagen: das ist für dein Individuum und für
dein jetziges Bedürfnis gut, aber dein Individuum und dein jetziges
Bedürfnis wird die Veränderung mit sich fortreißen und, was du jetzt
feurig begehrst, dereinst zum Gegenstand deines Abscheues machen. Wenn
aber das moralische Gefühl sagt: das soll sein, so entscheidet es für
immer und ewig – wenn du Wahrheit bekennst, weil sie Wahrheit ist, und
Gerechtigkeit ausübst, weil sie Gerechtigkeit ist, so hast du einen
einzelnen Fall zum Gesetz für alle Fälle gemacht, einen Moment in deinem
Leben als Ewigkeit behandelt.
Wo also der Formtrieb die Herrschaft führt und das reine Objekt in
uns handelt, da ist die höchste Erweiterung des Seins, da verschwinden
alle Schranken, da hat sich der Mensch aus einer Größeneinheit, auf
welche der dürftige Sinn ihn beschränkte, zu einer Ideeneinheit erhoben,
die das ganze Reich der Erscheinungen unter sich fasst. Wir sind bei
dieser Operation nicht mehr in der Zeit, sondern die Zeit ist in uns mit
ihrer ganzen nie endenden Reihe. Wir sind nicht mehr Individuen, sondern
Gattung; das Urteil aller Geister ist durch das unsrige ausgesprochen,
die Wahl aller Herzen ist repräsentiert durch unsre Tat.
2 Die Sprache hat für diesen Zustand der
Selbstlosigkeit unter der Herrschaft der Empfindung den sehr treffenden
Ausdruck: außer sich sein, das heißt, außer seinem Ich sein. Obgleich
diese Redensart nur da stattfindet, wo die Empfindung zum Affekt und
dieser Zustand durch seine längere Dauer mehr bemerkbar wird, so ist
doch jeder außer sich, solange er nur empfindet. Von diesem Zustande zur
Besonnenheit zurückkehren, nennt man ebenso richtig: in sich gehen, das
heißt, in sein Ich zurückkehren, seine Person wiederherstellen. Von
einem, der in Ohnmacht liegt, sagt man nicht, er ist außer sich,
sondern: er ist von sich, d.h. er ist seinem Ich geraubt, da jener nur
nicht in demselben ist. Daher ist derjenige, der aus einer Ohnmacht
zurückkehrte, bloß bei sich, welches sehr gut mit dem Außersichsein
bestehen kann.
[606] Beim ersten Anblick scheint nichts einander mehr
entgegengesetzt zu sein als die Tendenzen dieser beiden Triebe, indem
der eine auf Veränderung, der andre auf Unveränderlichkeit dringt. Und
doch sind es diese beiden Triebe, die den Begriff der Menschheit
erschöpfen, und ein dritter Grundtrieb, der beide vermitteln könnte, ist
schlechterdings[606] ein undenkbarer Begriff. Wie werden wir also die
Einheit der menschlichen Natur wiederherstellen, die durch diese
ursprüngliche und radikale Entgegensetzung völlig aufgehoben scheint?
Wahr ist es, ihre Tendenzen widersprechen sich, aber, was wohl zu
bemerken ist, nicht in denselben Objekten, und was nicht
aufeinandertrifft, kann nicht gegeneinanderstoßen. Der sinnliche Trieb
fodert zwar Veränderung, aber er fodert nicht, dass sie auch auf die
Person und ihr Gebiet sich erstrecke: dass ein Wechsel der Grundsätze
sei. Der Formtrieb dringt auf Einheit und Beharrlichkeit – aber er will
nicht, dass mit der Person sich auch der Zustand fixiere, dass Identität
der Empfindung sei. Sie sind einander also von Natur nicht
entgegengesetzt, und wenn sie dessen ungeachtet so erscheinen, so sind
sie es erst geworden durch eine freie Übertretung der Natur, indem sie
sich selbst missverstehen und ihre Sphären verwirren3. Über diese zu [607]
wachen und einem jeden dieser beiden Triebe seine Grenzen zu sichern,
ist die Aufgabe der Kultur, die also beiden eine gleiche Gerechtigkeit
schuldig ist und nicht bloß den vernünftigen Trieb gegen den sinnlichen,
sondern auch diesen gegen jenen zu behaupten hat. Ihr Geschäft ist also
doppelt: erstlich: die Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Freiheit zu
verwahren: zweitens: die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen
sicherzustellen. Jenes erreicht sie durch Ausbildung des
Gefühlvermögens, dieses durch Ausbildung des Vernunftvermögens.
Da die Welt ein Ausgedehntes in der Zeit, Veränderung ist, so wird
die Vollkommenheit desjenigen Vermögens, welches den Menschen mit der
Welt in Verbindung setzt, größtmöglichste Veränderlichkeit und
Extensität sein müssen. Da die Person das Bestehende in der Veränderung
ist, so wird die Vollkommenheit desjenigen Vermögens, welches sich dem
Wechsel entgegensetzen soll, größtmöglichste Selbständigkeit und
Intensität sein müssen. Je vielseitiger sich die Empfänglichkeit
ausbildet, je beweglicher dieselbe ist, und je mehr Fläche sie den
Erscheinungen darbietet, desto mehr Welt ergreift der Mensch, desto mehr
Anlagen entwickelt er in sich; je mehr Kraft und Tiefe die
Persönlichkeit, je mehr Freiheit die Vernunft gewinnt, desto mehr Welt
begreift der Mensch, desto mehr Form schafft er außer sich. Seine Kultur
wird also darin bestehen: erstlich: dem empfangenden Vermögen die
vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen und auf seiten
des Gefühls die Passivität aufs höchste zu treiben: zweitens: dem
bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu
erwerben und auf seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu
treiben. Wo beide Eigenschaften sich vereinigen, da wird der Mensch mit
der höchsten Fülle von Dasein die höchste Selbständigkeit und Freiheit
verbinden und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, diese vielmehr mit
der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der
Einheit seiner Vernunft unterwerfen. [608]
Dieses Verhältnis nun kann der Mensch umkehren und dadurch auf eine
zweifache Weise seine Bestimmung verfehlen. Er kann die Intensität,
welche die tätige Kraft erheischt, auf die leidende legen, durch den
Stofftrieb dem Formtriebe vorgreifen und das empfangende Vermögen zum
bestimmenden machen. Er kann die Extensität, welche der leidenden Kraft
gebührt, der tätigen zuteilen, durch den Formtrieb dem Stofftriebe
vorgreifen und dem empfangenden Vermögen das bestimmende unterschieben.
In dem ersten Fall wird er nie er selbst, in dem zweiten wird er nie
etwas anders sein; mithin eben darum in beiden Fällen keines von beiden,
folglich – Null sein4.
Wird nämlich der sinnliche Trieb bestimmend, macht der Sinn den
Gesetzgeber, und unterdrückt die Welt die Person, so hört sie in
demselben Verhältnisse auf, Objekt zu sein, als sie Macht wird.[609]
Sobald der Mensch nur Inhalt der Zeit ist, so ist er nicht, und er hat
folglich auch keinen Inhalt. Mit seiner Persönlichkeit ist auch sein
Zustand aufgehoben, weil beides Wechselbegriffe sind – weil die
Veränderung ein Beharrliches und die begrenzte Realität eine unendliche
fodert. Wird der Formtrieb empfangen, das heißt, kommt die Denkkraft der
Empfindung zuvor und unterschiebt die Person sich der Welt, so hört sie
in demselben Verhältnis auf, selbständige Kraft und Subjekt zu sein, als
sie sich in den Platz des Objektes drängt, weil das Beharrliche die
Veränderung, und die absolute Realität zu ihrer Verkündigung Schranken
fodert. Sobald der Mensch nur Form ist, so hat er keine Form; und mit
dem Zustand ist folglich auch die Person aufgehoben. Mit einem Wort: nur
insofern er selbständig ist, ist Realität außer ihm, ist er empfänglich;
nur insofern er empfänglich ist, ist Realität in ihm, ist er eine
denkende Kraft.
Beide Triebe haben also Einschränkung und, insofern sie als Energien
gedacht werden, Abspannung nötig; jener, dass er sich nicht ins Gebiet
der Gesetzgebung, dieser, dass er sich nicht ins Gebiet der Empfindung
eindringe. Jene Abspannung des sinnlichen Triebes[610] darf aber
keineswegs die Wirkung eines physischen Unvermögens und einer Stumpfheit
der Empfindungen sein, welche überall nur Verachtung verdient; sie muss
eine Handlung der Freiheit, eine Tätigkeit der Person sein, die durch
ihre moralische Intensität jene sinnliche mäßigt und durch Beherrschung
der Eindrücke ihnen an Tiefe nimmt, um ihnen an Fläche zu geben. Der
Charakter muss dem Temperament seine Grenzen bestimmen, denn nur an den
Geist darf der Sinn verlieren. Jene Abspannung des Formtriebs darf
ebenso wenig die Wirkung eines geistigen Unvermögens und einer
Schlaffheit der Denk- oder Willenskräfte sein, welche die Menschheit
erniedrigen würde. Fülle der Empfindungen muss ihre rühmliche Quelle
sein; die Sinnlichkeit selbst muss mit siegender Kraft ihr Gebiet
behaupten und der Gewalt widerstreben, die ihr der Geist durch seine
vorgreifende Tätigkeit gerne zufügen möchte. Mit einem Wort: den
Stofftrieb muss die Persönlichkeit, und den Formtrieb die Empfänglichkeit
oder die Natur in seinen gehörigen Schranken halten.
3 Sobald man einen ursprünglichen, mithin notwendigen
Antagonism beider Triebe behauptet, so ist freilich kein anderes Mittel,
die Einheit im Menschen zu erhalten, als dass man den sinnlichen Trieb
dem vernünftigen unbedingt unterordnet. Daraus aber kann bloß
Einförmigkeit, aber keine Harmonie entstehen, und der Mensch bleibt noch
ewig fort geteilt. Die Unterordnung muss allerdings sein, aber
wechselseitig: denn wenngleich die Schranken nie das Absolute begründen
können, also die Freiheit nie von der Zeit abhängen kann, so ist es
ebenso gewiss, dass das Absolute durch sich selbst nie die Schranken
begründen, dass der Zustand in der Zeit nicht von der Freiheit abhängen
kann. Beide Prinzipien sind einander also zugleich subordiniert und
koordiniert, d.h. sie stehen in Wechselwirkung; ohne Form keine Materie,
ohne Materie keine Form. (Diesen Begriff der Wechselwirkung und die
ganze Wichtigkeit desselben findet man vortrefflich auseinandergesetzt
in Fichtes »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, Leipzig 1794.)
Wie es mit der Person im Reich der Ideen stehe, wissen wir freilich
nicht; aber dass sie, ohne Materie zu empfangen, in dem Reiche der Zeit
sich nicht offenbaren könne, wissen wir gewiss; in diesem Reiche also
wird die Materie nicht bloß unter der Form, sondern auch neben der Form
und unabhängig von derselben etwas zu bestimmen haben. So notwendig es
also ist, dass das Gefühl im Gebiet der Vernunft nichts entscheide,
ebenso notwendig ist es, dass die Vernunft im Gebiet des Gefühls sich
nichts zu bestimmen anmaße. Schon indem man jedem von beiden ein Gebiet
zuspricht, schließt man das andere davon aus und setzt jedem eine
Grenze, die nicht anders als zum Nachteile beider überschritten werden
kann.
In einer Transzendentalphilosophie, wo alles darauf
ankommt, die Form von dem Inhalt zu befreien und das Notwendige von
allem Zufälligen rein zu erhalten, gewöhnt man sich gar leicht, das
Materielle sich bloß als Hindernis zu denken und die Sinnlichkeit, weil
sie gerade bei diesem Geschäft im Wege steht, in einem notwendigen
Widerspruch mit der Vernunft vorzustellen. Eine solche Vorstellungsart
liegt zwar auf keine Weise im Geiste des Kantischen Systems, aber im
Buchstaben desselben könnte sie gar wohl liegen.
4 Der schlimme
Einfluss einer überwiegenden Sensualität
auf unser Denken und Handeln fällt jedermann leicht in die Augen; nicht
so leicht, ob er gleich ebenso häufig vorkommt und ebenso wichtig ist,
der nachteilige Einfluss einer überwiegenden Rationalität auf unsre
Erkenntnis und auf unser Betragen. Man erlaube mir daher, aus der großen
Menge der hieher gehörenden Fälle nur zwei in Erinnerung zu bringen,
welche den Schaden einer der Anschauung und Empfindung vorgreifenden
Denk- und Willenskraft ins Licht setzen können.
Eine der vornehmsten Ursachen, warum unsre
Naturwissenschaften so langsame Schritte machen, ist offenbar der
allgemeine und kaum bezwingbare Hang zu teleologischen Urteilen, bei
denen sich, sobald sie konstitutiv gebraucht werden, das bestimmende
Vermögen dem empfangenden unterschiebt. Die Natur mag unsre Organe noch
so nachdrücklich und noch so vielfach berühren – alle ihre
Mannigfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir nichts in ihr suchen,
als was wir in sie hineingelegt haben, weil wir ihr nicht erlauben, sich
gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig
vorgreifender Vernunft gegen sie heraus streben. Kommt alsdann in
Jahrhunderten einer, der sich mit ruhigen, keuschen und offenen Sinnen
naht und deswegen auf eine Menge von Erscheinungen stößt, die wir bei
unsrer Prävention übersehen haben, so erstaunen wir höchlich darüber,
dass so viele Augen bei so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen. Dieses
voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beisammen
hat, die sie ausmachen sollen, diese gewalttätige Usurpation der
Denkkraft in einem Gebiete, wo sie nicht unbedingt zu gebieten hat, ist
der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkenden Köpfe für das Beste
der Wissenschaft, und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit,
welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Inhalt
abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet haben.
Ebenso schwer dürfte es zu bestimmen sein, ob unsre
praktische Philanthropie mehr durch die Heftigkeit unsrer Begierden oder
durch die Rigidität unsrer Grundsätze, mehr durch den Egoism unsrer
Sinne oder durch den Egoism unsrer Vernunft gestört und erkältet wird.
Um uns zu teilnehmenden, hülfreichen, tätigen Menschen zu machen, müssen
sich Gefühl und Charakter miteinander vereinigen, sowie, um uns
Erfahrung zu verschaffen, Offenheit des Sinnes mit Energie des
Verstandes zusammentreffen muss. Wie können wir, bei noch so
lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere sein,
wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns
aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den
unsrigen zu machen? Dieses Vermögen aber wird sowohl in der Erziehung,
die wir empfangen, als in der, die wir selbst uns geben, in demselben
Maße unterdrückt, als man die Macht der Begierden zu brechen und den
Charakter durch Grundsätze zu befestigen sucht. Weil es Schwierigkeit
kostet, bei aller Regsamkeit des Gefühls seinen Grundsätzen treu zu
bleiben, so ergreift man das bequemere Mittel, durch Abstumpfung der
Gefühle den Charakter sicherzustellen; denn freilich ist es unendlich
leichter, vor einem entwaffneten Gegner Ruhe zu haben, als einen mutigen
und rüstigen Feind zu beherrschen. In dieser Operation besteht dann auch
größtenteils das, was man einen Menschen formieren nennt; und zwar im
besten Sinne des Worts, wo es Bearbeitung des innern, nicht bloß des
äußern Menschen bedeutet. Ein so formierter Mensch wird freilich davor
gesichert sein, rohe Natur zu sein und als solche zu erscheinen; er wird
aber zugleich gegen alle Empfindungen der Natur durch Grundsätze
geharnischt sein, und die Menschheit von außen wird ihm ebenso wenig als
die Menschen von innen beikommen können.
Es ist ein sehr verderblicher
Missbrauch, der von dem
Ideal der Vollkommenheit gemacht wird, wenn man es beider Beurteilung
anderer Menschen und in den Fällen, wo man für sie wirken soll, in
seiner ganzen Strenge zum Grund legt. Jenes wird zur Schwärmerei, dieses
zur Härte und zur Kaltsinnigkeit führen. Man macht sich freilich seine
gesellschaftlichen Pflichten ungemein leicht, wenn man dem wirklichen
Menschen, der unsre Hülfe auffodert, in Gedanken den Idealmenschen
unterschiebt, der sich wahrscheinlich selbst helfen könnte. Strenge
gegen sich selbst, mit Weichheit gegen andre verbunden, macht den
wahrhaft vortrefflichen Charakter aus. Aber meistens wird der gegen
andere weiche Mensch es auch gegen sich selbst, und der gegen sich
selbst strenge es auch gegen andere sein; weich gegen sich und streng
gegen andre ist der verächtlichste Charakter.
[611] Wir sind nunmehr zu dem Begriff einer solchen Wechselwirkung
zwischen beiden Trieben geführt worden, wo die Wirksamkeit des einen die
Wirksamkeit des andern zugleich begründet und begrenzt, und wo jeder
einzelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung
gelangt, dass der andere tätig ist.[611]
Dieses Wechselverhältnis beider Triebe ist zwar bloß eine Aufgabe der
Vernunft, die der Mensch nur in der Vollendung seines Daseins ganz zu
lösen imstande ist. Es ist im eigentlichsten Sinne des Worts die Idee
seiner Menschheit, mithin ein Unendliches, dem er sich im Laufe der Zeit
immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen. »Er soll nicht
auf Kosten seiner Realität nach Form, und nicht auf Kosten der Form nach
Realität streben; vielmehr soll er das absolute Sein durch ein
bestimmtes und das bestimmte Sein durch ein unendliches suchen. Er soll
sich eine Welt gegenüberstellen, weil er Person ist, und soll Person
sein, weil ihm eine Welt gegenübersteht. Er soll empfinden, weil er sich
bewusst ist, und soll sich bewusst sein, weil er empfindet.« –
Dass er
dieser Idee wirklich gemäß, folglich, in voller Bedeutung des Worts,
Mensch ist, kann er nie in Erfahrung bringen, solange er nur einen
dieser beiden Triebe ausschließend oder nur einen nach dem andern
befriedigt; denn solange er nur empfindet, bleibt ihm seine Person oder
seine absolute Existenz, und, solange er nur denkt, bleibt ihm seine
Existenz in der Zeit oder sein Zustand Geheimnis. Gäbe es aber Fälle, wo
er diese doppelte Erfahrung zugleich machte, wo er sich zugleich seiner
Freiheit bewusst würde und sein Dasein empfände, wo er sich zugleich als
Materie fühlte und als Geist kennenlernte, so hätte er in diesen Fällen,
und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige Anschauung seiner
Menschheit, und der Gegenstand, der diese Anschauung ihm verschaffte,
würde ihm zu einem Symbol seiner ausgeführten Bestimmung, folglich (weil
diese nur in der Allheit der Zeit zu erreichen ist) zu einer Darstellung
des Unendlichen dienen.
Vorausgesetzt, dass Fälle dieser Art in der Erfahrung vorkommen
können, so würden sie einen neuen Trieb in ihm aufwecken, der eben
darum, weil die beiden andern in ihm zusammenwirken, einem jeden
derselben, einzeln betrachtet, entgegengesetzt sein und mit Recht für
einen neuen Trieb gelten würde. Der sinnliche Trieb will, dass
Veränderung sei, dass die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will,
dass
die Zeit aufgehoben, dass keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in
welchem beide verbunden wirken (es sei mir einstweilen, bis ich diese
Benennung gerechtfertigt haben werde, vergönnt, ihn Spieltrieb zu
nennen), der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die[612] Zeit
in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit
Identität zu vereinbaren.
Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt
empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt
hervorbringen: der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen,
wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn
zu empfangen trachtet.
Der sinnliche Trieb schließt aus seinem Subjekt alle Selbsttätigkeit
und Freiheit, der Formtrieb schließt aus dem seinigen alle Abhängigkeit,
alles Leiden aus. Ausschließung der Freiheit ist aber physische,
Ausschließung des Leidens ist moralische Notwendigkeit. Beide Triebe
nötigen also das Gemüt, jener durch Naturgesetze, dieser durch Gesetze
der Vernunft. Der Spieltrieb also, als in welchem beide verbunden
wirken, wird das Gemüt zugleich moralisch und physisch nötigen; er wird
also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nötigung aufheben und
den Menschen sowohl physisch als moralisch in Freiheit setzen. Wenn wir
jemand mit Leidenschaft umfassen, der unsrer Verachtung würdig ist, so
empfinden wir peinlich die Nötigung der Natur. Wenn wir gegen einen
andern feindlich gesinnt sind, der uns Achtung abnötigt, so empfinden
wir peinlich die Nötigung der Vernunft. Sobald er aber zugleich unsre
Neigung interessiert und unsre Achtung sich erworben, so verschwindet
sowohl der Zwang der Empfindung als der Zwang der Vernunft, und wir
fangen an, ihn zu lieben, d.h. zugleich mit unsrer Neigung und mit
unsrer Achtung zu spielen.
Indem uns ferner der sinnliche Trieb physisch und der Formtrieb
moralisch nötigt, so lässt jener unsre formale, dieser unsre materiale
Beschaffenheit zufällig; d.h. es ist zufällig, ob unsere Glückseligkeit
mit unsrer Vollkommenheit, oder ob diese mit jener übereinstimmen werde.
Der Spieltrieb also, in welchem beide vereinigt wirken, wird zugleich
unsre formale und unsre materiale Beschaffenheit, zugleich unsre
Vollkommenheit und unsre Glückseligkeit zufällig machen; er wird also,
eben weil er beide zufällig macht, und weil mit der Notwendigkeit auch
die Zufälligkeit verschwindet, die Zufälligkeit in beiden wieder
aufheben, mithin Form in die Materie und Realität in die Form bringen.
In demselben Maße, als er den Empfindungen und[613] Affekten ihren
dynamischen Einfluss nimmt, wird er sie mit Ideen der Vernunft in
Übereinstimmung bringen, und in demselben Maße, als er den Gesetzen der
Vernunft ihre moralische Nötigung benimmt, wird er sie mit dem Interesse
der Sinne versöhnen.
[614] Immer näher komme ich dem Ziel, dem ich Sie auf einem wenig
ermunternden Pfade entgegenführe. Lassen Sie es sich gefallen, mir noch
einige Schritte weiter zu folgen, so wird ein desto freierer
Gesichtskreis sich auftun und eine muntere Aussicht die Mühe des Wegs
vielleicht belohnen.
Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff
ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles
materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet.
Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff
ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher
Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und
alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich fasst. Der
Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt,
wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen
ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem,
was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.
Durch diese Erklärung, wenn es eine wäre, wird die Schönheit weder
auf das ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses
Gebiet eingeschlossen. Ein Marmorblock, obgleich er leblos ist und
bleibt, kann darum nichtsdestoweniger lebende Gestalt durch den
Architekt und Bildhauer werden; ein Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt
hat, ist darum noch lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, dass seine
Gestalt Leben und sein Leben Gestalt sei. Solange wir über seine Gestalt
bloß denken, ist sie leblos, bloße Abstraktion; solange wir sein Leben
bloß fühlen, ist es gestaltlos, bloße Impression. Nur indem seine Form
in unsrer Empfindung lebt und sein Leben in unserm Verstande sich formt,
ist er lebende Gestalt, und dies wird überall der Fall sein, wo wir ihn
als schön beurteilen.[614]
Dadurch aber, dass wir die Bestandteile anzugeben wissen, die in ihrer
Vereinigung die Schönheit hervorbringen, ist die Genesis derselben auf
keine Weise noch erklärt; denn dazu würde erfordert, dass man jene
Vereinigung selbst begriffe, die uns, wie überhaupt alle Wechselwirkung
zwischen dem Endlichen und Unendlichen, unerforschlich bleibt. Die
Vernunft stellt aus transzendentalen Gründen die Foderung auf: es soll
eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb, d.h. ein Spieltrieb
sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit
mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff der
Menschheit vollendet. Sie muss diese Foderung aufstellen, weil sie
Vernunft ist – weil sie ihrem Wesen nach auf Vollendung und auf
Wegräumung aller Schranken dringt, jede ausschließende Tätigkeit des
einen oder des andern Triebes aber die menschliche Natur unvollendet
lässt und eine Schranke in derselben begründet. Sobald sie demnach den
Ausspruch tut: es soll eine Menschheit existieren, so hat sie eben
dadurch das Gesetz aufgestellt: es soll eine Schönheit sein. Die
Erfahrung kann uns beantworten, ob eine Schönheit ist, und wir werden es
wissen, sobald sie uns belehrt hat, ob eine Menschheit ist. Wie aber
eine Schönheit sein kann, und wie eine Menschheit möglich ist, kann uns
weder Vernunft noch Erfahrung lehren.
Der Mensch, wissen wir, ist weder ausschließend Materie, noch ist er
ausschließend Geist. Die Schönheit, als Konsummation seiner Menschheit,
kann also weder ausschließend bloßes Leben sein, wie von scharfsinnigen
Beobachtern, die sich zu genau an die Zeugnisse der Erfahrung hielten,
behauptet worden ist, und wozu der Geschmack der Zeit sie gern
herabziehen möchte; noch kann sie ausschließend bloße Gestalt sein, wie
von spekulativen Weltweisen, die sich zu weit von der Erfahrung
entfernten, und von philosophierenden Künstlern, die sich in Erklärung
derselben allzu sehr durch das Bedürfnis der Kunst leiten ließen,
geurteilt worden ist5: sie ist das gemeinschaftliche Objekt beider
Triebe, das heißt, des Spieltriebs. Diesen[615] Namen rechtfertigt der
Sprachgebrauch vollkommen, der alles das, was weder subjektiv noch
objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nötigt,
mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt. Da sich das Gemüt bei
Anschauung des Schönen in einer glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz
und Bedürfnis befindet, so ist es eben darum, weil es sich zwischen
beiden teilt, dem Zwange sowohl des einen als des andern entzogen. Dem
Stofftrieb wie dem Formtrieb ist es mit ihren Foderungen ernst, weil der
eine sich, beim Erkennen, auf die Wirklichkeit, der andre auf die
Notwendigkeit der Dinge bezieht; weil, beim Handeln, der erste auf
Erhaltung des Lebens, der zweite auf Bewahrung der Würde, beide also auf
Wahrheit und Vollkommenheit gerichtet sind. Aber das Leben wird
gleichgültiger, sowie die Würde sich einmischt, und die Pflicht nötigt
nicht mehr, sobald die Neigung zieht: ebenso nimmt das Gemüt die
Wirklichkeit der Dinge, die materiale Wahrheit, freier und ruhiger auf,
sobald solche der formalen Wahrheit, dem Gesetz der Notwendigkeit,
begegnet, und fühlt sich durch Abstraktion nicht mehr angespannt, sobald
die unmittelbare Anschauung sie begleiten kann. Mit einem Wort: indem es
mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche seinen Ernst,
weil es klein wird, und indem es mit der Empfindung zusammentrifft, legt
das Notwendige den seinigen ab, weil es leicht wird.
Wird aber, möchten Sie längst schon versucht gewesen sein mir
entgegenzusetzen, wird nicht das Schöne dadurch, dass man es zum bloßen
Spiel macht, erniedrigt und den frivolen Gegenständen gleichgestellt,
die von jeher im Besitz dieses Namens waren? Widerspricht es nicht dem
Vernunftbegriff und der Würde der Schönheit, die doch als ein Instrument
der Kultur betrachtet wird, sie auf ein bloßes Spiel einzuschränken, und
widerspricht es nicht dem Erfahrungsbegriffe des Spiels, das mit
Ausschließung alles Geschmackes zusammen bestehen kann, es bloß auf
Schönheit einzuschränken?
Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen,
dass unter
allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das [616] Spiel es
ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal
entfaltet? Was Sie, nach Ihrer Vorstellung der Sache, Einschränkung
nennen, das nenne ich, nach der meinen, die ich durch Beweise
gerechtfertigt habe, Erweiterung. Ich würde also vielmehr gerade
umgekehrt sagen: mit dem Angenehmen, mit dem Guten, mit dem Vollkommenen
ist es dem Menschen nur ernst, aber mit der Schönheit spielt er.
Freilich dürfen wir uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem
wirklichen Leben im Gange sind und die sich gewöhnlich nur auf sehr
materielle Gegenstände richten; aber in dem wirklichen Leben würden wir
auch die Schönheit vergebens suchen, von der hier die Rede ist. Die
wirklich vorhandene Schönheit ist des wirklich vorhandenen Spieltriebes
wert; aber durch das Ideal der Schönheit, welches die Vernunft
aufstellt, ist auch ein Ideal des Spieltriebes aufgegeben, das der
Mensch in allen seinen Spielen vor Augen haben soll.
Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen
auf dem nämlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt.
Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia
an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der
Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und
wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder
seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns aus diesem einzigen
Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno,
eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen6.
Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und
nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit sein;
indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität
und der absoluten Realität diktiert. Mithin tut sie auch den Ausspruch:
der [617] Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit
der Schönheit spielen.
Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur,
wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht
paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn
wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der
Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen,
das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern
Lebenskunst tragen. Aber dieser Satz ist auch nur in der Wissenschaft
unerwartet; längst schon lebte und wirkte er in der Kunst und in dem
Gefühle der Griechen, ihrer vornehmsten Meister; nur dass sie in den
Olympus versetzten, was auf der Erde sollte ausgeführt werden. Von der
Wahrheit desselben geleitet, ließen sie sowohl den Ernst und die Arbeit,
welche die Wangen der Sterblichen furchen, als die nichtige Lust, die
das leere Angesicht glättet, aus der Stirne der seligen Götter
verschwinden, gaben die ewig Zufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes,
jeder Pflicht, jeder Sorge frei und machten den Müßiggang und die
Gleichgültigkeit zum beneideten Lose des Götterstandes: ein bloß
menschlicherer Name für das freieste und erhabenste Sein. Sowohl der
materielle Zwang der Naturgesetze als der geistige Zwang der
Sittengesetze verlor sich in ihrem höhern Begriff von Notwendigkeit, der
beide Welten zugleich umfasste, und aus der Einheit jener beiden
Notwendigkeiten ging ihnen erst die wahre Freiheit hervor. Beseelt von
diesem Geiste, löschten sie aus den Gesichtszügen ihres Ideals zugleich
mit der Neigung auch alle Spuren des Willens aus, oder besser, sie
machten beide unkenntlich, weil sie beide in dem innigsten Bund zu
verknüpfen wussten. Es ist weder Anmut, noch ist es Würde, was aus dem
herrlichen Antlitz einer Juno Ludovisi zu uns spricht; es ist keines von
beiden, weil es beides zugleich ist. Indem der weibliche Gott unsre
Anbetung heischt, entzündet das gottgleiche Weib unsre Liebe; aber indem
wir uns der himmlischen Holdseligkeit aufgelöst hingeben, schreckt die
himmlische Selbstgenügsamkeit uns zurück. In sich selbst ruhet und wohnt
die ganze Gestalt, eine völlig geschlossene Schöpfung, und als wenn sie
jenseits des Raumes wäre, ohne Nachgeben, ohne Widerstand;[618] da ist
keine Kraft, die mit Kräften kämpfte, keine Blöße, wo die Zeitlichkeit
einbrechen könnte. Durch jenes unwiderstehlich ergriffen und angezogen,
durch dieses in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem
Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht
jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die
Sprache keinen Namen hat.
5 Zum bloßen Leben macht die Schönheit Burke in seinen
»Philosophischen Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom
Erhabenen und Schönen«. Zur bloßen Gestalt macht sie, soweit mir bekannt
ist, jeder Anhänger des dogmatischen Systems, der über diesen Gegenstand
je sein Bekenntnis ablegte: unter den Künstlern Raphael Mengs in seinen
Gedanken über den Geschmack in der Malerei; andrer nicht zu gedenken. So
wie in allem, hat auch in diesem Stück die kritische Philosophie den Weg
eröffnet, die Empirie auf Prinzipien und die Spekulation zur Erfahrung
zurückzuführen.
6 Wenn man (um bei der neuern Welt zu bleiben) die
Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles in dem
ehemaligen Paris, die Gondelrennen in Venedig, die Tierhatzen in Wien
und das frohe, schöne Leben des Corso in Rom gegeneinander hält, so kann
es nicht schwer sein, den Geschmack dieser verschiedenen Völker
gegeneinander zu nüancieren. Indessen zeigt sich unter den Volksspielen
in diesen verschiedenen Ländern weit weniger Einförmigkeit als unter den
Spielen der feinern Welt in eben diesen Ländern, welches leicht zu
erklären ist.
[619] Aus der Wechselwirkung zwei entgegengesetzter Triebe und aus
der Verbindung zwei entgegengesetzter Prinzipien haben wir das Schöne
hervorgehen sehen, dessen höchstes Ideal also in dem möglichst
vollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu
suchen sein. Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von
der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann. In der Wirklichkeit wird
immer ein Übergewicht des einen Elements über das andere übrig bleiben,
und das Höchste, was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung
zwischen beiden Prinzipien bestehen, wo bald die Realität, bald die Form
überwiegend ist. Die Schönheit in der Idee ist also ewig nur eine
unteilbare einzige, weil es nur ein einziges Gleichgewicht geben kann;
die Schönheit in der Erfahrung hingegen wird ewig eine doppelte sein,
weil bei einer Schwankung das Gleichgewicht auf eine doppelte Art,
nämlich diesseits und jenseits, kann übertreten werden.
Ich habe in einem der vorhergehenden Briefe bemerkt, auch
lässt es
sich aus dem Zusammenhange des Bisherigen mit strenger Notwendigkeit
folgern, dass von dem Schönen zugleich eine auflösende und eine
anspannende Wirkung zu erwarten sei: eine auflösende, um sowohl den
sinnlichen Trieb als den Formtrieb in ihren Grenzen zu halten: eine
anspannende, um beide in ihrer Kraft zu erhalten. Diese beiden
Wirkungsarten der Schönheit sollen aber, der Idee nach, schlechterdings
nur eine einzige sein. Sie soll auflösen, dadurch dass sie beide Naturen
gleichförmig anspannt, und soll anspannen, dadurch dass sie beide Naturen
gleichförmig auflöst. Dieses folgt schon aus dem Begriff einer
Wechselwirkung, vermöge dessen beide Teile einander zugleich notwendig
bedingen und durch einander bedingt [619] werden, und deren reinstes
Produkt die Schönheit ist. Aber die Erfahrung bietet uns kein Beispiel
einer so vollkommenen Wechselwirkung dar, sondern hier wird jederzeit,
mehr oder weniger, das Übergewicht einen Mangel und der Mangel ein
Übergewicht begründen. Was also in dem Ideal-Schönen nur in der
Vorstellung unterschieden wird, das ist in dem Schönen der Erfahrung der
Existenz nach verschieden. Das Idealschöne, obgleich unteilbar und
einfach, zeigt in verschiedener Beziehung sowohl eine schmelzende als
energische Eigenschaft; in der Erfahrung gibt es eine schmelzende und
energische Schönheit. So ist es, und so wird es in allen den Fällen
sein, wo das Absolute in die Schranken der Zeit gesetzt ist und Ideen
der Vernunft in der Menschheit realisiert werden sollen. So denkt der
reflektierende Mensch sich die Tugend, die Wahrheit, die Glückseligkeit;
aber der handelnde Mensch wird bloß Tugenden üben, bloß Wahrheiten
fassen, bloß glückselige Tage genießen. Diese auf jene zurückzuführen –
an die Stelle der Sitten die Sittlichkeit, an die Stelle der Kenntnisse
die Erkenntnis, an die Stelle des Glückes die Glückseligkeit zu setzen,
ist das Geschäft der physischen und moralischen Bildung; aus Schönheiten
Schönheit zu machen, ist die Aufgabe der ästhetischen.
Die energische Schönheit kann den Menschen
ebenso wenig vor einem
gewissen Überrest von Wildheit und Härte bewahren, als ihn die
schmelzende vor einem gewissen Grade der Weichlichkeit und Entnervung
schützt. Denn da die Wirkung der erstern ist, das Gemüt sowohl im
Physischen als Moralischen anzuspannen und seine Schnellkraft zu
vermehren, so geschieht es nur gar zu leicht, dass der Widerstand des
Temperaments und Charakters die Empfänglichkeit für Eindrücke mindert,
dass auch die zartere Humanität eine Unterdrückung erfährt, die nur die
rohe Natur treffen sollte, und dass die rohe Natur an einem Kraftgewinn
teilnimmt, der nur der freien Person gelten sollte; daher findet man in
den Zeitaltern der Kraft und der Fülle das wahrhaft Große der
Vorstellung mit dem Gigantesken und Abenteuerlichen, und das Erhabene
der Gesinnung mit den schauderhaftesten Ausbrüchen der Leidenschaft
gepaart; daher wird man in den Zeitaltern der Regel und der Form die
Natur ebenso oft unterdrückt als beherrscht, ebenso oft beleidigt als
übertroffen finden. Und[620] weil die Wirkung der schmelzenden Schönheit
ist, das Gemüt im Moralischen wie im Physischen aufzulösen, so begegnet
es ebenso leicht, dass mit der Gewalt der Begierden auch die Energie der
Gefühle erstickt wird und dass auch der Charakter einen Kraftverlust
teilt, der nur die Leidenschaft treffen sollte: daher wird man in den
sogenannten verfeinerten Weltaltern Weichheit nicht selten in
Weichlichkeit, Fläche in Flachheit, Korrektheit in Leerheit, Liberalität
in Willkürlichkeit, Leichtigkeit in Frivolität, Ruhe in Apathie ausarten
und die verächtlichste Karikatur zunächst an die herrlichste
Menschlichkeit grenzen sehen. Für den Menschen unter dem Zwange entweder
der Materie oder der Formen ist also die schmelzende Schönheit
Bedürfnis, denn von Größe und Kraft ist er längst gerührt, ehe er für
Harmonie und Grazie anfängt empfindlich zu werden. Für den Menschen
unter der Indulgenz des Geschmacks ist die energische Schönheit
Bedürfnis, denn nur allzu gern verscherzt er im Stand der Verfeinerung
eine Kraft, die er aus dem Stand der Wildheit herüberbrachte.
Und nunmehr, glaube ich, wird jener Widerspruch erklärt und
beantwortet sein, den man in den Urteilen der Menschen über den Einfluss
des Schönen und in Würdigung der ästhetischen Kultur anzutreffen pflegt.
Er ist erklärt, dieser Widerspruch, sobald man sich erinnert, dass es in
der Erfahrung eine zweifache Schönheit gibt und dass beide Teile von der
ganzen Gattung behaupten, was jeder nur von einer besondern Art
derselben zu beweisen imstande ist. Er ist gehoben, dieser Widerspruch,
sobald man das doppelte Bedürfnis der Menschheit unterscheidet, dem jene
doppelte Schönheit entspricht. Beide Teile werden also wahrscheinlich
recht behalten, wenn sie nur erst miteinander verständigt sind, welche
Art der Schönheit und welche Form der Menschheit sie in Gedanken haben.
Ich werde daher im Fortgange meiner Untersuchungen den Weg, den die
Natur in ästhetischer Hinsicht mit dem Menschen einschlägt, auch zu dem
meinigen machen und mich von den Arten der Schönheit zu dem
Gattungsbegriff derselben erheben. Ich werde die Wirkungen der
schmelzenden Schönheit an dem angespannten Menschen und die Wirkungen
der energischen an dem abgespannten prüfen, um zuletzt beide
entgegengesetzte Arten der Schönheit in der Einheit des [621]
Ideal-Schönen auszulöschen, so wie jene zwei entgegengesetzten Formen
der Menschheit in der Einheit des Ideal-Menschen untergehn.
[622] Solange es bloß darauf ankam, die allgemeine Idee der Schönheit
aus dem Begriffe der menschlichen Natur überhaupt abzuleiten, durften
wir uns an keine andere Schranken der letztern erinnern, als die
unmittelbar in dem Wesen derselben gegründet und von dem Begriffe der
Endlichkeit unzertrennlich sind. Unbekümmert um die zufälligen
Einschränkungen, die sie in der wirklichen Erscheinung erleiden möchte,
schöpften wir den Begriff derselben unmittelbar aus der Vernunft, als
der Quelle aller Notwendigkeit, und mit dem Ideale der Menschheit war
zugleich auch das Ideal der Schönheit gegeben.
Jetzt aber steigen wir aus der Region der Ideen auf den Schauplatz
der Wirklichkeit herab, um den Menschen in einem bestimmten Zustand,
mithin unter Einschränkungen anzutreffen, die nicht ursprünglich aus
seinem bloßen Begriff, sondern aus äußern Umständen und aus einem
zufälligen Gebrauch seiner Freiheit fließen. Auf wie vielfache Weise
aber auch die Idee der Menschheit in ihm eingeschränkt sein mag, so
lehret uns schon der bloße Inhalt derselben, dass im ganzen nur zwei
entgegengesetzte Abweichungen von derselben statthaben können. Liegt
nämlich seine Vollkommenheit in der übereinstimmenden Energie seiner
sinnlichen und geistigen Kräfte, so kann er diese Vollkommenheit nur
entweder durch einen Mangel an Übereinstimmung oder durch einen Mangel
an Energie verfehlen. Ehe wir also noch die Zeugnisse der Erfahrung
darüber abgehört haben, sind wir schon im voraus durch bloße Vernunft
gewiss, dass wir den wirklichen, folglich beschränkten Menschen entweder
in einem Zustande der Anspannung oder in einem Zustande der Abspannung
finden werden, je nachdem entweder die einseitige Tätigkeit einzelner
Kräfte die Harmonie seines Wesens stört oder die Einheit seiner Natur
sich auf die gleichförmige Erschlaffung seiner sinnlichen und geistigen
Kräfte gründet. Beide entgegengesetzte Schranken werden, wie nun
bewiesen werden soll, durch die Schönheit gehoben, die in dem
angespannten Menschen die Harmonie, in dem abgespannten die Energie[622]
wiederherstellt und auf diese Art, ihrer Natur gemäß, den
eingeschränkten Zustand auf einen absoluten zurückführt und den Menschen
zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen macht.
Sie verleugnet also in der Wirklichkeit auf keine Weise den Begriff,
den wir in der Spekulation von ihr fassten; nur dass sie hier ungleich
weniger freie Hand hat als dort, wo wir sie auf den reinen Begriff der
Menschheit anwenden durften. An dem Menschen, wie die Erfahrung ihn
aufstellt, findet sie einen schon verdorbenen und widerstrebenden Stoff,
der ihr gerade so viel von ihrer idealen Vollkommenheit raubt, als er
von seiner individualen Beschaffenheit einmischt. Sie wird daher in der
Wirklichkeit überall nur als eine besondere und eingeschränkte Spezies,
nie als reine Gattung sich zeigen, sie wird in angespannten Gemütern von
ihrer Freiheit und Mannigfaltigkeit, sie wird in abgespannten von ihrer
belebenden Kraft ablegen; uns aber, die wir nunmehr mit ihrem wahren
Charakter vertrauter geworden sind, wird diese widersprechende
Erscheinung nicht irre machen. Weit entfernt, mit dem großen Haufen der
Beurteiler aus einzelnen Erfahrungen ihren Begriff zu bestimmen und sie
für die Mängel verantwortlich zu machen, die der Mensch unter ihrem
Einflusse zeigt, wissen wir vielmehr, dass es der Mensch ist, der die
Unvollkommenheiten seines Individuums auf sie überträgt, der durch seine
subjektive Begrenzung ihrer Vollendung unaufhörlich im Wege steht und
ihr absolutes Ideal auf zwei eingeschränkte Formen der Erscheinung
herabsetzt.
Die schmelzende Schönheit, wurde behauptet, sei für ein angespanntes
Gemüt, und für ein abgespanntes die energische. Angespannt aber nenne
ich den Menschen sowohl, wenn er sich unter dem Zwange von Empfindungen,
als wenn er sich unter dem Zwange von Begriffen befindet. Jede
ausschließende Herrschaft eines seiner beiden Grundtriebe ist für ihn
ein Zustand des Zwanges und der Gewalt; und Freiheit liegt nur in der
Zusammenwirkung seiner beiden Naturen. Der von Gefühlen einseitig
beherrschte oder sinnlich angespannte Mensch wird also aufgelöst und in
Freiheit gesetzt durch Form; der von Gesetzen einseitig beherrschte oder
geistig angespannte Mensch wird aufgelöst und in Freiheit gesetzt durch
Materie. Die schmelzende Schönheit, um dieser doppelten Aufgabe ein
Genüge zu tun, wird sich also[623] unter zwei verschiednen Gestalten
zeigen. Sie wird erstlich als ruhige Form das wilde Leben besänftigen
und von Empfindungen zu Gedanken den Übergang bahnen; sie wird zweitens
als lebendes Bild die abgezogene Form mit sinnlicher Kraft ausrüsten,
den Begriff zur Anschauung und das Gesetz zum Gefühl zurückführen. Den
ersten Dienst leistet sie dem Naturmenschen, den zweiten dem künstlichen
Menschen. Aber weil sie in beiden Fällen über ihren Stoff nicht ganz
frei gebietet, sondern von demjenigen abhängt, den ihr entweder die
formlose Natur oder die naturwidrige Kunst darbietet, so wird sie in
beiden Fällen noch Spuren ihres Ursprunges tragen und dort mehr in das
materielle Leben, hier mehr in die bloße abgezogene Form sich verlieren.
Um uns einen Begriff davon machen zu können, wie die Schönheit ein
Mittel werden kann, jene doppelte Anspannung zu heben, müssen wir den
Ursprung derselben in dem menschlichen Gemüt zu erforschen suchen.
Entschließen Sie sich also noch zu einem kurzen Aufenthalt im Gebiete
der Spekulation, um es alsdann auf immer zu verlassen und mit desto
sichererm Schritt auf dem Feld der Erfahrung fortzuschreiten.
[624] Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum
Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur
Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.
Aus diesem scheint zu folgen,
dass es zwischen Materie und Form,
zwischen Leiden und Tätigkeit einen mittleren Zustand geben müsse, und
dass uns die Schönheit in diesen mittleren Zustand versetze. Diesen
Begriff bildet sich auch wirklich der größte Teil der Menschen von der
Schönheit, sobald er angefangen hat, über ihre Wirkungen zu
reflektieren, und alle Erfahrungen weisen darauf hin. Auf der andern
Seite aber ist nichts ungereimter und widersprechender als ein solcher
Begriff, da der Abstand zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und
Tätigkeit, zwischen Empfinden und Denken unendlich ist und
schlechterdings durch nichts kann vermittelt werden. Wie heben wir nun
diesen Widerspruch? Die Schönheit verknüpft die zwei entgegengesetzten
Zustände des Empfindens und des Denkens, und doch gibt [624] es
schlechterdings kein Mittleres zwischen beiden. Jenes ist durch
Erfahrung, dieses ist unmittelbar durch Vernunft gewiss.
Dies ist der eigentliche Punkt, auf den zuletzt die ganze Frage über
die Schönheit hinausläuft, und gelingt es uns, dieses Problem
befriedigend aufzulösen, so haben wir zugleich den Faden gefunden, der
uns durch das ganze Labyrinth der Ästhetik führt.
Es kommt aber hiebei auf zwei höchst verschiedene Operationen an,
welche bei dieser Untersuchung einander notwendig unterstützen müssen.
Die Schönheit, heißt es, verknüpft zwei Zustände miteinander, die
einander entgegengesetzt sind und niemals eins werden können. Von dieser
Entgegensetzung müssen wir ausgehen; wir müssen sie in ihrer ganzen
Reinheit und Strengigkeit auffassen und anerkennen, so dass beide
Zustände sich auf das bestimmteste scheiden; sonst vermischen wir, aber
vereinigen nicht. Zweitens heißt es: jene zwei entgegengesetzten
Zustände verbindet die Schönheit und hebt also die Entgegensetzung auf.
Weil aber beide Zustände einander ewig entgegengesetzt bleiben, so sind
sie nicht anders zu verbinden, als indem sie aufgehoben werden. Unser
zweites Geschäft ist also, diese Verbindung vollkommen zu machen, sie so
rein und vollständig durchzuführen, dass beide Zustände in einem dritten
gänzlich verschwinden und keine Spur der Teilung in dem Ganzen
zurückbleibt; sonst vereinzeln wir, aber vereinigen nicht. Alle
Streitigkeiten, welche jemals in der philosophischen Welt über den
Begriff der Schönheit geherrscht haben und zum Teil noch heutzutag
herrschen, haben keinen andern Ursprung, als dass man die Untersuchung
entweder nicht von einer gehörig strengen Unterscheidung anfing oder sie
nicht bis zu einer völlig reinen Vereinigung durchführte. Diejenigen
unter den Philosophen, welche sich bei der Reflexion über diesen
Gegenstand der Leitung ihres Gefühls blindlings anvertrauen, können von
der Schönheit keinen Begriff erlangen, weil sie in dem Total des
sinnlichen Eindrucks nichts Einzelnes unterscheiden. Die andern, welche
den Verstand ausschließend zum Führer nehmen, können nie einen Begriff
von der Schönheit erlangen, weil sie in dem Total derselben nie etwas
anders als die Teile sehen und Geist und Materie auch in ihrer
vollkommensten Einheit ihnen ewig geschieden bleiben. Die ersten
fürchten, die Schönheit dynamisch, d.h. als wirkende Kraft aufzuheben,
wenn sie trennen sollen,[625] was im Gefühl doch verbunden ist; die
andern fürchten, die Schönheit logisch, d.h. als Begriff aufzuheben,
wenn sie zusammenfassen sollen, was im Verstand doch geschieden ist.
Jene wollen die Schönheit auch ebenso denken, wie sie wirkt; diese
wollen sie ebenso wirken lassen, wie sie gedacht wird. Beide müssen also
die Wahrheit verfehlen, jene, weil sie es mit ihrem eingeschränkten
Denkvermögen der unendlichen Natur nachtun; diese, weil sie die
unendliche Natur nach ihren Denkgesetzen einschränken wollen. Die ersten
fürchten, durch eine zu strenge Zergliederung der Schönheit von ihrer
Freiheit zu rauben; die andern fürchten, durch eine zu kühne Vereinigung
die Bestimmtheit ihres Begriffs zu zerstören. Jene bedenken aber nicht,
dass die Freiheit, in welche sie mit allem Recht das Wesen der Schönheit
setzen, nicht Gesetzlosigkeit, sondern Harmonie von Gesetzen, nicht
Willkürlichkeit, sondern höchste innere Notwendigkeit ist; diese
bedenken nicht, dass die Bestimmtheit, welche sie mit gleichem Recht von
der Schönheit fodern, nicht in der Ausschließung gewisser Realitäten,
sondern in der absoluten Einschließung aller besteht, dass sie also nicht
Begrenzung, sondern Unendlichkeit ist. Wir werden die Klippen vermeiden,
an welchen beide gescheitert sind, wenn wir von den zwei Elementen
beginnen, in welche die Schönheit sich vor dem Verstande teilt, aber uns
alsdann auch zu der reinen ästhetischen Einheit erheben, durch die sie
auf die Empfindung wirkt und in welcher jene beiden Zustände gänzlich
verschwinden.
7 Einem aufmerksamen Leser wird sich bei der hier
angestellten Vergleichung die Bemerkung dargeboten haben, dass die
sensualen Ästhetiker, welche das Zeugnis der Empfindung mehr als das
Raisonnement gelten lassen, sich der Tat nach weit weniger von der
Wahrheit entfernen als ihre Gegner, obgleich sie der Einsicht nach es
nicht mit diesen aufnehmen können; und dieses Verhältnis findet man
überall zwischen der Natur und der Wissenschaft. Die Natur (der Sinn)
vereinigt überall, der Verstand scheidet überall, aber die Vernunft
vereinigt wieder; daher ist der Mensch, ehe er anfängt zu
philosophieren, der Wahrheit näher als der Philosoph, der seine
Untersuchung noch nicht geendigt hat. Man kann deswegen ohne alle
weitere Prüfung ein Philosophem für irrig erklären, sobald dasselbe, dem
Resultat nach, die gemeine Empfindung gegen sich hat; mit demselben
Rechte aber kann man es für verdächtig halten, wenn es, der Form und
Methode nach, die gemeine Empfindung auf seiner Seite hat. Mit dem
letztern mag sich ein jeder Schriftsteller trösten, der eine
philosophische Deduktion nicht, wie manche Leser zu erwarten scheinen,
wie eine Unterhaltung am Kaminfeuer vortragen kann. Mit dem erstern mag
man jeden zum Stillschweigen bringen, der auf Kosten des
Menschenverstandes neue Systeme gründen will.
[626] Es lassen sich in dem Menschen überhaupt zwei verschiedene
Zustände der passiven und aktiven Bestimmbarkeit und ebenso viele
Zustände der passiven und aktiven Bestimmung unterscheiden. Die
Erklärung dieses Satzes führt uns am kürzesten zum Ziel.[626]
Der Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung, die ihm
durch Eindrücke der Sinne gegeben wird, ist eine Bestimmbarkeit ohne
Grenzen. Das Endlose des Raumes und der Zeit ist seiner Einbildungskraft
zu freiem Gebrauch hingegeben, und weil, der Voraussetzung nach, in
diesem weiten Reiche des Möglichen nichts gesetzt, folglich auch noch
nichts ausgeschlossen ist, so kann man diesen Zustand der
Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen, welches mit einer
unendlichen Leere keineswegs zu verwechseln ist.
Jetzt soll sein Sinn gerührt werden, und aus der unendlichen Menge
möglicher Bestimmungen soll eine einzelne Wirklichkeit erhalten. Eine
Vorstellung soll in ihm entstehen. Was in dem vorhergegangenen Zustand
der bloßen Bestimmbarkeit nichts als ein leeres Vermögen war, das wird
jetzt zu einer wirkenden Kraft, das bekommt einen Inhalt; zugleich aber
erhält es, als wirkende Kraft, eine Grenze, da es, als bloßes Vermögen,
unbegrenzt war. Realität ist also da, aber die Unendlichkeit ist
verloren. Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den
endlosen Raum begrenzen; um uns eine Veränderung in der Zeit
vorzustellen, müssen wir das Zeitganze teilen. Wir gelangen also nur
durch Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur
Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufhebung unsrer freien
Bestimmbarkeit zur Bestimmung.
Aber aus einer bloßen Ausschließung würde in Ewigkeit keine Realität
und aus einer bloßen Sinnenempfindung in Ewigkeit keine Vorstellung
werden, wenn nicht etwas vorhanden wäre, von welchem ausgeschlossen
wird, wenn nicht durch eine absolute Tathandlung des Geistes die
Negation auf etwas Positives bezogen und aus Nichtsetzung [627]
Entgegensetzung würde; diese Handlung des Gemüts heißt urteilen oder
denken, und das Resultat derselben der Gedanke.
Ehe wir im Raum einen Ort bestimmen, gibt es überhaupt keinen Raum
für uns; aber ohne den absoluten Raum würden wir nimmermehr einen Ort
bestimmen. Ebenso mit der Zeit. Ehe wir den Augenblick haben, gibt es
überhaupt keine Zeit für uns; aber ohne die ewige Zeit würden wir nie
eine Vorstellung des Augenblicks haben. Wir gelangen also freilich nur
durch den Teil zum Ganzen, nur durch die Grenze zum Unbegrenzten; aber
wir gelangen auch nur durch das Ganze zum Teil, nur durch das
Unbegrenzte zur Grenze.
Wenn nun also von dem Schönen behauptet wird,
dass es dem Menschen
einen Übergang vom Empfinden zum Denken bahne, so ist dies keineswegs so
zu verstehen, als ob durch das Schöne die Kluft könnte ausgefüllt
werden, die das Empfinden vom Denken, die das Leiden von der Tätigkeit
trennt; diese Kluft ist unendlich, und ohne Dazwischenkunft eines neuen
und selbständigen Vermögens kann aus dem Einzelnen in Ewigkeit nichts
Allgemeines, kann aus dem Zufälligen nichts Notwendiges werden. Der
Gedanke ist die unmittelbare Handlung dieses absoluten Vermögens,
welches zwar durch die Sinne veranlasst werden muss, sich zu äußern, in
seiner Äußerung selbst aber so wenig von der Sinnlichkeit abhängt, dass
es sich vielmehr nur durch Entgegensetzung gegen dieselbe verkündiget.
Die Selbständigkeit, mit der es handelt, schließt jede fremde Einwirkung
aus, und nicht insofern sie beim Denken hilft (welches einen offenbaren
Widerspruch enthält), bloß insofern sie den Denkkräften Freiheit
verschafft, ihren eigenen Gesetzen gemäß sich zu äußern, kann die
Schönheit ein Mittel werden, den Menschen von der Materie zur Form, von
Empfindungen zu Gesetzen, von einem beschränkten zu einem absoluten
Dasein zu führen.
Dies aber setzt voraus,
dass die Freiheit der Denkkräfte gehemmt
werden könne, welches mit dem Begriff eines selbständigen Vermögens zu
streiten scheint. Ein Vermögen nämlich, welches von außen nichts als den
Stoff seines Wirkens empfängt, kann nur durch Entziehung des Stoffes,
also nur negativ an seinem Wirken gehindert werden, und es heißt die
Natur eines Geistes verkennen, wenn man den sinnlichen Passionen eine
Macht beilegt, die Freiheit des Gemüts positiv unterdrücken[628] zu
können. Zwar stellt die Erfahrung Beispiele in Menge auf, wo die
Vernunftkräfte in demselben Maß unterdrückt erscheinen, als die
sinnlichen Kräfte feuriger wirken, aber anstatt jene Geistesschwäche von
der Stärke des Affekts abzuleiten, muss man vielmehr diese überwiegende
Stärke des Affekts durch jene Schwäche des Geistes erklären; denn die
Sinne können nicht anders eine Macht gegen den Menschen vorstellen, als
insofern der Geist frei unterlassen hat, sich als eine solche zu
beweisen.
Indem ich aber durch diese Erklärung einem Einwurfe zu begegnen
suche, habe ich mich, wie es scheint, in einen andern verwickelt und die
Selbständigkeit des Gemüts nur auf Kosten seiner Einheit gerettet. Denn
wie kann das Gemüt aus sich selbst zugleich Gründe der Nichttätigkeit
und der Tätigkeit nehmen, wenn es nicht selbst geteilt, wenn es nicht
sich selbst entgegengesetzt ist?
Hier müssen wir uns nun erinnern,
dass wir den endlichen, nicht den
unendlichen Geist vor uns haben. Der endliche Geist ist derjenige, der
nicht anders als durch Leiden tätig wird, nur durch Schranken zum
Absoluten gelangt, nur, insofern er Stoff empfängt, handelt und bildet.
Ein solcher Geist wird also mit dem Triebe nach Form oder nach dem
Absoluten einen Trieb nach Stoff oder nach Schranken verbinden, als
welche die Bedingungen sind, ohne welche er den ersten Trieb weder haben
noch befriedigen könnte. Inwiefern in demselben Wesen zwei so
entgegengesetzte Tendenzen zusammen bestehen können, ist eine Aufgabe,
die zwar den Metaphysiker, aber nicht den Transzendentalphilosophen in
Verlegenheit setzen kann. Dieser gibt sich keineswegs dafür aus, die
Möglichkeit der Dinge zu erklären, sondern begnügt sich, die Kenntnisse
festzusetzen, aus welchen die Möglichkeit der Erfahrung begriffen wird.
Und da nun Erfahrung ebenso wenig ohne jene Entgegensetzung im Gemüte als
ohne die absolute Einheit desselben möglich wäre, so stellt er beide
Begriffe mit vollkommner Befugnis als gleich notwendige Bedingungen der
Erfahrung auf, ohne sich weiter um ihre Vereinbarkeit zu bekümmern.
Diese Inwohnung zweier Grundtriebe widerspricht übrigens auf keine Weise
der absoluten Einheit des Geistes, sobald man nur von beiden Trieben ihn
selbst unterscheidet. Beide Triebe existieren und wirken zwar in ihm,
aber er selbst ist weder Materie noch Form, weder[629] Sinnlichkeit noch
Vernunft, welches diejenigen, die den menschlichen Geist nur da selbst
handeln lassen, wo sein Verfahren mit der Vernunft übereinstimmt, und wo
dieses der Vernunft widerspricht, ihn bloß für passiv erklären, nicht
immer bedacht zu haben scheinen.
Jeder dieser beiden Grundtriebe strebt, sobald er zur Entwicklung
gekommen, seiner Natur nach und notwendig nach Befriedigung, aber eben
darum, weil beide notwendig und beide doch nach entgegengesetzten
Objekten streben, so hebt diese doppelte Nötigung sich gegenseitig auf,
und der Wille behauptet eine vollkommene Freiheit zwischen beiden. Der
Wille ist es also, der sich gegen beide Triebe als eine Macht (als Grund
der Wirklichkeit) verhält, aber keiner von beiden kann sich für sich
selbst als eine Macht gegen den andern verhalten. Durch den positivsten
Antrieb zur Gerechtigkeit, woran es ihm keineswegs mangelt, wird der
Gewalttätige nicht von Unrecht abgehalten, und durch die lebhafteste
Versuchung zum Genus der Starkmütige nicht zum Bruch seiner Grundsätze
gebracht. Es gibt in dem Menschen keine andere Macht als seinen Willen,
und nur was den Menschen aufhebt, der Tod und jeder Raub des
Bewusstseins, kann die innere Freiheit aufheben.
Eine Notwendigkeit außer uns bestimmt unsern Zustand, unser Dasein in
der Zeit vermittelst der Sinnenempfindung. Diese ist ganz unwillkürlich,
und so, wie auf uns gewirkt wird, müssen wir leiden. Ebenso eröffnet
eine Notwendigkeit in uns unsre Persönlichkeit, auf Veranlassung jener
Sinnenempfindung und durch Entgegensetzung gegen dieselbe; denn das
Selbstbewusstsein kann von dem Willen, der es voraussetzt, nicht
abhangen. Diese ursprüngliche Verkündigung der Persönlichkeit ist nicht
unser Verdienst, und der Mangel derselben nicht unser Fehler. Nur von
demjenigen, der sich bewusst ist, wird Vernunft, d.h. absolute Konsequenz
und Universalität des Bewusstseins gefodert; vorher ist er nicht Mensch,
und kein Akt der Menschheit kann von ihm erwartet werden. So wenig nun
der Metaphysiker sich die Schranken erklären kann, die der freie und
selbständige Geist durch die Empfindung erleidet, so wenig begreift der
Physiker die Unendlichkeit, die sich auf Veranlassung dieser Schranken
in der Persönlichkeit offenbart. Weder Abstraktion noch Erfahrung leiten
uns bis zu der Quelle zurück, aus der unsre Begriffe von
Allgemeinheit[630] und Notwendigkeit fließen; ihre frühe Erscheinung in
der Zeit entzieht sie dem Beobachter und ihr übersinnlicher Ursprung dem
metaphysischen Forscher. Aber genug, das Selbstbewusstsein ist da, und
zugleich mit der unveränderlichen Einheit desselben ist das Gesetz der
Einheit für alles, was für den Menschen ist, und für alles, was durch
ihn werden soll, für sein Erkennen und Handeln aufgestellt.
Unentfliehbar, unverfälschbar, unbegreiflich stellen die Begriffe von
Wahrheit und Recht schon im Alter der Sinnlichkeit sich dar, und ohne
dass man zu sagen wüsste, woher und wie es entstand, bemerkt man das Ewige
in der Zeit und das Notwendige im Gefolge des Zufalls. So entspringen
Empfindung und Selbstbewusstsein völlig ohne Zutun des Subjekts, und
beider Ursprung liegt ebenso wohl jenseits unseres Willens, als er jenseits
unseres Erkenntniskreises liegt.
Sind aber beide wirklich, und hat der Mensch, vermittelst der
Empfindung, die Erfahrung einer bestimmten Existenz, hat er durch das
Selbstbewusstsein die Erfahrung seiner absoluten Existenz gemacht, so
werden mit ihren Gegenständen auch seine beiden Grundtriebe rege. Der
sinnliche Trieb erwacht mir der Erfahrung des Lebens (mit dem Anfang des
Individuums), der vernünftige mit der Erfahrung des Gesetzes (mit dem
Anfang der Persönlichkeit), und jetzt erst, nachdem beide zum Dasein
gekommen, ist seine Menschheit aufgebaut. Bis dies geschehen ist,
erfolgt alles in ihm nach dem Gesetz der Notwendigkeit; jetzt aber
verlässt ihn die Hand der Natur, und es ist seine Sache, die Menschheit
zu behaupten, welche jene in ihm anlegte und eröffnete. Sobald nämlich
zwei entgegengesetzte Grundtriebe in ihm tätig sind, so verlieren beide
ihre Nötigung, und die Entgegensetzung zweier Notwendigkeiten gibt der
Freiheit den Ursprung 8.[631]
8 Um aller
Missdeutung vorzubeugen, bemerke ich, dass,
sooft hier von Freiheit die Rede ist, nicht diejenige gemeint ist, die
dem Menschen, als Intelligenz betrachtet, notwendig zukommt und ihm
weder gegeben noch genommen werden kann, sondern diejenige, welche sich
auf seine gemischte Natur gründet. Dadurch, dass der Mensch überhaupt nur
vernünftig handelt, beweist er eine Freiheit der ersten Art, dadurch,
dass er in den Schranken des Stoffes vernünftig und unter Gesetzen der
Vernunft materiell handelt, beweist er eine Freiheit der zweiten Art.
Man könnte die letztere schlechtweg durch eine natürliche Möglichkeit
der erstern erklären.
[632] Dass auf die Freiheit nicht gewirkt werden könne, ergibt sich
schon aus ihrem bloßen Begriff; dass aber die Freiheit selbst eine
Wirkung der Natur (dieses Wort in seinem weitesten Sinne genommen), kein
Werk des Menschen sei, dass sie also auch durch natürliche Mittel
befördert und gehemmt werden könne, folgt gleich notwendig aus dem
vorigen. Sie nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist
und seine beiden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muss also fehlen,
solang er unvollständig und einer von beiden Trieben ausgeschlossen ist,
und muss durch alles das, was ihm seine Vollständigkeit zurückgibt,
wiederhergestellt werden können.
Nun lässt sich wirklich, sowohl in der ganzen Gattung als in dem
einzelnen Menschen, ein Moment aufzeigen, in welchem der Mensch noch
nicht vollständig und einer von beiden Trieben ausschließend in ihm
tätig ist. Wir wissen, dass er anfängt mit bloßem Leben, um zu endigen
mit Form; dass er früher Individuum als Person ist, dass er von den
Schranken aus zur Unendlichkeit geht. Der sinnliche Trieb kommt also
früher als der vernünftige zur Wirkung, weil die Empfindung dem
Bewusstsein vorhergeht, und in dieser Priorität des sinnlichen Triebes
finden wir den Aufschluss zu der ganzen Geschichte der menschlichen
Freiheit.
Denn es gibt nun einen Moment, wo der Lebenstrieb, weil ihm der
Formtrieb noch nicht entgegenwirkt, als Natur und als Notwendigkeit
handelt; wo die Sinnlichkeit eine Macht ist, weil der Mensch noch nicht
angefangen; denn in dem Menschen selbst kann es keine andere Macht als
den Willen geben. Aber im Zustand des Denkens, zu welchem der Mensch
jetzt übergehen soll, soll gerade umgekehrt die Vernunft eine Macht
sein, und eine logische oder moralische Notwendigkeit soll an die Stelle
jener physischen treten. Jene Macht der Empfindung muss also vernichtet
werden, ehe das Gesetz dazu erhoben werden kann. Es ist also nicht damit
getan, dass etwas anfange, was noch nicht war; es muss zuvor etwas
aufhören, welches war. Der Mensch kann nicht unmittelbar vom Empfinden
zum Denken übergehen; er muss einen Schritt zurück tun, weil nur, indem
eine Determination wieder aufgehoben wird, die entgegengesetzte
eintreten kann.[632] Er muss also, um Leiden mit Selbsttätigkeit, um eine
passive Bestimmung mit einer aktiven zu vertauschen, augenblicklich von
aller Bestimmung frei sein und einen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit
durchlaufen. Mithin muss er auf gewisse Weise zu jenem negativen Zustand
der bloßen Bestimmungslosigkeit zurückkehren, in welchem er sich befand,
ehe noch irgend etwas auf seinen Sinn einen Eindruck machte. Jener
Zustand aber war an Inhalt völlig leer, und jetzt kommt es darauf an,
eine gleiche Bestimmungslosigkeit und eine gleich unbegrenzte
Bestimmbarkeit mit dem größtmöglichen Gehalt zu vereinbaren, weil
unmittelbar aus diesem Zustand etwas Positives erfolgen soll. Die
Bestimmung, die er durch Sensation empfangen, muss also festgehalten
werden, weil er die Realität nicht verlieren darf; zugleich aber muss
sie, insofern sie Begrenzung ist, aufgehoben werden, weil eine
unbegrenzte Bestimmbarkeit stattfinden soll. Die Aufgabe ist also, die
Determination des Zustandes zugleich zu vernichten und beizubehalten,
welches nur auf die einzige Art möglich ist, dass man ihr eine andere
entgegensetzt. Die Schalen einer Waage stehen gleich, wenn sie leer
sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte enthalten.
Das Gemüt geht also von
der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in
welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind, eben deswegen
aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben und durch eine
Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in
welcher das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt und doch auf
beide Art tätig ist, verdient vorzugsweise eine freie Stimmung zu
heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen,
den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so
muss man diesen Zustand der realen und aktiven
Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen 9.[633
9 Für Leser, denen die reine Bedeutung dieses durch
Unwissenheit so sehr gemißbrauchten Wortes nicht ganz geläufig ist, mag
folgendes zur Erklärung dienen. Alle Dinge, die irgend in der
Erscheinung vorkommen können, lassen sich unter vier verschiedenen
Beziehungen denken. Eine Sache kann sich unmittelbar auf unsern
sinnlichen Zustand (unser Dasein und Wohlsein) beziehen; das ist ihre
physische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf den Verstand beziehen
und uns eine Erkenntnis verschaffen; das ist ihre logische
Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf unsern Willen beziehen und als
ein Gegenstand der Wahl für ein vernünftiges Wesen betrachtet werden;
das ist ihre moralische Beschaffenheit. Oder endlich, sie kann sich auf
das Ganze unsrer verschiedenen Kräfte beziehen, ohne für eine einzelne
derselben ein bestimmtes Objekt zu sein, das ist ihre ästhetische
Beschaffenheit. Ein Mensch kann uns durch seine Dienstfertigkeit
angenehm sein; er kann uns durch seine Unterhaltung zu denken geben; er
kann uns durch seinen Charakter Achtung einflößen; endlich kann er uns
aber auch, unabhängig von diesem allen, und ohne dass wir bei seiner
Beurteilung weder auf irgendein Gesetz, noch auf irgendeinen Zweck
Rücksicht nehmen, in der bloßen Betrachtung und durch seine bloße
Erscheinungsart gefallen. In dieser letztern Qualität beurteilen wir ihn
ästhetisch. So gibt es eine Erziehung zur Gesundheit, eine Erziehung zur
Einsicht, eine Erziehung zur Sittlichkeit, eine Erziehung zum Geschmack
und zur Schönheit. Diese letztere hat zur Absicht, das Ganze unsrer
sinnlichen und geistigen Kräfte in möglichster Harmonie auszubilden.
Weil man indessen, von einem falschen Geschmack verführt und durch ein
falsches Raisonnement noch mehr in diesem Irrtum befestigt, den Begriff
des Willkürlichen in den Begriff des Ästhetischen gerne mit aufnimmt, so
merke ich hier zum Überfluss noch an (obgleich diese Briefe über
ästhetische Erziehung fast mit nichts anderm umgehen, als jenen Irrtum
zu widerlegen), dass das Gemüt im ästhetischen Zustande zwar frei und im
höchsten Grade frei von allem Zwang, aber keineswegs frei von Gesetzen
handelt und dass diese ästhetische Freiheit sich von der logischen
Notwendigkeit beim Denken und von der moralischen Notwendigkeit beim
Wollen nur dadurch unterscheidet, dass die Gesetze, nach denen das Gemüt
dabei verfährt, nicht vorgestellt werden und, weil sie keinen Widerstand
finden, nicht als Nötigung erscheinen.
Einundzwanzigster Brief
[634] Es gibt, wie ich am Anfange des vorigen Briefs bemerkte, einen
doppelten Zustand der Bestimmbarkeit und einen doppelten Zustand der
Bestimmung. Jetzt kann ich diesen Satz deutlich machen.
Das Gemüt ist bestimmbar, bloß insofern es überhaupt nicht bestimmt
ist; es ist aber auch bestimmbar, insofern es nicht ausschließend
bestimmt, d.h. bei seiner Bestimmung nicht beschränkt ist. Jenes ist
bloße Bestimmungslosigkeit (es ist ohne Schranken, weil es ohne Realität
ist); dieses ist die ästhetische Bestimmbarkeit (es hat keine Schranken,
weil es alle Realität vereinigt).
Das Gemüt ist bestimmt, insofern es überhaupt nur beschränkt ist; es
ist aber auch bestimmt, insofern es sich selbst aus eigenem absoluten
Vermögen beschränkt. In dem ersten Falle befindet es sich, wenn es[634]
empfindet, in dem zweiten, wenn es denkt. Was also das Denken in
Rücksicht auf Bestimmung ist, das ist die ästhetische Verfassung in
Rücksicht auf Bestimmbarkeit; jenes ist Beschränkung aus innrer
unendlicher Kraft, diese ist eine Negation aus innrer unendlicher Fülle.
So wie Empfinden und Denken einander in dem einzigen Punkt berühren,
dass
in beiden Zuständen das Gemüt determiniert, dass der Mensch
ausschließungsweise etwas – entweder Individuum oder Person – ist, sonst
aber sich ins Unendliche voneinander entfernen; geradeso trifft die
ästhetische Bestimmbarkeit mit der bloßen Bestimmungslosigkeit in dem
einzigen Punkt überein, dass beide jedes bestimmte Dasein ausschließen,
indem sie in allen übrigen Punkten wie nichts und alles, mithin
unendlich verschieden sind. Wenn also die letztere, die
Bestimmungslosigkeit aus Mangel, als eine leere Unendlichkeit
vorgestellt wurde, so muss die ästhetische Bestimmungsfreiheit, welche
das reale Gegenstück derselben ist, als eine erfüllte Unendlichkeit
betrachtet werden; eine Vorstellung, welche mit demjenigen, was die
vorhergehenden Untersuchungen lehren, aufs genaueste zusammentrifft.
In dem ästhetischen Zustande ist der Mensch also Null, insofern man
auf ein einzelnes Resultat, nicht auf das ganze Vermögen achtet und den
Mangel jeder besondern Determination in ihm in Betrachtung zieht. Daher
muss man denjenigen vollkommen recht geben, welche das Schöne und die
Stimmung, in die es unser Gemüt versetzt, in Rücksicht auf Erkenntnis
und Gesinnung für völlig indifferent und unfruchtbar erklären. Sie haben
vollkommen recht, denn die Schönheit gibt schlechterdings kein einzelnes
Resultat weder für den Verstand noch für den Willen, sie führt keinen
einzelnen, weder intellektuellen noch moralischen Zweck aus, sie findet
keine einzige Wahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht erfüllen und
ist, mit einem Worte, gleich ungeschickt, den Charakter zu gründen und
den Kopf aufzuklären. Durch die ästhetische Kultur bleibt also der
persönliche Wert eines Menschen oder seine Würde, insofern diese nur von
ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter
nichts erreicht, als dass es ihm nunmehr von Natur wegen möglich gemacht
ist, aus sich selbst zu machen, was er will – dass ihm die Freiheit, zu
sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist.[635]
Eben dadurch aber ist etwas Unendliches erreicht. Denn sobald wir uns
erinnern, dass ihm durch die einseitige Nötigung der Natur beim Empfinden
und durch die ausschließende Gesetzgebung der Vernunft beim Denken
gerade diese Freiheit entzogen wurde, so müssen wir das Vermögen,
welches ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird, als die
höchste aller Schenkungen, als die Schenkung der Menschheit betrachten.
Freilich besitzt er diese Menschheit der Anlage nach schon vor jedem
bestimmten Zustand, in den er kommen kann, aber der Tat nach verliert er
sie mit jedem bestimmten Zustand, in den er kommt, und sie muss ihm, wenn
er zu einem entgegengesetzten soll übergehen können, jedes Mal aufs neue
durch das ästhetische Leben zurückgegeben werden10.
Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch
richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt. Denn ob
sie uns gleich die Menschheit bloß möglich macht und es im übrigen
unserm freien Willen anheimstellt, inwieweit wir sie wirklich machen
wollen, so hat sie dieses ja mit unsrer ursprünglichen Schöpferin, der
Natur, gemein, die uns gleichfalls nichts weiter als das Vermögen zur
Menschheit erteilte, den Gebrauch desselben aber auf unsere eigene
Willensbestimmung ankommen lässt.
10 Zwar
lässt die Schnelligkeit, mit welcher gewisse
Charaktere von Empfindungen zu Gedanken und zu Entschließungen
übergehen, die ästhetische Stimmung, welche sie in dieser Zeit notwendig
durchlaufen müssen, kaum oder gar nicht bemerkbar werden. Solche Gemüter
können den Zustand der Bestimmungslosigkeit nicht lang ertragen und
dringen ungeduldig auf ein Resultat, welches sie in dem Zustand
ästhetischer Unbegrenztheit nicht finden. Dahingegen breitet sich bei
andern, welche ihren Genus mehr in das Gefühl des ganzen Vermögens als
einer einzelnen Handlung desselben setzen, der ästhetische Zustand in
eine weit größere Fläche aus. So sehr die ersten sich vor der Leerheit
fürchten, so wenig können die letzten Beschränkung ertragen. Ich brauche
kaum zu erinnern, dass die ersten fürs Detail und für subalterne
Geschäfte, die letzten, vorausgesetzt, dass sie mit diesem Vermögen
zugleich Realität vereinigen, fürs Ganze und zu großen Rollen geboren
sind.
[636] Wenn also die ästhetische Stimmung des Gemüts in einer
Rücksicht als Null betrachtet werden muss, sobald man nämlich sein
Augenmerk [636] auf einzelne und bestimmte Wirkungen richtet, so ist sie
in anderer Rücksicht wieder als ein Zustand der höchsten Realität
anzusehen, insofern man dabei auf die Abwesenheit aller Schranken und
auf die Summe der Kräfte achtet, die in derselben gemeinschaftlich tätig
sind. Man kann also denjenigen ebenso wenig unrecht geben, die den
ästhetischen Zustand für den fruchtbarsten in Rücksicht auf Erkenntnis
und Moralität erklären. Sie haben vollkommen recht; denn eine
Gemütsstimmung, welche das Ganze der Menschheit in sich begreift, muss
notwendig auch jede einzelne Äußerung derselben, dem Vermögen nach, in
sich schließen; eine Gemütsstimmung, welche von dem Ganzen der
menschlichen Natur alle Schranken entfernt, muss diese notwendig auch von
jeder einzelnen Äußerung derselben entfernen. Eben deswegen, weil sie
keine einzelne Funktion der Menschheit ausschließend in Schutz nimmt, so
ist sie einer jeden ohne Unterschied günstig, und sie begünstigt ja nur
deswegen keine einzelne vorzugsweise, weil sie der Grund der Möglichkeit
von allen ist. Alle andere Übungen geben dem Gemüt irgendein besondres
Geschick, aber setzen ihm dafür auch eine besondere Grenze; die
ästhetische allein führt zum Unbegrenzten. Jeder andere Zustand, in den
wir kommen können, weist uns auf einen vorhergehenden zurück und bedarf
zu seiner Auflösung eines folgenden; nur der ästhetische ist ein Ganzes
in sich selbst, da er alle Bedingungen seines Ursprungs und seiner
Fortdauer in sich vereinigt. Hier allein fühlen wir uns wie aus der Zeit
gerissen; und unsre Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und
Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußrer Kräfte noch keinen
Abbruch erfahren.
Was unsern Sinnen in der unmittelbaren Empfindung schmeichelt, das
öffnet unser weiches und bewegliches Gemüt jedem Eindruck, aber macht
uns auch in demselben Grad zur Anstrengung weniger tüchtig. Was unsre
Denkkräfte anspannt und zu abgezogenen Begriffen einladet, das stärkt
unsern Geist zu jeder Art des Widerstandes, aber verhärtet ihn auch in
demselben Verhältnis und raubt uns ebensoviel an Empfänglichkeit, als es
uns zu einer größern Selbsttätigkeit verhilft. Eben deswegen führt auch
das eine wie das andre zuletzt notwendig zur Erschöpfung, weil der Stoff
nicht lange der bildenden Kraft, weil die Kraft nicht lange des
bildsamen Stoffes entraten kann.[637] Haben wir uns hingegen dem Genus
echter Schönheit dahingegeben, so sind wir in einem solchen Augenblick
unsrer leidenden und tätigen Kräfte in gleichem Grad Meister, und mit
gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe
und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten
Denken und zur Anschauung wenden.
Diese hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und
Rüstigkeit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein echtes Kunstwerk
entlassen soll, und es gibt keinen sicherern Probierstein der wahren
ästhetischen Güte. Finden wir uns nach einem Genus dieser Art zu
irgendeiner besondern Empfindungsweise oder Handlungsweise vorzugsweise
aufgelegt, zu einer andern hingegen ungeschickt und verdrossen, so dient
dies zu einem untrüglichen Beweise, dass wir keine rein ästhetische
Wirkung erfahren haben; es sei nun, dass es an dem Gegenstand oder an
unserer Empfindungsweise oder (wie fast immer der Fall ist) an beiden
zugleich gelegen habe.
Da in der Wirklichkeit keine rein ästhetische Wirkung anzutreffen ist
(denn der Mensch kann nie aus der Abhängigkeit der Kräfte treten), so
kann die Vortrefflichkeit eines Kunstwerks bloß in seiner größern
Annäherung zu jenem Ideale ästhetischer Reinigkeit bestehen, und bei
aller Freiheit, zu der man es steigern mag, werden wir es doch immer in
einer besondern Stimmung und mit einer eigentümlichen Richtung
verlassen. Je allgemeiner nun die Stimmung und je weniger eingeschränkt
die Richtung ist, welche unserm Gemüt durch eine bestimmte Gattung der
Künste und durch ein bestimmtes Produkt aus derselben gegeben wird,
desto edler ist jene Gattung und desto vortrefflicher ein solches
Produkt. Man kann dies mit Werken aus verschiedenen Künsten und mit
verschiedenen Werken der nämlichen Kunst versuchen. Wir verlassen eine
schöne Musik mit reger Empfindung, ein schönes Gedicht mit belebter
Einbildungskraft, ein schönes Bildwerk und Gebäude mit aufgewecktem
Verstand; wer uns aber unmittelbar nach einem hohen musikalischen Genus
zu abgezogenem Denken einladen, unmittelbar nach einem hohen poetischen
Genus in einem abgemessenen Geschäft des gemeinen Lebens gebrauchen,
unmittelbar nach Betrachtung schöner Malereien und Bildhauerwerke unsre
Einbildungskraft erhitzen und unser Gefühl [638] überraschen wollte, der
würde seine Zeit nicht gut wählen. Die Ursache ist, weil auch die
geistreichste Musik durch ihre Materie noch immer in einer größern
Affinität zu den Sinnen steht, als die wahre ästhetische Freiheit
duldet, weil auch das glücklichste Gedicht von dem willkürlichen und
zufälligen Spiele der Imagination, als seines Mediums, noch immer mehr
partizipiert, als die innere Notwendigkeit des wahrhaft Schönen
verstattet, weil auch das trefflichste Bildwerk, und dieses viel leicht
am meisten, durch die Bestimmtheit seines Begriffs an die ernste
Wissenschaft grenzt. Indessen verlieren sich diese besondren Affinitäten
mit jedem höhern Grade, den ein Werk aus diesen drei Kunstgattungen
erreicht, und es ist eine notwendige und natürliche Folge ihrer
Vollendung, dass, ohne Verrückung ihrer objektiven Grenzen, die
verschiedenen Künste in ihrer Wirkung auf das Gemüt einander immer
ähnlicher werden. Die Musik in ihrer höchsten Veredlung muss Gestalt
werden und mit der ruhigen Macht der Antike auf uns wirken; die bildende
Kunst in ihrer höchsten Vollendung muss Musik werden und uns durch
unmittelbare sinnliche Gegenwart rühren; die Poesie in ihrer
vollkommensten Ausbildung muss uns, wie die Tonkunst, mächtig fassen,
zugleich aber, wie die Plastik, mit ruhiger Klarheit umgeben. Darin
zeigt sich der vollkommene Stil in jeglicher Kunst, dass er die
spezifischen Schranken derselben zu entfernen weiß, ohne doch ihre
spezifischen Vorzüge mit aufzuheben, und durch eine weise Benutzung
ihrer Eigentümlichkeit ihr einen mehr allgemeinen Charakter erteilt.
Und nicht bloß die Schranken, welche der spezifische Charakter seiner
Kunstgattung mit sich bringt, auch diejenigen, welche dem besondern
Stoffe, den er bearbeitet, anhängig sind, muss der Künstler durch die
Behandlung überwinden. In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der
Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird
auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne
Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei,
wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form
ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten. Darin also besteht das
eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, dass er den Stoff durch die Form
vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an
sich selbst ist, je eigenmächtiger[639] derselbe mit seiner Wirkung sich
vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit
dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen
zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet. Das Gemüt des
Zuschauers und Zuhörers muss völlig frei und unverletzt bleiben, es muss
aus dem Zauberkreise des Künstlers rein und vollkommen wie aus den
Händen des Schöpfers gehn. Der frivolste Gegenstand muss so behandelt
werden, dass wir aufgelegt bleiben, unmittelbar von demselben zu dem
strengsten Ernste überzugehen. Der ernsteste Stoff muss so behandelt
werden, dass wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem
leichtesten Spiele zu vertauschen. Künste des Affekts, dergleichen die
Tragödie ist, sind kein Einwurf; denn erstlich sind es keine ganz freien
Künste, da sie unter der Dienstbarkeit eines besondern Zweckes (des
Pathetischen) stehen, und dann wird wohl kein wahrer Kunstkenner
leugnen, dass Werke, auch selbst aus dieser Klasse, um so vollkommener
sind, je mehr sie auch im höchsten Sturme des Affekts die Gemütsfreiheit
schonen. Eine schöne Kunst der Leidenschaft gibt es, aber eine schöne
leidenschaftliche Kunst ist ein Widerspruch, denn der unausbleibliche
Effekt des Schönen ist Freiheit von Leidenschaften. Nicht weniger
widersprechend ist der Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen)
oder bessernden (moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem
Begriff der Schönheit, als dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu geben.
Nicht immer beweist es indessen eine Formlosigkeit in dem Werke, wenn
es bloß durch seinen Inhalt Effekt macht; es kann ebenso oft von einem
Mangel an Form in dem Beurteiler zeugen. Ist dieser entweder zu gespannt
oder zu schlaff; ist er gewohnt, entweder bloß mit dem Verstand oder
bloß mit den Sinnen aufzunehmen, so wird er sich auch bei dem
glücklichsten Ganzen nur an die Teile und bei der schönsten Form nur an
die Materie halten. Nur für das rohe Element empfänglich, muss er die
ästhetische Organisation eines Werks erst zerstören, ehe er einen Genus
daran findet, und das Einzelne sorgfältig aufscharren, das der Meister
mit unendlicher Kunst in der Harmonie des Ganzen verschwinden machte.
Sein Interesse daran ist schlechterdings entweder moralisch oder
physisch, nur gerade, was es sein soll, ästhetisch ist es nicht. Solche
Leser genießen ein ernsthaftes und pathetisches[640] Gedicht wie eine
Predigt und ein naives oder scherzhaftes wie ein berauschendes Getränk;
und waren sie geschmacklos genug, von einer Tragödie und Epopöe, wenn es
auch eine Messiade wäre, Erbauung zu verlangen, so werden sie an einem
anakreontischen oder katullischen Liede unfehlbar ein Ärgernis nehmen.
[641] Ich nehme den Faden meiner Untersuchung wieder auf, den ich nur
darum abgerissen habe, um von den aufgestellten Sätzen die Anwendung auf
die ausübende Kunst und auf die Beurteilung ihrer Werke zu machen.
Der Übergang von dem leidenden Zustande des Empfindens zu dem tätigen
des Denkens und Wollens geschieht also nicht anders als durch einen
mittleren Zustand ästhetischer Freiheit, und obgleich dieser Zustand an
sich selbst weder für unsere Einsichten noch Gesinnungen etwas
entscheidet, mithin unsern intellektuellen und moralischen Wert ganz und
gar problematisch lässt, so ist er doch die notwendige Bedingung, unter
welcher allein wir zu einer Einsicht und zu einer Gesinnung gelangen
können. Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen
Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch
macht.
Aber, möchten Sie mir einwenden, sollte diese Vermittlung durchaus
unentbehrlich sein? Wahrheit und Pflicht nicht auch schon für sich
allein und durch sich selbst bei dem sinnlichen Menschen Eingang finden
können? Hierauf muss ich antworten: sie können nicht nur, sie sollen
schlechterdings ihre bestimmende Kraft bloß sich selbst zu verdanken
haben, und nichts würde meinen bisherigen Behauptungen widersprechender
sein, als wenn sie das Ansehen hätten, die entgegengesetzte Meinung in
Schutz zu nehmen. Es ist ausdrücklich bewiesen worden, dass die Schönheit
kein Resultat weder für den Verstand noch den Willen gebe, dass sie sich
in kein Geschäft weder des Denkens noch des Entschließens mische, dass
sie zu beiden bloß das Vermögen erteile, aber über den wirklichen
Gebrauch die es Vermögens durchaus nichts bestimme. Bei diesem fällt
alle fremde Hülfe hinweg, und die reine logische Form, der Begriff, muss
unmittelbar [641] zu dem Verstand, die reine moralische Form, das Gesetz,
unmittelbar zu dem Willen reden.
Aber dass sie dieses überhaupt nur könne –
dass es überhaupt nur eine
reine Form für den sinnlichen Menschen gebe, dies, behaupte ich, muss
durch die ästhetische Stimmung des Gemüts erst möglich gemacht werden.
Die Wahrheit ist nichts, was so wie die Wirklichkeit oder das sinnliche
Dasein der Dinge von außen empfangen werden kann; sie ist etwas, das die
Denkkraft selbsttätig und in ihrer Freiheit hervorbringt, und diese
Selbsttätigkeit, diese Freiheit ist es ja eben, was wir bei dem
sinnlichen Menschen vermissen. Der sinnliche Mensch ist schon (physisch)
bestimmt und hat folglich keine freie Bestimmbarkeit mehr: diese
verlorne Bestimmbarkeit muss er notwendig erst zurückerhalten, eh er die
leidende Bestimmung mit einer tätigen vertauschen kann. Er kann sie aber
nicht anders zurückerhalten, als entweder indem er die passive
Bestimmung verliert, die er hatte, oder indem er die aktive schon in
sich enthält, zu welcher er übergehen soll. Verlöre er bloß die passive
Bestimmung, so würde er zugleich mit derselben auch die Möglichkeit
einer aktiven verlieren, weil der Gedanke einen Körper braucht und die
Form nur an einem Stoffe realisiert werden kann. Er wird also die
letztere schon in sich enthalten, er wird zugleich leidend und tätig
bestimmt sein, das heißt, er wird ästhetisch werden müssen.
Durch die ästhetische Gemütsstimmung wird also die Selbsttätigkeit
der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröffnet, die Macht
der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen und der
physische Mensch so weit veredelt, dass nunmehr der geistige sich nach
Gesetzen der Freiheit aus demselben bloß zu entwickeln braucht. Der
Schritt von dem ästhetischen Zustand zu dem logischen und moralischen
(von der Schönheit zur Wahrheit und zur Pflicht) ist daher unendlich
leichter, als der Schritt von dem physischen Zustande zu dem
ästhetischen (von dem bloßen blinden Leben zur Form) war. Jenen Schritt
kann der Mensch durch seine bloße Freiheit vollbringen, da er sich bloß
zu nehmen, und nicht zu geben, bloß seine Natur zu vereinzeln, nicht zu
erweitern braucht; der ästhetisch gestimmte Mensch wird allgemeingültig
urteilen, und allgemeingültig handeln, sobald er es wollen wird. Den
Schritt von [642] der rohen Materie zur Schönheit, wo eine ganz neue
Tätigkeit in ihm eröffnet werden soll, muss die Natur ihm erleichtern,
und sein Wille kann über eine Stimmung nichts gebieten, die ja dem
Willen selbst erst das Dasein gibt. Um den ästhetischen Menschen zur
Einsicht und großen Gesinnungen zu führen, darf man ihm weiter nichts
als wichtige Anlässe geben; um von dem sinnlichen Menschen eben das zu
erhalten, muss man erst seine Natur verändern. Bei jenem braucht es oft
nichts als die Aufforderung einer erhabenen Situation (die am
unmittelbarsten auf das Willensvermögen wirkt), um ihn zum Held und zum
Weisen zu machen; diesen muss man erst unter einen andern Himmel
versetzen.
Es gehört also zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur, den Menschen
auch schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen und
ihn, soweit das Reich der Schönheit nur immer reichen kann, ästhetisch
zu machen, weil nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen
Zustand der moralische sich entwickeln kann. Soll der Mensch in jedem
einzelnen Fall das Vermögen besitzen, sein Urteil und seinen Willen zum
Urteil der Gattung zu machen, soll er aus jedem beschränkten Dasein den
Durchgang zu einem unendlichen finden, aus jedem abhängigen Zustande zur
Selbständigkeit und Freiheit den Aufschwung nehmen können, so muss dafür
gesorgt werden, dass er in keinem Momente bloß Individuum sei und bloß
dem Naturgesetz diene. Soll er fähig und fertig sein, aus dem engen
Kreis der Naturzwecke sich zu Vernunftzwecken zu erheben, so muss er sich
schon innerhalb der erstern für die letztern geübt und schon seine
physische Bestimmung mit einer gewissen Freiheit der Geister, d. i. nach
Gesetzen der Schönheit, ausgeführt haben.
Und zwar kann er dieses, ohne dadurch im geringsten seinem physischen
Zweck zu widersprechen. Die Anfoderungen der Natur an ihn gehen bloß auf
das, was er wirkt, auf den Inhalt seines Handelns, über die Art, wie er
wirkt, über die Form desselben, ist durch die Naturzwecke nichts
bestimmt. Die Anfoderungen der Vernunft hingegen sind streng auf die
Form seiner Tätigkeit gerichtet. So notwendig es also für seine
moralische Bestimmung ist, dass er rein moralisch sei, dass er eine
absolute Selbsttätigkeit beweise, so gleichgültig ist es für seine
physische Bestimmung, ob er rein physisch ist, ob er sich [643] absolut
leidend verhält. In Rücksicht auf diese letztere ist es also ganz in
seine Willkür gestellt, ob er sie bloß als Sinnenwesen und als
Naturkraft (als eine Kraft nämlich, welche nur wirkt, je nachdem sie
erleidet), oder ob er sie zugleich als absolute Kraft, als Vernunftwesen
ausführen will, und es dürfte wohl keine Frage sein, welches von beiden
seiner Würde mehr entspricht. Vielmehr, so sehr es ihn erniedrigt und
schändet, dasjenige aus sinnlichem Antriebe zu tun, wozu er sich aus
reinen Motiven der Pflicht bestimmt haben sollte, so sehr ehrt und adelt
es ihn, auch da nach Gesetzmäßigkeit, nach Harmonie, nach
Unbeschränktheit zu streben, wo der gemeine Mensch nur sein erlaubtes
Verlangen stillt11. Mit einem Wort: im Gebiete der Wahrheit und
Moralität darf die Empfindung nichts zu bestimmen haben; aber im Bezirke
der Glückseligkeit darf Form sein und darf der Spieltrieb gebieten.
Also hier schon, auf dem gleichgültigen Felde des physischen Lebens,
muss der Mensch sein moralisches anfangen; noch in seinem Leiden muss er
seine Selbsttätigkeit, noch innerhalb seiner sinnlichen Schranken seine
Vernunftfreiheit beginnen. Schon seinen Neigungen muss er das Gesetz
seines Willens auflegen; er muss, wenn Sie mir den[644] Ausdruck
verstatten wollen, den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze
spielen, damit er es überhoben sei, auf dem heiligen Boden der Freiheit
gegen diesen furchtbaren Feind zu fechten; er muss lernen edler begehren,
damit er nicht nötig habe, erhaben zu wollen. Dieses wird geleistet
durch ästhetische Kultur, welche alles das, worüber weder Naturgesetze
die menschliche Willkür binden noch Vernunftgesetze, Gesetzen der
Schönheit unterwirft und in der Form, die sie dem äußern Leben gibt,
schon das innere eröffnet.
11 Diese geistreiche und ästhetisch freie Behandlung
gemeiner Wirklichkeit ist, wo man sie auch antrifft, das Kennzeichen
einer edeln Seele. Edel ist überhaupt ein Gemüt zu nennen, welches die
Gabe besitzt, auch das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten
Gegenstand durch die Behandlungsweise in ein Unendliches zu verwandeln.
Edel heißt jede Form, welche dem, was seiner Natur nach bloß dient
(bloßes Mittel ist), das Gepräge der Selbständigkeit aufdrückt. Ein
edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frei zu sein, er muss alles
andere um sich her, auch das Leblose in Freiheit setzen. Schönheit aber
ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung. Der
vorherrschende Ausdruck des Verstandes in einem Gesicht, einem Kunstwerk
u.dgl. kann daher niemals edel ausfallen, wie er denn niemals auch schön
ist, weil er die Abhängigkeit (welche von der Zweckmäßigkeit nicht zu
trennen ist) heraushebt, anstatt sie zu verbergen.
Der Moralphilosoph lehrt uns zwar,
dass man nie mehr
tun könne als seine Pflicht, und er hat vollkommen recht, wenn er bloß
die Beziehung meint, welche Handlungen auf das Moralgesetz haben. Aber
bei Handlungen, welche sich bloß auf einen Zweck beziehen, über diesen
Zweck noch hinaus ins Übersinnliche gehen (welches hier nichts anders
heißen kann als das Physische ästhetisch ausführen), heißt zugleich über
die Pflicht hinaus gehen, indem diese nur vorschreiben kann, dass der
Wille heilig sei, nicht dass auch schon die Natur sich geheiligt habe. Es
gibt also zwar kein moralisches, aber es gibt ein ästhetisches
Übertreffen der Pflicht, und ein solches Betragen heißt edel. Eben
deswegen aber, weil bei dem Edeln immer ein Überfluss wahrgenommen wird,
indem dasjenige auch einen freien formalen Wert besitzt, was bloß einen
materialen zu haben brauchte, oder mit dem innern Wert, den es haben
soll, noch einen äußern, der ihm fehlen dürfte, vereinigt, so haben
manche ästhetischen Überfluss mit einem moralischen verwechselt und, von
der Erscheinung des Edeln verführt, eine Willkür und Zufälligkeit in die
Moralität selbst hineingetragen, wodurch sie ganz würde aufgehoben
werden.
Von einem edeln Betragen ist ein erhabenes zu
unterscheiden. Das erste geht über die sittliche Verbindlichkeit noch
hinaus, aber nicht so das letztere, obgleich wir es ungleich höher als
jenes achten. Wir achten es aber nicht deswegen, weil es den
Vernunftbegriff seines Objekts (des Moralgesetzes), sondern weil es den
Erfahrungsbegriffs seines Subjekts (unsre Kenntnisse menschlicher
Willensgüte und Willensstärke) übertrifft, so schätzen wir umgekehrt ein
edles Betragen nicht darum, weil es die Natur des Subjekts
überschreitet, aus der es vielmehr völlig zwanglos hervorfließen muss,
sondern weil es über die Natur seines Objekts (den physischen Zweck)
hinaus in das Geisterreich schreitet. Dort, möchte man sagen, erstaunen
wir über den Sieg, den der Gegenstand über den Menschen davonträgt; hier
bewundern wir den Schwung, den der Mensch dem Gegenstande gibt.
[645] Es lassen sich also drei verschiedene Momente oder Stufen der
Entwicklung unterscheiden, die sowohl der einzelne Mensch als die ganze
Gattung notwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen,
wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüllen sollen. Durch
zufällige Ursachen, die entweder in dem Einfluss der äußern Dinge oder in
der freien Willkür des Menschen liegen, können zwar die einzelnen
Perioden bald verlängert, bald abgekürzt, aber keine kann ganz
übersprungen, und auch die Ordnung, in welcher sie aufeinanderfolgen,
kann weder durch die Natur noch durch den Willen [645] umgekehrt werden.
Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der
Natur; er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und
er beherrscht sie in dem moralischen.
Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt und
die ruhige Form das wilde Leben besänftigt? Ewig einförmig in seinen
Zwecken, ewig wechselnd in seinen Urteilen, selbstsüchtig, ohne er
selbst zu sein, ungebunden, ohne frei zu sein, Sklave, ohne einer Regel
zu dienen. In dieser Epoche ist ihm die Welt bloß Schicksal, noch nicht
Gegenstand; alles hat nur Existenz für ihn, insofern es ihm Existenz
verschafft, was ihm weder gibt noch nimmt, ist ihm gar nicht vorhanden.
Einzeln und abgeschnitten, wie er sich selbst in der Reihe der Wesen
findet, steht jede Erscheinung vor ihm da. Alles, was ist, ist ihm durch
das Machtwort des Augenblicks, jede Veränderung ist ihm eine ganz
frische Schöpfung, weil mit dem Notwendigen in ihm die Notwendigkeit
außer ihm fehlt, welche die wechselnden Gestalten in ein Weltall
zusammenbindet und, indem das Individuum flieht, das Gesetz auf dem
Schauplatze festhält. Umsonst lässt die Natur ihre reiche
Mannigfaltigkeit an seinen Sinnen vorübergehen; er sieht in ihrer
herrlichen Fülle nichts als seine Beute, in ihrer Macht und Größe nichts
als seinen Feind. Entweder er stürzt auf die Gegenstände und will sie in
sich reißen, in der Begierde; oder die Gegenstände dringen zerstörend
auf ihn ein, und er stößt sie von sich, in der Verabscheuung. In beiden
Fällen ist sein Verhältnis zur Sinnenwelt unmittelbare Berührung, und
ewig von ihrem Andrang geängstigt, rastlos von dem gebieterischen
Bedürfnis gequält, findet er nirgends Ruhe als in der Ermattung und
nirgends Grenzen als in der erschöpften Begier.
Zwar die gewaltge Brust
und der Titanen
Kraftvolles Mark ist
sein......
Gewisses Erbteil; doch es
schmiedete
Der Gott um seine Stirn
ein ehern Band,
Rat, Mäßigung und
Weisheit und Geduld
Verbarg er seinem
scheuen, düstern Blick.
Es wird zur Wut ihm
jegliche Begier,
Und grenzenlos dringt
seine Wut umher.
Iphigenie auf Tauris [646]
Mit seiner Menschenwürde unbekannt, ist er weit entfernt, sie in
andern zu ehren, und der eignen wilden Gier sich bewusst, fürchtet er sie
in jedem Geschöpf, das ihm ähnlich sieht. Nie erblickt er andre in sich,
nur sich in andern, und die Gesellschaft, anstatt ihn zur Gattung
auszudehnen, schließt ihn nur enger und enger in sein Individuum ein. In
dieser dumpfen Beschränkung irrt er durch das nachtvolle Leben, bis eine
günstige Natur die Last des Stoffes von seinen verfinsterten Sinnen
wälzt, die Reflexion ihn selbst von den Dingen scheidet und im
Widerscheine des Bewusstseins sich endlich die Gegenstände zeigen.
Dieser Zustand roher Natur
lässt sich freilich, so wie er hier
geschildert wird, bei keinem bestimmten Volk und Zeitalter nachweisen;
er ist bloß Idee, aber eine Idee, mit der die Erfahrung in einzelnen
Zügen aufs genaueste zusammenstimmt. Der Mensch, kann man sagen, war nie
ganz in diesem tierischen Zustand, aber er ist ihm auch nie ganz
entflohen. Auch in den rohesten Subjekten findet man unverkennbare
Spuren von Vernunftfreiheit, so wie es in den gebildetsten nicht an
Momenten fehlt, die an jenen düstern Naturstand erinnern. Es ist dem
Menschen einmal eigen, das Höchste und das Niedrigste in seiner Natur zu
vereinigen, und wenn seine Würde auf einer strengen Unterscheidung des
einen von dem andern beruht, so beruht auf einer geschickten Aufhebung
dieses Unterschieds seine Glückseligkeit. Die Kultur, welche seine Würde
mit seiner Glückseligkeit in Übereinstimmung bringen soll, wird also für
die höchste Reinheit jener beiden Prinzipien in ihrer innigsten
Vermischung zu sorgen haben.
Die erste Erscheinung der Vernunft in dem Menschen ist darum noch
nicht auch der Anfang seiner Menschheit. Diese wird erst durch seine
Freiheit entschieden, und die Vernunft fängt erstlich damit an, seine
sinnliche Abhängigkeit grenzenlos zu machen; ein Phänomen, das mir für
seine Wichtigkeit und Allgemeinheit noch nicht gehörig entwickelt
scheint. Die Vernunft, wissen wir, gibt sich in dem Menschen durch die
Foderung des Absoluten (auf sich selbst Gegründeten und Notwendigen) zu
erkennen, welche, da ihr in keinem einzelnen Zustand seines physischen
Lebens Genüge geleistet werden kann, ihn das Physische ganz und gar zu
verlassen und von einer beschränkten [647] Wirklichkeit zu Ideen
aufzusteigen nötigt. Aber obgleich der wahre Sinn jener Foderung ist,
ihn den Schranken der Zeit zu entreißen und von der sinnlichen Welt zu
einer Idealwelt emporzuführen, so kann sie doch durch eine (in dieser
Epoche der herrschenden Sinnlichkeit kaum zu vermeidende) Missdeutung auf
das physische Leben sich richten und den Menschen, anstatt ihn
unabhängig zu machen, in die furchtbarste Knechtschaft stürzen.
Und so verhält es sich auch in der Tat. Auf den Flügeln der
Einbildungskraft verlässt der Mensch die engen Schranken der Gegenwart,
in welche die bloße Tierheit sich einschließt, um vorwärts nach einer
unbeschränkten Zukunft zu streben; aber indem vor seiner schwindelnden
Imagination das Unendliche aufgeht, hat sein Herz noch nicht aufgehört,
im Einzelnen zu leben und dem Augenblick zu dienen. Mitten in seiner
Tierheit überrascht ihn der Trieb zum Absoluten – und da in diesem
dumpfen Zustande alle seine Bestrebungen bloß auf das Materielle und
Zeitliche gehen und bloß auf sein Individuum sich begrenzen, so wird er
durch jene Foderung bloß veranlasst, sein Individuum, anstatt von
demselben zu abstrahieren, ins Endlose auszudehnen, anstatt nach Form
nach einem unversiegenden Stoff, anstatt nach dem Unveränderlichen nach
einer ewig dauernden Veränderung und nach einer absoluten Versicherung
seines zeitlichen Daseins zu streben. Der nämliche Trieb, der ihn, auf
sein Denken und Tun angewendet, zur Wahrheit und Moralität führen
sollte, bringt jetzt, auf sein Leiden und Empfinden bezogen, nichts als
ein unbegrenztes Verlangen, als ein absolutes Bedürfnis hervor. Die
ersten Früchte, die er in dem Geisterreich erntet, sind also Sorge und
Furcht; beides Wirkungen der Vernunft, nicht der Sinnlichkeit, aber
einer Vernunft, die sich in ihrem Gegenstand vergreift und ihren
Imperativ unmittelbar auf den Stoff anwendet. Früchte dieses Baumes sind
alle unbedingte Glückseligkeitssysteme, sie mögen den heutigen Tag oder
das ganze Leben oder, was sie um nichts ehrwürdiger macht, die ganze
Ewigkeit zu ihrem Gegenstand haben. Eine grenzenlose Dauer des Daseins
und Wohlseins, bloß um des Daseins und Wohlseins willen, ist bloß ein
Ideal der Begierde, mithin eine Foderung, die nur von einer ins Absolute
strebenden Tierheit kann aufgeworfen werden. Ohne also durch eine
Vernunftäußerung dieser Art etwas für seine [648] Menschheit zu gewinnen,
verliert er dadurch bloß die glückliche Beschränktheit des Tiers, vor
welchem er nun bloß den unbeneidenswerten Vorzug besitzt, über dem
Streben in die Ferne den Besitz der Gegenwart zu verlieren, ohne doch in
der ganzen grenzenlosen Ferne je etwas anders als die Gegenwart zu
suchen.
Aber wenn sich die Vernunft auch in ihrem Objekt nicht vergreift und
in der Frage nicht irrt, so wird die Sinnlichkeit noch lange Zeit die
Antwort verfälschen. Sobald der Mensch angefangen hat, seinen Verstand
zu brauchen und die Erscheinungen umher nach Ursachen und Zwecken zu
verknüpfen, so dringt die Vernunft, ihrem Begriffe gemäß, auf eine
absolute Verknüpfung und auf einen unbedingten Grund. Um sich eine
solche Foderung auch nur aufwerfen zu können, muss der Mensch über die
Sinnlichkeit schon hinausgeschritten sein; aber eben dieser Foderung
bedient sie sich, um den Flüchtling zurückzuholen. Hier wäre nämlich der
Punkt, wo er die Sinnenwelt ganz und gar verlassen und zum reinen
Ideenreich sich aufschwingen musste; denn der Verstand bleibt ewig
innerhalb des Bedingten stehen und frägt ewig fort, ohne je auf ein
Letztes zu geraten. Da aber der Mensch, von dem hier geredet wird, einer
solchen Abstraktion noch nicht fähig ist, so wird er, was er in seinem
sinnlichen Erkenntniskreise nicht findet und über denselben hinaus in
der reinen Vernunft noch nicht sucht, unter demselben in seinem
Gefühlkreise suchen und dem Scheine nach finden. Die Sinnlichkeit zeigt
ihm zwar nichts, was sein eigener Grund wäre und sich selbst das Gesetz
gäbe; aber sie zeigt ihm etwas, was von keinem Grunde weiß und kein
Gesetz achtet. Da er also den fragenden Verstand durch keinen letzten
und innern Grund zur Ruhe bringen kann, so bringt er ihn durch den
Begriff des Grundlosen wenigstens zum Schweigen und bleibt innerhalb der
blinden Nötigung der Materie stehen, da er die erhabene Notwendigkeit
der Vernunft noch nicht zu erfassen vermag. Weil die Sinnlichkeit keinen
andern Zweck kennt als ihren Vorteil und sich durch keine andre Ursache
als den blinden Zufall getrieben fühlt, so macht er jenen zum Bestimmer
seiner Handlungen und diesen zum Beherrscher der Welt.
Selbst das Heilige im Menschen, das Moralgesetz, kann bei seiner
ersten Erscheinung in der Sinnlichkeit dieser Verfälschung nicht
entgehen. Da es bloß verbietend und gegen das Interesse seiner
sinnlichen[649] Selbstliebe spricht, so muss es ihm so lange als etwas
Auswärtiges erscheinen, als er noch nicht dahin gelangt ist, jene
Selbstliebe als das Auswärtige und die Stimme der Vernunft als sein
wahres Selbst anzusehen. Er empfindet also bloß die Fesseln, welche die
letztere ihm anlegt, nicht die unendliche Befreiung, die sie ihm
verschafft. Ohne die Würde des Gesetzgebers in sich zu ahnen, empfindet
er bloß den Zwang und das ohnmächtige Widerstreben des Untertans. Weil
der sinnliche Trieb dem moralischen in seiner Erfahrung vorhergeht, so
gibt er dem Gesetz der Notwendigkeit einen Anfang in der Zeit, einen
positiven Ursprung, und durch den unglückseligsten aller Irrtümer macht
er das Unveränderliche und Ewige in sich zu einem Akzidens des
Vergänglichen. Er überredet sich, die Begriffe von Recht und Unrecht als
Statuten anzusehen, die durch einen Willen eingeführt wurden, nicht die
an sich selbst und in alle Ewigkeit gültig sind. Wie er in Erklärung
einzelner Naturphänomene über die Natur hinausschreitet und außerhalb
derselben sucht, was nur in ihrer innern Gesetzmäßigkeit kann gefunden
werden, ebenso schreitet er in Erklärung des Sittlichen über die
Vernunft hinaus und verscherzt seine Menschheit, indem er auf diesem Weg
eine Gottheit sucht. Kein Wunder, wenn eine Religion, die mit Wegwerfung
seiner Menschheit erkauft wurde, sich einer solchen Abstammung würdig
zeigt, wenn er Gesetze, die nicht von Ewigkeit her banden, auch nicht
für unbedingt und in alle Ewigkeit bindend hält. Er hat es nicht mit
einem heiligen, bloß mit einem mächtigen Wesen zu tun. Der Geist seiner
Gottesverehrung ist also Furcht, die ihn erniedrigt, nicht Ehrfurcht,
die ihn in seiner eigenen Schätzung erhebt.
Obgleich diese mannigfaltigen Abweichungen des Menschen von dem
Ideale seiner Bestimmung nicht alle in der nämlichen Epoche statthaben
können, indem derselbe von der Gedankenlosigkeit zum Irrtum, von der
Willenlosigkeit zur Willensverderbnis mehrere Stufen zu durchwandern
hat, so gehören doch alle zum Gefolge des physischen Zustandes, weil in
allen der Trieb des Lebens über den Formtrieb den Meister spielt. Es sei
nun, dass die Vernunft in dem Menschen noch gar nicht gesprochen habe und
das Physische noch mit blinder Notwendigkeit über ihn herrsche; oder
dass
sich die Vernunft noch nicht genug von den Sinnen gereinigt habe und das
Moralische[650] dem Physischen noch diene, so ist in beiden Fällen das
einzige in ihm gewalthabende Prinzip ein materielles und der Mensch,
wenigstens seiner letzten Tendenz nach, ein sinnliches Wesen; mit dem
einzigen Unterschied, dass er in dem ersten Fall ein vernunftloses, in
dem zweiten ein vernünftiges Tier ist. Er soll aber keines von beiden,
er soll Mensch sein; die Natur soll ihn nicht ausschließend und die
Vernunft soll ihn nicht bedingt beherrschen. Beide Gesetzgebungen sollen
vollkommen unabhängig voneinander bestehen und dennoch vollkommen einig
sein.
[651] Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die
Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch
noch völlig eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist,
so ist für ihn noch keine Welt. Erst wenn er in seinem ästhetischen
Stande sie außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine
Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er
aufgehört hat, mit derselben eins auszumachen12.
Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältnis des
Menschen zu dem Weltall, das ihn umgibt. Wenn die Begierde ihren
Gegenstand unmittelbar ergreift, so rückt die Betrachtung den ihrigen in
die Ferne und macht ihn eben dadurch zu ihrem wahren und unverlierbaren
Eigentum, dass sie ihn vor der Leidenschaft flüchtet. Die[ 651]
Notwendigkeit der Natur, die ihn im Zustand der bloßen Empfindung mit
ungeteilter Gewalt beherrschte, lässt bei der Reflexion von ihm ab, in
den Sinnen erfolgt ein augenblicklicher Friede, die Zeit selbst, das
ewig Wandelnde, steht still, indem des Bewusstseins zerstreute Strahlen
sich sammeln, und ein Nachbild des Unendlichen, die Form, reflektiert
sich auf dem vergänglichen Grunde. Sobald es Licht wird in dem Menschen,
ist auch außer ihm keine Nacht mehr, sobald es stille wird in ihm, legt
sich auch der Sturm in dem Weltall, und die streitenden Kräfte der Natur
finden Ruhe zwischen bleibenden Grenzen. Daher kein Wunder, wenn die
uralten Dichtungen von dieser großen Begebenheit im Innern des Menschen
als von einer Revolution in der Außenwelt reden und den Gedanken, der
über die Zeitgesetze siegt, unter dem Bilde des Zeus versinnlichen, der
das Reich des Saturnus endigt.
Aus einem Sklaven der Natur, solang er sie bloß empfindet, wird der
Mensch ihr Gesetzgeber, sobald er sie denkt. Die ihn vordem nur als
Macht beherrschte, steht jetzt als Objekt vor seinem richtenden Blick.
Was ihm Objekt ist, hat keine Gewalt über ihn, denn um Objekt zu sein,
muss es die seinige erfahren. Soweit er der Materie Form gibt, und
solange er sie gibt, ist er ihren Wirkungen unverletzlich; denn einen
Geist kann nichts verletzen, als was ihm die Freiheit raubt, und er
beweist ja die seinige, indem er das Formlose bildet. Nur wo die Masse
schwer und gestaltlos herrscht und zwischen unsichern Grenzen die trüben
Umrisse wanken, hat die Furcht ihren Sitz; jedem Schrecknis der Natur
ist der Mensch überlegen, sobald er ihm Form zu geben und es in sein
Objekt zu verwandeln weiß. So wie er anfängt, seine Selbständigkeit
gegen die Natur als Erscheinung zu behaupten, so behauptet er auch gegen
die Natur als Macht seine Würde, und mit edler Freiheit richtet er sich
auf gegen seine Götter. Sie werfen die Gespensterlarven ab, womit sie
seine Kindheit geängstigt hatten, und überraschen ihn mit seinem eigenen
Bild, indem sie seine Vorstellung werden. Das göttliche Monstrum des
Morgenländers, das mit der blinden Stärke des Raubtiers die Welt
verwaltet, zieht sich in der griechischen Phantasie in den freundlichen
Kontur der Menschheit zusammen, das Reich der Titanen fällt, und die
unendliche Kraft ist durch die unendliche Form gebändigt.[652]
Aber indem ich bloß einen Ausgang aus der materiellen Welt und einen
Übergang in die Geisterwelt suchte, hat mich der freie Lauf meiner
Einbildungskraft schon mitten in die letztere hineingeführt. Die
Schönheit, die wir suchen, liegt bereits hinter uns, und wir haben sie
übersprungen, indem wir von dem bloßen Leben unmittelbar zu der reinen
Gestalt und zu dem reinen Objekt übergingen. Ein solcher Sprung ist
nicht in der menschlichen Natur, und um gleichen Schritt mit dieser zu
halten, werden wir zu der Sinnenwelt wieder umkehren müssen.
Die Schönheit ist allerdings das Werk der freien Betrachtung, und wir
treten mit ihr in die Welt der Ideen – aber was wohl zu bemerken ist,
ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bei Erkenntnis der
Wahrheit geschieht. Diese ist das reine Produkt der Absonderung von
allem, was materiell und zufällig ist, reines Objekt, in welchem keine
Schranke des Subjekts zurückbleiben darf, reine Selbsttätigkeit ohne
Beimischung eines Leidens. Zwar gibt es auch von der höchsten
Abstraktion einen Rückweg zur Sinnlichkeit, denn der Gedanke rührt die
innre Empfindung, und die Vorstellung logischer und moralischer Einheit
geht in ein Gefühl sinnlicher Übereinstimmung über. Aber wenn wir uns an
Erkenntnissen ergötzen, so unterscheiden wir sehr genau unsere
Vorstellung von unserer Empfindung und sehen diese letztere als etwas
Zufälliges an, was gar wohl wegbleiben könnte, ohne dass deswegen die
Erkenntnis aufhörte und Wahrheit nicht Wahrheit wäre. Aber ein ganz
vergebliches Unternehmen würde es sein, diese Beziehung auf das
Empfindungsvermögen von der Vorstellung der Schönheit absondern zu
wollen; daher wir nicht damit ausreichen, uns die eine als den Effekt
der andern zu denken, sondern beide zugleich und wechselseitig als
Effekt und als Ursache ansehen müssen. In unserm Vergnügen an
Erkenntnissen unterscheiden wir ohne Mühe den Übergang von der Tätigkeit
zum Leiden und bemerken deutlich, dass das erste vorüber ist, wenn das
letztere eintritt. In unserm Wohlgefallen an der Schönheit hingegen
lässt
sich keine solche Succession zwischen der Tätigkeit und dem Leiden
unterscheiden, und die Reflexion zerfließt hier so vollkommen mit dem
Gefühle, dass wir die Form unmittelbar zu empfinden glauben. Die
Schönheit ist also zwar Gegenstand für uns, weil die Reflexion die
Bedingung [653] ist, unter der wir eine Empfindung von ihr haben;
zugleich aber ist sie ein Zustand unsers Subjekts, weil das Gefühl die
Bedingung ist, unter der wir eine Vorstellung von ihr haben. Sie ist
also zwar Form, weil wir sie betrachten, zugleich aber ist sie Leben,
weil wir sie fühlen. Mit einem Wort: sie ist zugleich unser Zustand und
unsre Tat.
Und eben weil sie dieses beides zugleich ist, so dient sie uns also
zu einem siegenden Beweis, dass das Leiden die Tätigkeit, dass die Materie
die Form, dass die Beschränkung die Unendlichkeit keineswegs ausschließe
– dass mithin durch die notwendige physische Abhängigkeit des Menschen
seine moralische Freiheit keineswegs aufgehoben werde. Sie beweist
dieses, und, ich muss hinzusetzen, sie allein kann es uns beweisen. Denn
da beim Genus der Wahrheit oder der logischen Einheit die Empfindung mit
dem Gedanken nicht notwendig eins ist, sondern auf denselben zufällig
folgt, so kann uns dieselbe bloß beweisen, dass auf eine vernünftige
Natur eine sinnliche folgen könne und umgekehrt, nicht, dass beide
zusammen bestehen, nicht, dass sie wechselseitig aufeinander wirken,
nicht, dass sie absolut und notwendig zu vereinigen sind. Vielmehr
müsste
sich gerade umgekehrt aus dieser Ausschließung des Gefühls, solange
gedacht wird, und des Gedankens, solange empfunden wird, auf eine
Unvereinbarkeit beider Naturen schließen lassen, wie denn auch wirklich
die Analysten keinen bessern Beweis für die Ausführbarkeit reiner
Vernunft in der Menschheit anzuführen wissen als den, dass sie geboten
ist. Da nun aber bei dem Genus der Schönheit oder der ästhetischen
Einheit eine wirkliche Vereinigung und Auswechslung der Materie mit der
Form und des Leidens mit der Tätigkeit vor sich geht, so ist eben
dadurch die Vereinbarkeit beider Naturen, die Ausführbarkeit des
Unendlichen in der Endlichkeit, mithin die Möglichkeit der erhabensten
Menschheit bewiesen.
Wir dürfen also nicht mehr verlegen sein, einen Übergang von der
sinnlichen Abhängigkeit zu der moralischen Freiheit zu finden, nachdem
durch die Schönheit der Fall gegeben ist, dass die letztere mit der
erstern vollkommen zusammen bestehen könne, und dass der Mensch, um sich
als Geist zu erweisen, der Materie nicht zu entfliehen brauche. Ist er
aber schon in Gemeinschaft mit der Sinnlichkeit frei, wie das [654]
Faktum der Schönheit lehrt, und ist Freiheit etwas Absolutes und
Übersinnliches, wie ihr Begriff notwendig mit sich bringt, so kann nicht
mehr die Frage sein, wie er dazu gelange, sich von den Schranken zum
Absoluten zu erheben, sich in seinem Denken und Wollen der Sinnlichkeit
entgegenzusetzen, da dieses schon in der Schönheit geschehen ist. Es
kann, mit einem Wort, nicht mehr die Frage sein, wie er von der
Schönheit zur Wahrheit übergehe, die dem Vermögen nach schon in der
ersten liegt, sondern wie er von einer gemeinen Wirklichkeit zu einer
ästhetischen, wie er von bloßen Lebensgefühlen zu Schönheitsgefühlen den
Weg sich bahne.
12 Ich erinnere noch einmal,
dass diese beiden Perioden
zwar in der Idee notwendig voneinander zu trennen sind, in der Erfahrung
aber sich mehr oder weniger vermischen. Auch muss man nicht denken, als
ob es eine Zeit gegeben habe, wo der Mensch nur in diesem physischen
Stande sich befunden, und eine Zeit, wo er sich ganz von demselben
losgemacht hätte. Sobald der Mensch einen Gegenstand sieht, so ist er
schon nicht mehr in einem bloß physischen Zustand, und solang er
fortfahren wird, einen Gegenstand zu sehen, wird er auch jenem
physischen Stand nicht entlaufen, weil er ja nur sehen kann, insofern er
empfindet. Jene drei Momente, welche ich am Anfang des
vierundzwanzigsten Briefs namhaft machte, sind also zwar, im ganzen
betrachtet, drei verschiedene Epochen für die Entwicklung der ganzen
Menschheit und für die ganze Entwicklung eines einzelnen Menschen, aber
sie lassen sich auch bei jeder einzelnen Wahrnehmung eines Objekts
unterscheiden und sind mit einem Wort die notwendigen Bedingungen jeder
Erkenntnis, die wir durch die Sinne erhalten.
[655] Da die ästhetische Stimmung des Gemüts, wie ich in den
vorhergehenden Briefen entwickelt habe, der Freiheit erst die Entstehung
gibt, so ist leicht einzusehen, dass sie nicht aus derselben entspringen
und folglich keinen moralischen Ursprung haben könne. Ein Geschenk der
Natur muss sie sein; die Gunst der Zufälle allein kann die Fesseln des
physischen Standes lösen und den Wilden zur Schönheit führen.
Der Keim der letztern wird sich gleich wenig entwickeln, wo eine
karge Natur den Menschen jeder Erquickung beraubt, und wo eine
verschwenderische ihn von jeder eigenen Anstrengung losspricht – wo die
stumpfe Sinnlichkeit kein Bedürfnis fühlt, und wo die heftige Begier
keine Sättigung findet. Nicht da, wo der Mensch sich troglodytisch in
Höhlen birgt, ewig einzeln ist und die Menschheit nie außer sich findet,
auch nicht da, wo er nomadisch in großen Heermassen zieht, ewig nur Zahl
ist und die Menschheit nie in sich findet – da allein, wo er in eigener
Hütte still mit sich selbst und, sobald er heraustritt, mit dem ganzen
Geschlechte spricht, wird sich ihre liebliche Knospe entfalten. Da wo
ein leichter Äther die Sinne jeder leisen Berührung eröffnet und den
üppigen Stoff eine energische Wärme beseelt – wo das Reich der blinden
Masse schon in der leblosen Schöpfung gestürzt ist und die siegende Form
auch die niedrigsten Naturen veredelt – dort in den fröhlichen
Verhältnissen und in der gesegneten Zone, wo nur die Tätigkeit zum
Genusse und nur der Genus zur Tätigkeit[655] führt, wo aus dem Leben
selbst die heilige Ordnung quillt und aus dem Gesetz der Ordnung sich
nur Leben entwickelt – wo die Einbildungskraft der Wirklichkeit ewig
entflieht und dennoch von der Einfalt der Natur nie verirret – hier
allein werden sich Sinne und Geist, empfangende und bildende Kraft in
dem glücklichen Gleichmaß entwickeln, welches die Seele der Schönheit
und die Bedingung der Menschheit ist.
Und was ist es für ein Phänomen, durch welches sich bei dem Wilden
der Eintritt in die Menschheit verkündigt? Soweit wir auch die
Geschichte befragen, es ist dasselbe bei allen Völkerstämmen, welche der
Sklaverei des tierischen Standes entsprungen sind: die Freude am Schein,
die Neigung zum Putz und zum Spiele.
Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine
gewisse Affinität miteinander, dass beide nur das Reelle suchen und für
den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind. Nur durch die
unmittelbare Gegenwart eines Objekts in den Sinnen wird jene aus ihrer
Ruhe gerissen, und nur durch Zurückführung seiner Begriffe auf Tatsachen
der Erfahrung wird der letztere zur Ruhe gebracht; mit einem Wort, die
Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erheben und der Verstand
nicht unter der Wahrheit stehenbleiben. Insofern also das Bedürfnis der
Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche bloße Folgen des
Mangels sind, ist die Gleichgültigkeit gegen Realität und das Interesse
am Schein eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener
Schritt zur Kultur. Fürs erste zeugt es von einer äußern Freiheit, denn
solange die Not gebietet und das Bedürfnis drängt, ist die
Einbildungskraft mit strengen Fesseln an das Wirkliche gebunden; erst
wenn das Bedürfnis gestillt ist, entwickelt sie ihr ungebundenes
Vermögen. Es zeugt aber auch von einer innern Freiheit, weil es uns eine
Kraft sehen lässt, die unabhängig von einem äußern Stoffe sich durch sich
selbst in Bewegung setzt, und die Energie genug besitzt, die andringende
Materie von sich zu halten. Die Realität der Dinge ist ihr (der Dinge)
Werk; der Schein der Dinge ist des Menschen Werk, und ein Gemüt, das
sich am Scheine weidet, ergötzt sich schon nicht mehr an dem, was es
empfängt, sondern an dem, was es tut.
Es versteht sich wohl von selbst,
dass hier nur von dem
ästhetischen[656] Schein die Rede ist, den man von der Wirklichkeit und
Wahrheit unterscheidet, nicht von dem logischen, den man mit derselben
verwechselt – den man folglich liebt, weil er Schein ist, und nicht,
weil man ihn für etwas Besseres hält. Nur der erste ist Spiel, da der
letzte bloß Betrug ist. Den Schein der ersten Art für etwas gelten
lassen, kann der Wahrheit niemals Eintrag tun, weil man nie Gefahr
läuft, ihn derselben unterzuschieben, was doch die einzige Art ist, wie
der Wahrheit geschadet werden kann; ihn verachten, heißt alle schöne
Kunst überhaupt verachten, deren Wesen der Schein ist. Indessen begegnet
es dem Verstande zuweilen, seinen Eifer für Realität bis zu einer
solchen Unduldsamkeit zu treiben und über die ganze Kunst des schönen
Scheins, weil sie bloß Schein ist, ein wegwerfendes Urteil zu sprechen;
dies begegnet aber dem Verstande nur alsdann, wenn er sich der
obengedachten Affinität erinnert. Von den notwendigen Grenzen des
schönen Scheins werde ich noch einmal insbesondere zu reden Veranlassung
nehmen.
Die Natur selbst ist es, die den Menschen von der Realität zum
Scheine emporhebt, indem sie ihn mit zwei Sinnen ausrüstete, die ihn
bloß durch den Schein zur Erkenntnis des Wirklichen führen. In dem Auge
und dem Ohr ist die andringende Materie schon hinweggewälzt von den
Sinnen, und das Objekt entfernt sich von uns, das wir in den tierischen
Sinnen unmittelbar berühren. Was wir durch das Auge sehen, ist von dem
verschieden, was wir empfinden; denn der Verstand springt über das Licht
hinaus zu den Gegenständen. Der Gegenstand des Takts ist eine Gewalt,
die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohrs ist eine Form,
die wir erzeugen. Solange der Mensch noch ein Wilder ist, genießt er
bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in dieser
Periode bloß dienen. Er erhebt sich entweder gar nicht zum Sehen, oder
er befriedigt sich doch nicht mit demselben. Sobald er anfängt, mit dem
Auge zu genießen, und das Sehen für ihn einen selbständigen Wert
erlangt, so ist er auch schon ästhetisch frei, und der Spieltrieb hat
sich entfaltet.
Gleich, sowie der Spieltrieb sich regt, der am Scheine Gefallen
findet, wird ihm auch der nachahmende Bildungstrieb folgen, der den
Schein als etwas Selbständiges behandelt. Sobald der Mensch[657] einmal
so weit gekommen ist, den Schein von der Wirklichkeit, die Form von dem
Körper zu unterscheiden, so ist er auch imstande, sie von ihm
abzusondern; denn das hat er schon getan, indem er sie unterscheidet.
Das Vermögen zur nachahmenden Kunst ist also mit dem Vermögen zur Form
überhaupt gegeben; der Drang zu derselben beruht auf einer andern
Anlage, von der ich hier nicht zu handeln brauche. Wie frühe oder wie
spät sich der ästhetische Kunsttrieb entwickeln soll, das wird bloß von
dem Grade der Liebe abhängen, mit der der Mensch fähig ist, sich bei dem
bloßen Schein zu verweilen.
Da alles wirkliche Dasein von der Natur, als einer fremden Macht,
aller Schein aber ursprünglich von dem Menschen, als vorstellendem
Subjekte, sich herschreibt, so bedient er sich bloß seines absoluten
Eigentumsrechts, wenn er den Schein von dem Wesen zurücknimmt und mit
demselben nach eignen Gesetzen schaltet. Mit ungebundener Freiheit kann
er, was die Natur trennte, zusammenfügen, sobald er es nur irgend
zusammendenken kann, und trennen, was die Natur verknüpfte, sobald er es
nur in seinem Verstande absondern kann. Nichts darf ihm hier heilig sein
als sein eigenes Gesetz, sobald er nur die Markung in acht nimmt, welche
sein Gebiet von dem Dasein der Dinge oder dem Naturgebiete scheidet.
Dieses menschliche Herrscherrecht übt er aus in der Kunst des
Scheins, und je strenger er hier das Mein und Dein voneinander sondert,
je sorgfältiger er die Gestalt von dem Wesen trennt, und je mehr
Selbständigkeit er derselben zu geben weiß, desto mehr wird er nicht
bloß das Reich der Schönheit erweitern, sondern selbst die Grenzen der
Wahrheit bewahren; denn er kann den Schein nicht von der Wirklichkeit
reinigen, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Schein frei zu machen.
Aber er besitzt dieses souveräne Recht schlechterdings auch nur in
der Welt des Scheins, in dem wesenlosen Reich der Einbildungskraft, und
nur, solange er sich im Theoretischen gewissenhaft enthält, Existenz
davon auszusagen, und solange er im Praktischen darauf Verzicht tut,
Existenz dadurch zu erteilen. Sie sehen hieraus, dass der Dichter auf
gleiche Weise aus seinen Grenzen tritt, wenn er seinem Ideal Existenz
beilegt, und wenn er eine bestimmte Existenz damit bezweckt. Denn beides
kann er nicht anders zustande bringen, als indem[658] er entweder sein
Dichterrecht überschreitet, durch das Ideal in das Gebiet der Erfahrung
greift und durch die bloße Möglichkeit wirkliches Dasein zu bestimmen
sich anmaßt, oder indem er sein Dichterrecht aufgibt, die Erfahrung in
das Gebiet des Ideals greifen lässt und die Möglichkeit auf die
Bedingungen der Wirklichkeit einschränkt.
Nur soweit er aufrichtig ist (sich von allem Anspruch auf Realität
ausdrücklich lossagt), und nur soweit er selbständig ist (allen Beistand
der Realität entbehrt), ist der Schein ästhetisch. Sobald er falsch ist
und Realität heuchelt, und sobald er unrein und der Realität zu seiner
Wirkung bedürftig ist, ist er nichts als ein niedriges Werkzeug zu
materiellen Zwecken und kann nichts für die Freiheit des Geistes
beweisen. Übrigens ist es gar nicht nötig, dass der Gegenstand, an dem
wir den schönen Schein finden, ohne Realität sei, wenn nur unser Urteil
darüber auf diese Realität keine Rücksicht nimmt; denn soweit es diese
Rücksicht nimmt, ist es kein ästhetisches. Eine lebende weibliche
Schönheit wird uns freilich ebenso gut und noch ein wenig besser als
eine ebenso schöne bloß gemalte gefallen; aber insoweit sie uns besser
gefällt als die letztere, gefällt sie nicht mehr als selbständiger
Schein, gefällt sie nicht mehr dem reinen ästhetischen Gefühl, diesem
darf auch das Lebendige nur als Erscheinung, auch das Wirkliche nur als
Idee gefallen; aber freilich erfodert es noch einen ungleich höheren
Grad der schönen Kultur, in dem Lebendigen selbst nur den reinen Schein
zu empfinden, als das Leben an dem Schein zu entbehren.
Bei welchem einzelnen Menschen oder ganzen Volk man den aufrichtigen
und selbständigen Schein findet, da darf man auf Geist und Geschmack und
jede damit verwandte Trefflichkeit schließen – da wird man das Ideal,
das wirkliche Leben regieren, die Ehre über den Besitz, den Gedanken
über den Genus, den Traum der Unsterblichkeit über die Existenz
triumphieren sehen. Da wird die öffentliche Stimme das einzig Furchtbare
sein, und ein Olivenkranz höher als ein Purpurkleid ehren. Zum falschen
und bedürftigen Schein nimmt nur die Ohnmacht und die Verkehrtheit ihre
Zuflucht, und einzelne Menschen sowohl als ganze Völker, welche entweder
»der Realität durch den Schein oder dem (ästhetischen) Schein durch
Realität nachhelfen« [659] – beides ist gerne verbunden – beweisen
zugleich ihren moralischen Unwert und ihr ästhetisches Unvermögen.
Auf die Frage »Inwieweit darf Schein in der moralischen Welt sein?«
ist also die Antwort so kurz als bündig diese: Insoweit es ästhetischer
Schein ist, d.h. Schein, der weder Realität vertreten will, noch von
derselben vertreten zu werden braucht. Der ästhetische Schein kann der
Wahrheit der Sitten niemals gefährlich werden, und wo man es anders
findet, da wird sich ohne Schwierigkeit zeigen lassen, dass der Schein
nicht ästhetisch war. Nur ein Fremdling im schönen Umgang z.B. wird
Versicherungen der Höflichkeit, die eine allgemeine Form ist, als
Merkmale persönlicher Zuneigung aufnehmen und, wenn er getäuscht wird,
über Verstellung klagen. Aber auch nur ein Stümper im schönen Umgang
wird, um höflich zu sein, die Falschheit zu Hülfe rufen und schmeicheln,
um gefällig zu sein. Dem ersten fehlt noch der Sinn für den
selbständigen Schein, daher kann er demselben nur durch die Wahrheit
Bedeutung geben; dem zweiten fehlt es an Realität, und er möchte sie
gern durch den Schein ersetzen.
Nichts ist gewöhnlicher, als von gewissen trivialen Kritikern des
Zeitalters die Klage zu vernehmen, dass alle Solidität aus der Welt
verschwunden sei und das Wesen über dem Schein vernachlässigt werde. Ob
gleich ich mich gar nicht berufen fühle, das Zeitalter gegen diesen
Vorwurf zu rechtfertigen, so geht doch schon aus der weiten Ausdehnung,
welche diese strengen Sittenrichter ihrer Anklage geben, sattsam hervor,
dass sie dem Zeitalter nicht bloß den falschen, sondern auch den
aufrichtigen Schein verargen; und sogar die Ausnahmen, welche sie noch
etwa zugunsten der Schönheit machen, gehen mehr auf den bedürftigen als
auf den selbständigen Schein. Sie greifen nicht bloß die betrügerische
Schminke an, welche die Wahrheit verbirgt, welche die Wirklichkeit zu
vertreten sich anmaßt; sie ereifern sich auch gegen den wohltätigen
Schein, der die Leerheit ausfüllt und die Armseligkeit zudeckt, auch
gegen den idealischen, der eine gemeine Wirklichkeit veredelt. Die
Falschheit der Sitten beleidigt mit Recht ihr strenges Wahrheitsgefühl;
nur schade, dass sie zu dieser Falschheit auch schon die Höflichkeit
rechnen. Es missfällt ihnen, dass äußerer Flitterglanz so oft das wahre
Verdienst verdunkelt; aber es verdrüßt[660] sie nicht weniger, dass man
auch Schein vom Verdienste fodert und dem innern Gehalte die gefällige
Form nicht erlässt. Sie vermissen das Herzliche, Kernhafte und Gediegene
der vorigen Zeiten, aber sie möchten auch das Eckigte und Derbe der
ersten Sitten, das Schwerfällige der alten Formen und den ehemaligen
gotischen Überfluss wieder eingeführt sehen. Sie beweisen durch Urteile
dieser Art dem Stoff an sich selbst eine Achtung, die der Menschheit
nicht würdig ist, welche vielmehr das Materielle nur insoferne schätzen
soll, als es Gestalt zu empfangen und das Reich der Ideen zu verbreiten
imstande ist. Auf solche Stimmen braucht also der Geschmack des
Jahrhunderts nicht sehr zu hören, wenn er nur sonst vor einer bessern
Instanz besteht. Nicht dass wir einen Wert auf den ästhetischen Schein
legen (wir tun dies noch lange nicht genug), sondern dass wir es noch
nicht bis zu dem reinen Schein gebracht haben, dass wir das Dasein noch
nicht genug von der Erscheinung geschieden und dadurch beider Grenzen
auf ewig gesichert haben, dies ist es, was uns ein rigoristischer
Richter der Schönheit zum Vorwurf machen kann. Diesen Vorwurf werden wir
solang verdienen, als wir das Schöne der lebendigen Natur nicht genießen
können, ohne es zu begehren, das Schöne der nachahmenden Kunst nicht
bewundern können, ohne nach einem Zwecke zu fragen – als wir der
Einbildungskraft noch keine eigene absolute Gesetzgebung zugestehn und
durch die Achtung, die wir ihren Werken erzeigen, sie auf ihre Würde
hinweisen.
[661] Fürchten Sie nichts für Realität und Wahrheit, wenn der hohe
Begriff, den ich in dem vorhergehenden Briefe von dem ästhetischen
Schein aufstellte, allgemein werden sollte. Er wird nicht allgemein
werden, solange der Mensch noch ungebildet genug ist, um einen
Missbrauch
davon machen zu können; und würde er allgemein, so könnte dies nur durch
eine Kultur bewirkt werden, die zugleich jeden Missbrauch unmöglich
machte. Dem selbständigen Schein nachzustreben, erfodert mehr
Abstraktionsvermögen, mehr Freiheit des Herzens, mehr Energie des
Willens, als der Mensch nötig hat, um sich auf die Realität
einzuschränken, und er muss diese schon hinter[661] sich haben, wenn er
bei jenem anlangen will. Wie übel würde er sich also raten, wenn er den
Weg zum Ideale einschlagen wollte, um sich den Weg zur Wirklichkeit zu
ersparen! Von dem Schein, so wie er hier genommen wird, mochten wir also
für die Wirklichkeit nicht viel zu besorgen haben; desto mehr dürfte
aber von der Wirklichkeit für den Schein zu befürchten sein. An das
Materielle gefesselt, lässt der Mensch diesen lange Zeit bloß seinen
Zwecken dienen, ehe er ihm in der Kunst des Ideals eine eigene
Persönlichkeit zugesteht. Zu dem letztern bedarf es einer totalen
Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise, ohne welche er auch nicht
einmal auf dem Wege zum Ideal sich befinden würde. Wo wir also Spuren
einer uninteressierten freien Schätzung des reinen Scheins entdecken, da
können wir auf eine solche Umwälzung seiner Natur und den eigentlichen
Anfang der Menschheit in ihm schließen. Spuren dieser Art finden sich
aber wirklich schon in den ersten rohen Versuchen, die er zur
Verschönerung seines Daseins macht, selbst auf die Gefahr macht, dass er
es dem sinnlichen Gehalt nach dadurch verschlechtern sollte. Sobald er
überhaupt nur anfängt, dem Stoff die Gestalt vorzuziehen und an den
Schein (den er aber dafür erkennen muss) Realität zu wagen, so ist sein
tierischer Kreis aufgetan, und er befindet sich auf einer Bahn, die
nicht endet.
Mit dem allein nicht zufrieden, was der Natur genügt und was das
Bedürfnis fodert, verlangt er Überfluss; anfangs zwar bloß einen
Überfluss
des Stoffes, um der Begier ihre Schranken zu verbergen, um den Genus
über das gegenwärtige Bedürfnis hinaus zu versichern; bald aber einen
Überfluss an dem Stoffe, eine ästhetische Zugabe, um auch dem Formtrieb
genugzutun, um den Genus über jedes Bedürfnis hinaus zu erweitern. Indem
er bloß für einen künftigen Gebrauch Vorräte sammelt und in der
Einbildung dieselben vorausgenießt, so überschreitet er zwar den
jetzigen Augenblick, aber ohne die Zeit überhaupt zu überschreiten; er
genießt mehr, aber er genießt nicht anders. Indem er aber zugleich die
Gestalt in seinen Genus zieht und auf die Formen der Gegenstände merkt,
die seine Begierden befriedigen, hat er seinen Genus nicht bloß dem
Umfang und dem Grad nach erhöht, sondern auch der Art nach veredelt.
Zwar hat die Natur auch schon dem Vernunftlosen über die
Notdurft[662] gegeben und in das dunkle tierische Leben einen Schimmer
von Freiheit gestreut. Wenn den Löwen kein Hunger nagt und kein Raubtier
zum Kampf herausfodert, so erschafft sich die müßige Stärke selbst einen
Gegenstand; mit mutvollem Gebrüll erfüllt er die hallende Wüste, und in
zwecklosem Aufwand genießt sich die üppige Kraft. Mit frohem Leben
schwärmt das Insekt in dem Sonnenstrahl; auch ist es sicherlich nicht
der Schrei der Begierde, den wir in dem melodischen Schlag des
Singvogels hören. Unleugbar ist in diesen Bewegungen Freiheit, aber
nicht Freiheit von dem Bedürfnis überhaupt, bloß von einem bestimmten,
von einem äußern Bedürfnis. Das Tier arbeitet, wenn ein Mangel die
Triebfeder seiner Tätigkeit ist, und es spielt, wenn der Reichtum der
Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur
Tätigkeit stachelt. Selbst in der unbeseelten Natur zeigt sich ein
solcher Luxus der Kräfte und eine Laxität der Bestimmung, die man in
jenem materiellen Sinn gar wohl Spiel nennen könnte. Der Baum treibt
unzählige Keime, die unentwickelt verderben, und streckt weit mehr
Wurzeln, Zweige und Blätter nach Nahrung aus, als zu Erhaltung seines
Individuums und seiner Gattung verwendet werden. Was er von seiner
verschwenderischen Fülle ungebraucht und ungenossen dem Elementarreich
zurückgibt, das darf das Lebendige in fröhlicher Bewegung verschwelgen.
So gibt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein Vorspiel des
Unbegrenzten und hebt hier schon zum Teil die Fesseln auf, deren sie
sich im Reich der Form ganz und gar entledigt. Von dem Zwang des
Bedürfnisses oder dem physischen Ernste nimmt sie durch den Zwang des
Überflusses oder das physische Spiel den Übergang zum ästhetischen
Spiele, und ehe sie sich in der hohen Freiheit des Schönen über die
Fessel jedes Zweckes erhebt, nähert sie sich dieser Unabhängigkeit
wenigstens von ferne schon in der freien Bewegung, die sich selbst Zweck
und Mittel ist.
Wie die körperlichen Werkzeuge, so hat in dem Menschen auch die
Einbildungskraft ihre freie Bewegung und ihr materielles Spiel, in
welchem sie, ohne alle Beziehung auf Gestalt, bloß ihrer Eigenmacht und
Fessellosigkeit sich freut. Insofern sich noch gar nichts von Form in
diese Phantasiespiele mischt und eine ungezwungene Folge von Bildern den
ganzen Reiz derselben ausmacht, gehören sie, obgleich[663] sie dem
Menschen allein zukommen können, bloß zu seinem animalischen Leben und
beweisen bloß seine Befreiung von jedem äußern sinnlichen Zwang, ohne
noch auf eine selbständige bildende Kraft in ihm schließen zu lassen13.
Von diesem Spiel der freien Ideenfolge, welches noch ganz materieller
Art ist und aus bloßen Naturgesetzen sich erklärt, macht endlich die
Einbildungskraft in dem Versuch einer freien Form den Sprung zum
ästhetischen Spiele. Einen Sprung muss man es nennen, weil sich eine ganz
neue Kraft hier in Handlung setzt; denn hier zum ersten Mal mischt sich
der gesetzgebende Geist in die Handlungen eines blinden Instinktes,
unterwirft das willkürliche Verfahren der Einbildungskraft seiner
unveränderlichen ewigen Einheit, legt seine Selbständigkeit in das
Wandelbare und seine Unendlichkeit in das Sinnliche. Aber solange die
rohe Natur noch zu mächtig ist, die kein anderes Gesetz kennt, als
rastlos von Veränderung zu Veränderung fortzueilen, wird sie durch ihre
unstete Willkür jener Notwendigkeit, durch ihre Unruhe jener Stetigkeit,
durch ihre Bedürftigkeit jener Selbständigkeit, durch ihre
Ungenügsamkeit jener erhabenen Einfalt entgegenstreben. Der ästhetische
Spieltrieb wird also in seinen ersten Versuchen noch kaum zu erkennen
sein, da der sinnliche mit seiner eigensinnigen Laune und seiner wilden
Begierde unaufhörlich dazwischentritt. Daher sehen wir den rohen
Geschmack das Neue und Überraschende, das Bunte, Abenteuerliche[664] und
Bizarre, das Heftige und Wilde zuerst ergreifen und vor nichts so sehr
als vor der Einfalt und Ruhe fliehen. Er bildet groteske Gestalten,
liebt rasche Übergänge, üppige Formen, grelle Kontraste, schreiende
Lichter, einen pathetischen Gesang. Schön heißt ihm in dieser Epoche
bloß, was ihn aufregt, was ihm Stoff gibt – aber aufregt zu einem
selbsttätigen Widerstand, aber Stoff gibt für ein mögliches Bilden, denn
sonst würde es selbst ihm nicht das Schöne sein. Mit der Form seiner
Urteile ist also eine merkwürdige Veränderung vorgegangen; er sucht
diese Gegenstände nicht, weil sie ihm etwas zu erleiden, sondern weil
sie ihm zu handeln geben; sie gefallen ihm nicht, weil sie einem
Bedürfnis begegnen, sondern weil sie einem Gesetze Genüge leisten,
welches, obgleich noch leise, in seinem Busen spricht.
Bald ist er nicht mehr damit zufrieden,
dass ihm die Dinge gefallen;
er will selbst gefallen, anfangs zwar nur durch das, was sein ist,
endlich durch das, was er ist. Was er besitzt, was er hervorbringt, darf
nicht mehr bloß die Spuren der Dienstbarkeit, die ängstliche Form seines
Zwecks an sich tragen; neben dem Dienst, zu dem es da ist, muss es
zugleich den geistreichen Verstand, der es dachte, die liebende Hand,
die es ausführte, den heitern und freien Geist, der es wählte und
aufstellte, widerscheinen. Jetzt sucht sich der alte Germanier
glänzendere Tierfelle, prächtigere Geweihe, zierlichere Trinkhörner aus,
und der Kaledonier wählt die nettesten Muscheln für seine Feste. Selbst
die Waffen dürfen jetzt nicht mehr bloß Gegenstände des Schreckens,
sondern auch des Wohlgefallens sein, und das kunstreiche Wehrgehänge
will nicht weniger bemerkt sein als des Schwertes tötende Schneide.
Nicht zufrieden, einen ästhetischen Überfluss in das Notwendige zu
bringen, reißt sich der freiere Spieltrieb endlich ganz von den Fesseln
der Notdurft los, und das Schöne wird für sich allein ein Objekt seines
Strebens. Er schmückt sich. Die freie Lust wird in die Zahl seiner
Bedürfnisse aufgenommen, und das Unnötige ist bald der beste Teil seiner
Freuden.
So wie sich ihm von außen her, in seiner Wohnung, seinem Hausgeräte,
seiner Bekleidung allmählich die Form nähert, so fängt sie endlich an,
von ihm selbst Besitz zu nehmen und anfangs bloß den äußern, zuletzt
auch den innern Menschen zu verwandeln. Der gesetzlose[665] Sprung der
Freude wird zum Tanz, die ungestalte Geste zu einer anmutigen,
harmonischen Gebärdensprache, die verworrenen Laute der Empfindung
entfalten sich, fangen an, dem Takt zu gehorchen und sich zum Gesange zu
biegen. Wenn das trojanische Heer mit gellendem Geschrei gleich einem
Zug von Kranichen ins Schlachtfeld heranstürmt, so nähert sich das
griechische demselben still und mit edlem Schritt. Dort sehen wir bloß
den Übermut blinder Kräfte, hier den Sieg der Form und die simple
Majestät des Gesetzes.
Eine schönere Notwendigkeit kettet jetzt die Geschlechter zusammen,
und der Herzen Anteil hilft das Bündnis bewahren, das die Begierde nur
launisch und wandelbar knüpft. Aus ihren düstern Fesseln entlassen,
ergreift das ruhigere Auge die Gestalt, die Seele schaut in die Seele,
und aus einem eigennützigen Tausche der Lust wird ein großmütiger
Wechsel der Neigung. Die Begierde erweitert und erhebt sich zur Liebe,
so wie die Menschheit in ihrem Gegenstand aufgeht, und der niedrige
Vorteil über den Sinn wird verschmäht, um über den Willen einen edelern
Sieg zu erkämpfen. Das Bedürfnis zu gefallen unterwirft den Mächtigen
des Geschmackes zartem Gericht; die Lust kann er rauben, aber die Liebe
muss eine Gabe sein. Um diesen höhern Preis kann er nur durch Form, nicht
durch Materie ringen. Er muss aufhören, das Gefühl als Kraft zu berühren,
und als Erscheinung dem Verstand gegenüberstehn; er muss Freiheit lassen,
weil er der Freiheit gefallen will. So wie die Schönheit den Streit der
Naturen in seinem einfachsten und reinsten Exempel, in dem ewigen
Gegensatz der Geschlechter löst, so löst sie ihn – oder zielt wenigstens
dahin, ihn auch in dem verwickelten Ganzen der Gesellschaft zu lösen und
nach dem Muster des freien Bundes, den sie dort zwischen der männlichen
Kraft und der weiblichen Milde knüpft, alles Sanfte und Heftige in der
moralischen Welt zu versöhnen. Jetzt wird die Schwäche heilig, und die
nicht gebändigte Stärke entehrt; das Unrecht der Natur wird durch die
Großmut ritterlicher Sitten verbessert. Den keine Gewalt erschrecken
darf, entwaffnet die holde Röte der Scham, und Tränen ersticken eine
Rache, die kein Blut löschen konnte. Selbst der Hass merkt auf der Ehre
zarte Stimme, das Schwert des Überwinders verschont den entwaffneten
Feind, und ein gastlicher [666] Herd raucht dem Fremdling an der
gefürchteten Küste, wo ihn sonst nur der Mord empfing.
Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen
Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem
dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem
Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was
Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.
Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als
Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem
ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes
entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des
schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen,
nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen. Freiheit zu geben
durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.
Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem
er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß
(moralisch) notwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem
allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich
machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums
vollzieht. Wenn schon das Bedürfnis den Menschen in die Gesellschaft
nötigt und die Vernunft gesellige Grundsätze in ihm pflanzt, so kann die
Schönheit allein ihm einen geselligen Charakter erteilen. Der Geschmack
allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem
Individuum stiftet. Alle andre Formen der Vorstellung trennen den
Menschen, weil sie sich ausschließend entweder auf den sinnlichen oder
auf den geistigen Teil seines Wesens gründen; nur die schöne Vorstellung
macht ein Ganzes aus ihm, weil seine beiden Naturen dazu zusammenstimmen
müssen. Alle andere Formen der Mitteilung trennen die Gesellschaft, weil
sie sich ausschließend entweder auf die Privatempfänglichkeit oder auf
die Privatfertigkeit der einzelnen Glieder, also auf das Unterscheidende
zwischen Menschen und Menschen beziehen; nur die schöne Mitteilung
vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller
bezieht. Die Freuden der Sinne genießen wir bloß als Individuen, ohne
dass die Gattung, die in uns wohnt, daran Anteil nähme; wir können
also[667] unsre sinnlichen Freuden nicht zu allgemeinen erweitern, weil
wir unser Individuum nicht allgemein machen können. Die Freuden der
Erkenntnis genießen wir bloß als Gattung und indem wir jede Spur des
Individuums sorgfältig aus unserm Urteil entfernen; wir können also
unsre Vernunftfreuden nicht allgemein machen, weil wir die Spuren des
Individuums aus dem Urteile anderer nicht so wie aus dem unsrigen
ausschließen können. Das Schöne allein genießen wir als Individuum und
als Gattung zugleich, d.h. als Repräsentanten der Gattung. Das sinnliche
Gute kann nur einen Glücklichen machen, da es sich auf Zueignung
gründet, welche immer eine Ausschließung mit sich führt; es kann diesen
einen auch nur einseitig glücklich machen, weil die Persönlichkeit nicht
daran teilnimmt. Das absolut Gute kann nur unter Bedingungen glücklich
machen, die allgemein nicht vorauszusetzen sind; denn die Wahrheit ist
nur der Preis der Verleugnung, und an den reinen Willen glaubt nur ein
reines Herz. Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen
vergisst seiner Schranken, solang es ihren Zauber erfährt.
Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, soweit der
Geschmack regiert und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet.
Dieses Reich erstreckt sich aufwärts, bis wo die Vernunft mit
unbedingter Notwendigkeit herrscht und alle Materie aufhört; es
erstreckt sich niederwärts, bis wo der Naturtrieb mit blinder Nötigung
waltet und die Form noch nicht anfängt; ja selbst auf diesen äußersten
Grenzen, wo die gesetzgebende Macht ihm genommen ist, lässt sich der
Geschmack doch die vollziehende nicht entreißen. Die ungesellige
Begierde muss ihrer Selbstsucht entsagen und das Angenehme, welches sonst
nur die Sinne lockt, das Netz der Anmut auch über die Geister auswerfen.
Der Notwendigkeit strenge Stimme, die Pflicht, muss ihre vorwerfende
Formel verändern, die nur der Widerstand rechtfertigt, und die willige
Natur durch ein edleres Zutrauen ehren. Aus den Mysterien der
Wissenschaft führt der Geschmack die Erkenntnis unter den offenen Himmel
des Gemeinsinns heraus und verwandelt das Eigentum der Schulen in ein
Gemeingut der ganzen menschlichen Gesellschaft. In seinem Gebiete muss
auch der mächtigste Genius sich seiner Hoheit begeben und zu dem
Kindersinn vertraulich herniedersteigen. Die Kraft muss sich binden
lassen durch die Huldgöttinnen,[668] und der trotzige Löwe dem Zaum
eines Amors gehorchen. Dafür breitet er über das physische Bedürfnis,
das in seiner nackten Gestalt die Würde freier Geister beleidigt, seinen
mildernden Schleier aus und verbirgt uns die entehrende Verwandtschaft
mit dem Stoff in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit. Beflügelt
durch ihn entschwingt sich auch die kriechende Lohnkunst dem Staube, und
die Fesseln der Leibeigenschaft fallen, von seinem Stabe berührt, von
dem Leblosen wie von dem Lebendigen ab. In dem ästhetischen Staate ist
alles – auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger, der mit dem
edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse
unter seine Zwecke gewalttätig beugt, muss sie hier um ihre Beistimmung
fragen. Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das
Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem
Wesen nach realisiert sehen möchte; und wenn es wahr ist, dass der schöne
Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten reift, so
müsste man auch hier die gütige Schickung erkennen, die den Menschen oft
nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine
idealische Welt zu treiben.
Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist
er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten
Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und
die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo
nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne
Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten
Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder
nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch
seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.
13 Die mehresten Spiele, welche im gemeinen Leben im
Gange sind, beruhen entweder ganz und gar auf diesem Gefühle der freien
Ideenfolge, oder entlehnen doch ihren größten Reiz von demselben. So
wenig es aber auch an sich selbst für eine höhere Natur beweist, und so
gerne sich gerade die schlaffesten Seelen diesem freien Bilderstrome zu
überlassen pflegen, so ist doch eben diese Unabhängigkeit der Phantasie
von äußern Eindrücken wenigstens die negative Bedingung ihres
schöpferischen Vermögens. Nur indem sie sich von der Wirklichkeit
losreißt, erhebt sich die bildende Kraft zum Ideale, und ehe die
Imagination in ihrer produktiven Qualität nach eignen Gesetzen handeln
kann, muss sie sich schon bei ihrem reproduktiven Verfahren von fremden
Gesetzen frei gemacht haben. Freilich ist von der bloßen Gesetzlosigkeit
zu einer selbständigen innern Gesetzgebung noch ein sehr großer Schritt
zu tun, und eine ganz neue Kraft, das Vermögen der Ideen, muss hier ins
Spiel gemischt werden – aber diese Kraft kann sich nunmehr auch mit
mehrerer Leichtigkeit entwickeln, da die Sinne ihr nicht entgegenwirken
und das Unbestimmte wenigstens negativ an das Unendliche grenzt.
(Quelle: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, München: Hanser
31962, S. 570 - 668; entstanden 1793–94, Erstdruck in: Die
Horen (Tübingen), 1. Jg., 1795, Heft 1, 2 und 6., übernommen aus
zeno.org:
http://www.zeno.org/nid/20005610141, gemeinfrei; die in Klammern
gesetzten Seitenangaben entsprechen der Druckausgabe von 1962; der Text
wurde von teachSam behutsam den Regeln der modernen Rechtschreibung
angepasst)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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